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3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart

Die im Folgenden behandelten Tendenzen der Informalisierung und der generationellen Einflüsse hängen eng zusammen, da gerade die jüngeren Generationen stets als eine Quelle kulturellen und sprachlichen Wandels in Form von Informalisierungen wirkten.

3.4.1 Tendenzen der Informalisierung

Indizien für eine Informalisierung finden sich heute in vielen Lebensbereichen. Insbesondere kann hier auf eine Auflösung der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zugunsten der Ausdehnung eines ehedem Privaten verwiesen werden, die mit einer Ent-DistanzierungEnt-Distanzierung persönlicher Beziehungen verbunden ist.

Diese lässt sich vor allem am Wandel von Gruß- und Anredeformen einschließlich der GestikGestik und KörperspracheKörpersprache veranschaulichen. Knicks und DienerDiener sind auch für Kinder schon lange unüblich geworden; Hüte, die man lüften könnte, sind aus der Mode gekommen, von der VerbeugungVerbeugung ist in der BRD allenfalls ein leichtes Kopfneigen übriggeblieben. Wie neuere Studien belegen, nimmt die im Deutschen übliche tageszeitliche Differenzierung (Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend etc.) zugunsten von Kurzformen (Morgen, Tag etc.), vor allem aber zugunsten von Hallo als Passe-partout-Formel ab. Auch die nonverbalen Bestandteile des Grüßens haben sich verändert: Der WangenkussWangenkuss hat stark zugenommen, das HändeschüttelnHändeschütteln dagegen eher abgenommen (vgl. NeulandNeuland 2015).

Ein offensichtlicher Prozess des Wandels von Begrüßungskonventionen lässt sich in den Zeiten des Coronoavirus gut beobachten: Wenn man davon ausgehen muss, dass eine Person, mit der man in eine Interaktion eintreten möchte, ein gewisses Interesse daran hat, Abstand zu halten und Berührungen zu vermeiden, dann kann und muss man neue Ausdrucksformen finden, um zu kommunizieren, dass man ein friedliches Gespräch beginnen möchte und die Gesprächspartner respektiert. Die Menschen werden hier sehr kreativ; diskutiert und/oder praktiziert werden etwa verschiedene Formen von aus asiatischen Kulturen inspirierten Verbeugungen, das „Ebola-GreetingEbola-Greeting“, bei dem man die Hüften seitlich zusammenstößt, der „Wuhan-ShakeWuhan-Shake“, bei dem sich die Füße berühren, der „Fist BumpFist Bump“, bei dem man die Fäuste gegeneinander stößt, und vor allem die Berührung mit den Ellenbogen. Diese scheint sich durchzusetzen und in kürzester Zeit zum von den Umgangsformen gebotenen sowie von der Etikette akzeptierten, wenn nicht sogar vorgeschriebenen Ersatz für das zuvor in formelleren Situationen obligatorische Händeschütteln zu werden.


Abb. III.5: So ändert das Coronavirus unsere Etikette: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher beim Ellenbogen-Gruß (t-online v.1.9.2020) (c) picture alliance/dpa / Bernd von Jutrczenka)

Dies und anderes mag als Verlust konventioneller Umgangsformen gedeutet werden; die veränderten Ausdrucksweisen können aber auch Folgen einer Internationalisierung und Globalisierung und einer Angleichung an anglo-amerikanische Umgangsformen darstellen. In seinem Text „Von der Informalität zum doing buddydoing buddy“ deutet Scharloth (2012, 41ff.) die Veränderung dieses Kommunikationsstils und veranschaulicht diesen Wandel mit linguistischen Analysen von Texten der 1968er-Bewegung im öffentlichen Raum einer Fernsehdiskussion im Kontrast zu Auflagen des Benimmbuchs des Fachausschusses für Umgangsformen in den 1970er und 1980er Jahren. Dabei belegt er eine Zunahme von Informalitätsindikatoren (z.B. Kontraktionen (auf’m), Reduktionen (nix), Elisionen (ner, en), von substandardsprachlicher, z. T. jugendsprachlicher Lexik (scheiße, verflucht, volle Pulle) und von emotionalen Ausdrücken und Befindlichkeitsäußerungen (Empfindungen von Ärger, Empörung, Ekel…) bei Diskussionsteilnehmern aus dem linksalternativen Milieu im Unterschied zu Mitdiskutanten aus dem konservativen Lager (vgl. auch Scharloth 2011 und 2015).

Zugleich wandeln sich auch die Verhaltensvorschriften für BegrüßungenBegrüßung und VerabschiedungenVerabschiedung, Anrede- und AbschlussformelnAbschlussformeln sowie TitelgebrauchTitel im Hinblick auf eine Vergrößerung des Repertoires zum Ausdruck von Vertrautheit und eine Ausweitung ihrer Gebrauchsdomänen. So wird die briefliche Anredeform Sehr verehrte, gnädige Frau [Familienname] seit der Auflage von 1988 des Benimmbuchs vom Fachausschuss für Umgangsformen nicht mehr empfohlen; stattdessen Sehr verehrte, liebe Frau [Familienname], wobei sich nur der letzte Bestandteil dieser Form bis heute erhalten hat. Ähnliches gilt für die noch in der Auflage von 1970/75 empfohlene Abschiedsformulierung Hochachtungsvoll, die seit 1988 der informelleren Formulierung Mit herzlichen/freundlichen Grüßen gewichen ist. Schließlich musste das Benimmbuch nach 1996 sein Erscheinen ganz einstellen. Scharloth schlussfolgert: „Die Dynamik der Verhaltensstandards von 1964 bis 1996 kann demnach insgesamt beschrieben werden als ein Abbau formeller und distanzierter Praktiken zugunsten eines Ausbaus von Praktiken der Vertrautheit und ihres Gebrauchs in traditionell von formalen Praktiken geprägten Domänen“ (Scharloth 2012, 50). Für diesen Kommunikationsstil als neuen Verhaltensstandard prägt der Autor die Bezeichnung doing buddy mit Vertrautheit als dominantem Beziehungsmodus, verbunden mit einer Nivellierung geschlechts-, alters- und statusspezifischer Unterschiede.1

Allerdings dauerte es, so Scharloth (2015, 217), bis in die 1980er Jahre, bis der Kommunikationsstil des AlternativmilieusAlternativmilieu seinen Einfluss auf den Sprachgebrauch der Mehrheitsgesellschaft entfaltete. Dazu trug der Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 zweifellos bei, ebenso die Übernahme von Elementen des alternativen Sprachstils in Presseorganen wie der TAZ (vgl. Schwitalla/Betz 2006 zu den verstärkten AusgleichsprozessenAusgleichsprozess von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in öffentlichen Textsorten).

Ein weiterer Bereich, in dem sich die genannten Tendenzen zeigen, sind AnzeigentexteAnzeigentexte. Wie Linke (2000) sowie SteinStein (2015) nachweisen, haben sich die Textsortenstile selbst im Rahmen einer Distanzkommunikation in den letzten Jahrzehnten deutlich zugunsten informellerer und persönlicherer Formulierungen, einschließlich der Kundgabe von Emotionen, verändert. Während noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Familienvater – oft unter Angabe seines Berufsstandes – die Geburt eines Kindes anzeigte, wird dies im 20. Jahrhundert zunehmend gemeinsam von den gleichberechtigten Eltern und zuletzt durch das Neugeborene selbst bekannt gegeben:

Die am 26sten d.M. erfolgte glückliche Entbindung meiner Frau von einem gesunden Sohne, habe ich die Ehre, hierdurch meinen Freunden anzuzeigen. Stettin den 28sten Januar 1800.

Friedrich Koch, Direktor des Lyceums. (nach Linke 2009, 47)

Heute sehen Geburtsanzeigen natürlich ganz anders aus. Man findet beispielsweise Texte, in denen neugeborene Kinder sich mit Worten wie „Hallo, hier bin ich“ selbst in die Welt einführen, in denen umgangssprachliche Ausdrücke oder lustige Bilder verwendet werden und ähnliche Ausprägungen. Aus Gründen des Datenschutzes können wir das hier nicht dokumentieren, aber ein Blick in eine beliebige Tageszeitung reicht, um eine ganze Reihe von Unterschieden zu Texten wie dem hier zitierten zu realisieren.

Als letztes Beispiel sei hier auf den Internetgebrauch verwiesen, bei dem eine Verschiebung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit zu erkennen ist. Elektronische PostElektronische Post wird heute bewusst informell, konzeptionell mündlich formuliert. Die Anrede Guten Morgen! und der Abschiedsgruß Liebe Grüße ist in heutigen studentischen Mails an ihre ProfessorInnen üblich geworden, auch wenn diese Personen gerade nicht miteinander vertraut sind.

3.4.2 Generationelle Einflüsse

Jugendliche galten zu allen Zeiten als „Noch-Nicht-Erwachsene“, als noch nicht angepasste Objekte von Sozialisation und Erziehung. Erst mit der Entdeckung von Kindheit und Jugend als eigenständige Entwicklungsphasen wurde der Blick auf das abweichende, auch deviante Verhalten von Kindern und Jugendlichen gewechselt und die neuen und innovativen Entwicklungen in Verhalten und Habitus in den Blick genommen. Dieser Perspektivwechsel auf Jugendliche als „Neuerer“ und als „Akteure im kulturellen Prozess“ (vgl. ZinneckerZinnecker 1981, NeulandNeuland 2011) hat in den letzten Jahrzehnten zu einer bedeutsamen Aufwertung der Jugend und einem besonderen Sozialprestige des Phänomens JugendlichkeitJugendlichkeit geführt.

Dies betrifft auch den Sprachgebrauch von Jugendlichen, der von einem Objekt bloßer Sprachkritik zu einem Objekt öffentlichen Interesses wurde, wie der hohe Absatz von Jugend- und Szenewörterbüchern zeigte (vgl. NeulandNeuland 2018a). Der unkonventionelle, lockere Charakter jugendlicher Ausdrucksweisen fand mit dem Schwinden der GenerationsdifferenzenGenerationsdifferenz vermehrt Eingang in den Sprachgebrauch von Erwachsenen und trug damit zum ständigen Wandel von Jugendsprache bei.

Wie aktuelle Studien vom Umgang Jugendlicher mit sprachlicher Höflichkeit zeigen, bevorzugen Jugendliche informellere Formen des sprachlichen Umgangs und jugendtypische Ausdrucksformen von Höflichkeit jenseits von Konventionen und Etikette, was später noch genauer ausgeführt wird (vgl. Kapitel 8, Ausblick). Es steht zu erwarten, dass solche generationellen Einflüsse die angesprochenen Informalisierungstendenzen im öffentlichen Sprachgebrauch verstärken werden, wie es sich im Wandel von Gruß- und Abschiedsformaten schon ankündigt.

Sprachliche Höflichkeit

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