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3.3 Antibürgerliche Höflichkeitskritik im 20. Jahrhundert

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Mit dem Abbau der Standessschranken und ständischen Bildungsprivilegien im 19. Jahrhundert (vgl. v. PolenzPolenz 1999, 70) verblasst auch die soziale Verbindlichkeit von Höflichkeitsnormen zugunsten größerer individueller Handlungsfreiheit (vgl. Beetz 1990, 7). Elias deutet den Abbau von Verhaltensstandards und Erhöhung des gesellschaftlichen Drucks zur Selbstregulierung als InformalisierungsInformalisierung- und Individualisierungsschub (1989/2005, 60ff.).

Die Verschiebung im Spektrum höflicher Ausdrucksweisen lässt sich am besten am veränderten Gebrauch der Anredepronomina im Deutschen veranschaulichen: die Anredeformen Du und Sie indizieren nicht länger Standesunterschiede; vielmehr markieren sie situative Unterschiede von Vertrautheit und sozialer Nähe bzw. Distanz (vgl. BeschBesch 1998, 86).

Radikale Kritik erfuhren Höflichkeitserziehung und formales Höflichkeitsverhalten durch die antiautoritärenantiautoritär Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. Höflichkeitsnormen galten als aufoktroyierte Autorität; ein „Ende der Höflichkeit“ wurde propagiert (Kerbs/MüllerKerbs/Müller 1970); bildungsbürgerliche Konventionen sollten in ihrer herrschaftsstabilisierenden und –verschleiernden Funktion entlarvt werden. Das Anredepronomen Sie wurde als den Vorstellungen egalitärer Beziehungen unangemessen empfunden; Titel wurden auch im akademischen Bereich weggelassen; ein allgemeines DuzenDuzen wurde – versuchsweise – auch gegenüber Gruppen außerhalb der Studentenschaft erprobt.

SoziologInnen diagnostizieren: Alle sagen Du, als sei das damit Gemeinte schon gegeben (vgl. z.B. Jaeggi 1978 mit interessanten Analysen zur Studentenszene im Bochum der 1960er Jahre). Zwar hat sich diese Praktik nicht durchgesetzt, wohl aber das vergleichsweise konsequente Weglassen von TitelnTitel im bundesdeutschen Sprachraum, und zwar bis heute.

Aus den antiautoritären politischen Protestbewegungen des Jahres 1968 folgt auch eine sprachliche Umbruchsituation. StötzelStötzel/WengelerWengeler stellten 1995 die These von 1968 als sprachgeschichtliche Zäsur zur Diskussion; einige Jahre später wurde diese in einem Sammelband von KämperKämper, ScharlothScharloth und WengelerWengeler (2012) fortgeführt und vertieft.

Der veränderte Sprachgebrauch nahm seinen Ursprung bei linken Studierendengruppen und setzte sich fort in der Außerparlamentarischen OppositionAußerparlamentarische Opposition verschiedener sozialer Gruppierungen bis hin zu parteipolitischen Programmen. Das allgemeine Du lebt bis heute in kulturellen „GesinnungsgenossenschaftenGesinnungsgenossenschaft“ fort, sei es in der Sozialdemokratie, in ökologischen Gruppierungen oder Freizeitgesellschaften, z.B. bei Mitgliedern eines Sportstudios. Allerdings zeigen aktuelle Umfragen auch die bleibende Wertschätzung des Sie, besonders in beruflichen Kontexten (vgl. z.B. appinio 2019: „Siezen gehört immer noch zum guten Ton“).

Der HöflichkeitswandelHöflichkeitswandel im deutschsprachigen Raum kann mit AnkenbrandAnkenbrand als Wandel von einer Distanz- in eine NähehöflichkeitNähehöflichkeit beschrieben werden, als allmählicher Übergang von der traditionellen, etikettehaften DistanzhöflichkeitDistanzhöflichkeit zu einer Höflichkeit der Nähe und Vertrautheit bzw. von ihrer Simulation (Ankenbrand 2013, 90). In ihrer empirischen Studie zum Wandel von GeschäftskorrespondenzGeschäftskorrespondenz kommt die Autorin zur Unterscheidung einer aktuellen Variante von Höflichkeit, für die sie die Bezeichnung „professionelle Freundlichkeit“ als angemessener als „Nähehöflichkeit“ hält. Sprachliche Umgangsformen aus dem Kommunikationsbereich von Nähe und Vertrautheit werden in den Kommunikationsbereich der Distanz transferiert, um beim Empfänger das Gefühl individueller Wertschätzung auszulösen und kommerzielle Vorteile zu erlangen – ein taktischer Gebrauch von CamaraderieCamaraderie.

Diese Entwicklung zeigt sich heute in einer zunehmenden Tendenz der InformalitätInformalität.

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