Читать книгу Sprachliche Höflichkeit - Claus Ehrhardt - Страница 16
Оглавление3.1 Rückblicke auf Höflichkeit in der europäischen Kulturgeschichte
3.1.1 Höflichkeit und gesellschaftlicher Wandel in der Vormoderne
Vom ausgehenden Mittelalter und der Vormoderne1 bis zur heutigen Zeit folgen die kulturellen Vorstellungen von Höflichkeit den sozialen Gesellschaftsformationen und ihrem Wandel (vgl. dazu auch Elias 1939/1976). Schon im Mittelalter diente ein komplexes System von Verhaltensnormen oder -richtlinien einerseits der SelbstdarstellungSelbstdarstellung und andererseits der AbgrenzungAbgrenzung gegenüber der Außenwelt sowie der öffentlichen InszenierungInszenierung sozialer Zughörigkeit (vgl. Watts 2003). Dies steigerte sich in der Barockzeit durch die Ausbildung von EtikettenEtikette und Zeremoniellen als gesellschaftliche StandesritualeStandesrituale. Neben der Betonung des gefälligen Wohlverhaltens spielt auch der taktische Aspekt der „KlugheitKlugheit“ im Sinne des EigennutzensEigennutzen für den Aufstieg in der höfischen Gesellschaft eine Rolle. Erst im 17. Jahrhundert, der eigentlichen Epoche der gepflegten KonversationKonversation,2 erfährt dieses Konzept eine Bedeutungsverengung: War Konversation früher auf den gesellschaftlichen Umgang allgemein bezogen – bei Hofe, später in den Salons –, so wird sie nun auf den geselligen Umganggeselliger Umgang im vertrauten, zwanglosen Gespräch eingegrenzt. Als besonderes Ideal galt dieser höfischen Epoche die ZwanglosigkeitZwanglosigkeit, die sich gleichwohl gerade erst im Rahmen strenger Sprachreglementierungen konstituieren sollte. Diese Reglementierungen bezogen sich auf Form, Inhalt sowie Modalität des sprachlichen Umgangsprachlicher Umgangs. So führte bereits GraciánGracián aus:
Die Kunst der Unterhaltung besitzen […], ist es, in der ein ganzer Mann sich produziert. Keine Beschäftigung im Leben erfordert größere Aufmerksamkeit: Denn gerade weil sie die Gewöhnlichste ist, wird man durch sie sich heben oder stürzen. (zit. nach SchmöldersSchmölders 1986, 157)
Wesentliche Entwicklungen in der europäischen Reflexion über Umgangsformen und Höflichkeit wurden in der Renaissance durch drei Texte angestoßen:
Baldassare CastiglioneCastiglione: Il Libro del Cortegiano (1528/1987) in Italien, Deutsch: Der Hofmann (1528/1999) oder auch Das Buch vom Hofmann (1528/1986), (vgl. dazu auch Lindorfer 2009),
Baltasar Gracián: Orácolo manual y arte de prudencia, (1647) in Spanien, Deutsch: Handorakel und Kunst der Weltklugheit (2020),
Madame de Scudéryde Scudéry: Konversation über die Konversation (1686/1986), das erstmals 1680 in Frankreich publiziert wurde.
Diese Bücher haben dann eine Wirkung entfaltet, die weit über ihren kulturellen Ursprungskontext hinausreichte.
3.1.2 Höfische Höflichkeit
Im Barock wird der Hof zur Bühne für das Theater der Höflichkeit (und der Höfling zum Schauspieler im gesellschaftlich inszenierten Drama). Aufwendige adlige Höflichkeitsrituale zeigen sich zumal im ausgeprägten, der BeziehungsarbeitBeziehungspflege dienenden KomplimentierwesenKomplimentierwesen (vgl. BeetzBeetz 1990), aber auch in einer hochdifferenzierten KörperkulturKörperkultur (vgl. LinkeLinke 1996b). Die höfisch-politische Verhaltensstilisierung gipfelte in der ars conversationis als Teil kunstvoller Beziehungsgestaltung (vgl. GöttertGöttert 1988).
Beetz stellt die damaligen DecorumsvorschriftenDecorumsvorschrift für mündliche wie für schriftliche Texte des galanten HöflichkeitsdiskursesHöflichkeitsdiskurs in seiner Studie anhand zeitgenössischer Dokumente anschaulich dar (1990). Sie reichen von Vorgaben zur Schriftgröße und Absatzgestaltung bis zu
Sozialsemantik (u.a. elaborierte EhrerbietungEhrerbietung und Selbstbescheidenheit),
CourtoisiewörternCourtoisiewort in rangentsprechend abgestufter Verwendung (z.B. von gnädig bis allergnädigst, von essen bis Tafel halten),
Sozialsyntax (ich-Tilgung, Distanzgraduierung, Indirektheit, Konjunktiv und Konditionalis),
rangentsprechender StilwahlStilwahl mit Aufwertung der AdressatInnen und SelbstdegradierungSelbstdegradierung sowie Bagatellisierung eigener Leistungen, ReferentenverschiebungReferentenverschiebung bei als kritisch empfundenen Äußerungen.
Einige dieser Merkmale weisen die folgenden Beispiele für KomplimenteKompliment auf:
Als Dank an eine Dame nach dem Tanz:
(1) | Mademoiselle, Ich bin zum höchsten verbunden vor der Ehre, so sie mir dadurch erwiesen, daß sie mit meiner Wenigkeit tantzen wollen, doch bitte gehorsamst mit einem schlechten Tantz═Compagnon gütigst vor lieb zu nehmen, und die vorgegangenen Fehler zu übersehen (Beetz 1990, 215). |
Ein „Bitt-Compliment an ein Frauen=Zimmer/sie nach Hause zu begleiten“:
(2) | So ich wüßte/daß Mademoisellen nicht beschwerlich wäre/wann ich mich zu dero Begleiter angäbe/würden sie mich höchlich obligieren, wann ich die Ehre haben könnte/sie nach Hause zu führen (Beetz 1990, 228). |
3.1.3 Salonkonversationelle Höflichkeit
Die höfische Etikette der Konversation und ihre zeremonielle Erstarrung im 17. Jahrhundert wurde abgelöst durch die salonkonversationelle Höflichkeitsalonkonversationelle Höflichkeit der Gemeinschaft der Gebildeten. Das Ideal der „galanten“ Konversation mit Geist und Anmut wurde dabei vom paradox anmutenden „Zwang zur Zwanglosigkeit“ dominiert. In ihrer Abhandlung Konversation über die Konversation führt Madame de Scudéry aus:
Die Konversation ist das gesellschaftliche Band aller Menschen, das größte Vergnügen der Leute von Anstand und das geläufigste Mittel, nicht nur die Höflichkeit in die Welt einzuführen, sondern auch die reinste Moral, die Liebe zum Ruhm und zur Tugend. (de Scudéry zit. nach Schmölders 1986, 166)
Mit der Aufforderung, zwanglos zu erscheinen, wird zugleich die Beachtung einer Fülle von Regeln mit höchsten stilistischen und intellektuellen Anforderungen verbunden, die die vermeintliche Spontaneität der Konversation geradezu unmöglich macht. Als Hauptregel gilt: „Sage niemals etwas, das gegen den TaktTakt verstößt“:
Um also vernünftig zu reden, kann man ganz offen sagen, daß sich in der Konversation alles sagen läßt, gesetzt, man hat Geist und Takt und bedenkt gut, wo man ist, mit wem man redet und wer man selber ist. Und obwohl der Takt absolut unentbehrlich ist, um niemals etwas Deplaziertes zu sagen, muss die Konversation dennoch so frei aussehen, als ob sie auch nicht den geringsten Gedanken zurückweise, als ob man alles sage, was einem die Phantasie eingibt […]. (de Scudéry zit. nach Schmölders 1986, 175)
Schmölders schreibt der galanten Konversation ein affektives, erotisch-kokettierendes Moment zu, das konversationelle Thema wird relativiert und der wahre Gesellschafter gegen den Typus des gelehrten Pedanten gesetzt (1979, 31f.). Die folgende Entwicklung der bürgerlichen Konversation wird wieder andere Akzente im Hinblick auf Anstand und Moral setzen.