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2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: KniggeKnigge als „Säulenheiliger“?

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Ein Blick in die Kataloge deutschsprachiger Verlage und in die Regale von Buchhandlungen macht schnell klar, dass Höflichkeit, im alltagsprachlichen Sinne als Verhaltenskodex verstanden, wieder ein Thema von hoher gesellschaftlicher Bedeutung geworden ist. BücherproduzentInnen in Deutschland machen offenbar einen gestiegenen Beratungsbedarf in Bezug auf Höflichkeit und Benehmen aus.

Auch der Dudenverlag hat einen Deutsch-Knigge veröffentlicht, in dem man – laut Untertitel – erfährt, wie man sicher formuliert, sicher kommuniziert und sicher auftritt. Viele Titelformulierungen enthalten darüber hinaus Erfolgsversprechen für gesellschaftliche Problemsituationen.

Einige Beispiele aus den letzten Jahren sollen verdeutlichen, dass Bücher wie diese offensichtlich mit einer regen Nachfrage rechnen können und was sie eigentlich behandeln:

 Der Deutsch-Knigge (Duden 2008)

 Der neue große Knigge: Gutes Benehmen und richtige Umgangsformen (Schneider-Flaig 2008)

 Der China-Knigge: Eine Gebrauchsanweisung für das Reich der Mitte (Häring-Kuang/Kuan 2012)

 Knigge im Job. So machen Sie immer eine gute Figur (Wolff 2006)

 Business-Knigge – Die 100 wichtigsten Benimmregeln (Quittschau/Tabernig 2019)

 Der große GU-Knigge (Bonneau 2008)

 Über den Umgang mit E-Mails: Der Scholz & Friends E-Mail-Knigge (Scholz & Friends 2009)

 Knigge, Kleider und Karriere: Sicher auftreten mit Stil und EtiketteEtikette (Nagiller 2004)

 Ess- und Tisch-Knigge: Nie wieder peinlich! (Witt 2004)

 Business Knigge international: Der Schnellkurs (Oppel 2015)

 Das Benimm-ABC: Knigge für junge Leute von heute (Griesbeck 2010)

 Sex-Knigge für Frauen: Ein Mann verrät, wie Sie die perfekte Liebhaberin werden (van Amstel 2004)

 Knigge für Dummies (Gillmann 2015)

 Jugend-Knigge 2100: Knigge für junge Leute und Berufseinsteiger (Hanisch 2020)

Schon ein kurzer Blick auf die Titel zeigt, worum es hier geht: Das Verhalten in Gesellschaft anderer (z.B. beim Essen und in der Liebe), das Verhalten in beruflichen Situationen, den Sprachgebrauch in Briefen und anderen Texten, das Verhalten im Ausland. In diesen Bereichen kommen Menschen immer wieder in Situationen, in denen sie den Eindruck haben, dass sie nicht tun und lassen können, was sie wollen, sondern dass sie sich an vorgegebene VerhaltensstandardsVerhaltensstandard halten sollten, wenn sie die Situation erfolgreich meistern wollen. Wenn man etwas falsch macht, dann wird es peinlich, man gefährdet die eigene Reputation und den kommunikativen Erfolg im jeweiligen Kontext. Hier besteht also Orientierungsbedarf. Die Gesellschaft vermittelt über solche Bücher (oder analoge Angebote im Internet), was sie von ihren Mitgliedern erwartet und was Mitmenschen von jedem Individuum erwarten können. Höflichkeit wird in solcher Ratgeberliteratur mit der Beachtung der aufgestellten Regeln identifiziert und so auf ein Inventar rezeptologischer Handlungsanweisungen reduziert: z.B. „Straßenwörter“ zu vermeiden und die „Zauberwörter“ bitte und danke zu nutzen (nach Hanisch 2020).

Es entsteht der Eindruck, dass diese Art Ratgeberliteratur gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten (wieder) populär geworden ist. Vieles deutet darauf hin, dass ungefähr seit der Jahrtausendwende das „korrekte“, also regelkonforme Verhalten wieder geschätzt wird und dass man sich in vielen sozialen Gruppen unmöglich macht, wenn man nicht weiß, was der Knigge von einem erwarten würde. Man will wieder eine gute Figur machen und greift dafür auf altbewährte Vorgaben zurück.

Woher kommt die Autorität der Etikettebücher? Wer schreibt sie aufgrund welcher Qualifikation oder in wessen Namen? Wer definiert eigentlich die Regeln für den Umgang mit anderen Menschen? Hier liegt immer der Verdacht nahe, dass bestimmte soziale Gruppen, die die kulturelle Hegemonie in einer Gesellschaft für sich beanspruchen, anderen Gruppen ihre Verhaltensstandards mit mehr oder weniger subtilen Mitteln aufzwingen. Das kann hier nicht vertieft werden. Es scheint klar zu sein, dass AutorInnen der Etikette von heute die Etikette von gestern übernehmen und eventuell an neue Gegebenheiten anpassen. Ohne (wenigstens impliziten) Bezug auf Vorgängerwerke könnte ein Etikettebuch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben.

Als „Säulenheiliger“ der Etikette und letzte Instanz in Benimmfragen gilt in Deutschland Adolph Freiherr Knigge (1752 – 1796) – das zeigt sich schon in den Titeln der zitierten Werke. Sein Buch Über den Umgang mit Menschen (Knigge 1788/1977 oder Knigge 1788/2010) wird immer wieder als Urtext der Etikette, als erstes Benimmbuch gelesen. Ein Blick in das Werk erweist aber sehr schnell, dass der Urvater der Etikette etwas ganz anderes im Sinn hatte, dass er unter Höflichkeit etwas ganz anderes verstanden hat als sozial angepasstes, regelorientiertes Verhalten. Seit 2010 ist sein Gesamtwerk in einer vierbändigen Ausgabe zugänglich, und nach und nach werden auch zusätzliche Dokumente – etwa Briefwechsel – veröffentlicht. Und siehe da: Es handelte sich um einen prominenten Vertreter der deutschen Aufklärung, der zahlreiche Erzählungen, Reiseberichte, aber auch protosoziologische Texte verfasst hat und der in Deutschland als Anhänger der Französischen Revolution verfolgt wurde. Benimmbücher hat er aber sicher nicht geschrieben; auch Über den Umgang mit Menschen passt nicht in eine solche Tradition. Ein Rezensent der Zeit bringt es auf den Punkt:

Noch einmal und noch einmal und noch einmal ganz langsam zum Mitschreiben, auch für die Medienkollegen: Adolph Freiherr Knigge war kein Benimm-Onkel. Fischbesteck und Dresscodes haben ihn null interessiert. Sein Buch ‚Über den Umgang mit Menschen‘ von 1788 wurde im 19. Jahrhundert von irgendwelchen Stehkragen-Spießern zu einer Etikettefibel zugrunde gefälscht. Nicht um Umgangsformen ging es Knigge, sondern um Lebensformen und Weltklugheit. (Erenz 2016)

Knigges Buch kann als Vorläufer soziologischer, sozialpsychologischer, philosophischer oder ethnologischer Überlegungen angesehen werden, sicher aber nicht als Ratgeber für formvollendetes, höfisches Verhalten. Das Werk ist in drei Teile aufgeteilt. Der erste trägt die Überschrift Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen, der zweite behandelt den Umgang mit besonderen Gruppen von Menschen (Eltern, Kinder und Blutsverwandte, Eheleute, Verliebte, Hauswirte, Nachbarn, Wirt und Gast usw.), der dritte Teil schließlich widmet sich dem Umgang mit Menschen von verschiedenen Ständen und Verhältnissen. Modern ausgedrückt ist der Umgang mit DiversitätDiversität ein zentrales Thema, also die Frage, wie man in einer Gesellschaft friedlich zusammenleben kann, in der Kontakte mit sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen immer wichtiger werden.

Der Autor selbst bringt die Ziele des Buches in der Einleitung zur dritten Auflage auf den Punkt, indem er die Überschrift paraphrasiert: „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können“ (Knigge 1788/1977, o. Pag.). Der vermeintliche Ahnherr der Etikettebücher macht deutlich, dass es im Umgang mit Mitmenschen gerade nicht auf eine Sammlung allgemeiner Verhaltensanweisungen ankommt und dass die Regeln des Umgangs miteinander eine große Bedeutung für die Organisation des sozialen Lebens haben. Wenn man beschreiben und analysieren will, was eine Gesellschaft zusammenhält und wie sich ihre Mitglieder in ihrem Verhalten organisieren bzw. woran sie sich orientieren, dann sollte man demnach auch den Begriff der Höflichkeit jenseits der puren Konventionalität vertiefen und genauer ergründen, was Menschen voneinander erwarten können bzw. welche Pflichten und Rechte sie im Umgang mit anderen haben.


Abb. II.1: Knigge, Ausgabe im Insel Verlag (2008) © Suhrkamp Verlag

Eine moderne Version der Ideen Knigges schlägt die Deutsche Knigge-Gesellschaft vor. Schon durch die Namensgebung erhebt der Verein den Anspruch, in einer Linie mit den Ideen des Freiherrn zu stehen und die authentische Interpretation seiner Gedanken wiederzugeben. In diesem Sinne werden z.B. Beratungen für Unternehmen und Institutionen angeboten oder Trainings für verschiedene Gruppen von Interessierten (u.a. über die „Knigge-Akademie“). Auf der Homepage der Gesellschaft wird an die Ideen von Knigge angeknüpft. Unter der Überschrift „Etikette alleine reicht nicht“ heißt es etwa: „Man darf allerdings auch hier nicht übertreiben. Gutes Benehmen ist nicht alles. Zum Stil gehört auch geistige Größe und Bildung (übrigens auch die des Herzens). ‚Nur geistige Kultivierung verfeinert‘, meint dazu Thomas Mann“ (Knigge-Gesellschaft). Es geht nicht um gutes Benehmen, sondern vor allem um StilStil. Auch das ist eine Ebene, auf der Ausführungen über Höflichkeit angesiedelt werden können.

Das Credo der modernen Knigge-Version wird auf der Homepage in sieben Punkten zusammengefasst:

 Zurück zu den Wurzeln von Knigge: Aufklärung & Humanismus.

 Locker bleiben!

 Auch wenn ein Esel einen goldenen Sattel trägt, bleibt er dennoch ein Esel.

 Trainiert nicht Euer Lächeln, trainiert Eure Herzen!

 Nur geistige Kultivierung verfeinert. Purer Formalismus ist dumm.

 Ehrlichkeit, Disziplin, soziale Einstellung, ethisch einwandfreies Verhalten statt formalem Perfektionismus, Ellbogen, und Raffer-Mentalität, die über Leichen geht.

 Schluss mit den Auswüchsen steifer Etikette-Vorschriften! Wer will, soll ruhig „Guten Appetit“ und „Gesundheit“ sagen und diese albernen Übertreibungen zurückfahren (das setzt sich sowieso nicht durch). Natürlichkeit und Authentizität haben Priorität.(Knigge-Gesellschaft)

Halten wir hier erst einmal fest: Höflichkeit ist nicht so leicht zu fassen, sie ist vielschichtig und umstritten. Man kann sie als Etikette, als Verhaltensnorm verstehen. Dann spricht man von festen Vorschriften, die in manchen sozialen Kontexten befolgt werden und deren Nicht-Befolgung sozial sanktioniert werden kann. Man sagt damit aber wenig darüber aus, was für das menschliche Zusammenleben wirklich wichtig ist – man wird ja kaum annehmen wollen, dass unser Verhalten in erwähnenswertem Maß von Etiketteregeln konditioniert wird. Man kann Höflichkeit aber auch als Verhaltensdisposition, als Einstellung beschreiben, die der Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kooperieren, zugrunde liegt. Und hier wird es auch wissenschaftlich interessant; Höflichkeit ist dann ein Begriff, der deskriptiv verwendet werden kann, also nicht mehr, um zu sagen, was man in bestimmten Situationen tun sollte, sondern um zu beschreiben, was Menschen in bestimmten kommunikativen Kontexten tun und warum sie es tun bzw. welche sozialen Funktionen und Effekte dieses Verhalten hat. Darum sollte es bei einer linguistischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen gehen.

Sprachliche Höflichkeit

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