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1 Einleitung
ОглавлениеSeit den 1990er Jahren ist sprachliche Höflichkeit im deutschsprachigen Bereich ein wichtiges Thema der sprachwissenschaftlichen Pragmatik, der Soziolinguistik, der Gesprächslinguistik und anderer wissenschaftlicher Disziplinen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Sprachgebrauch sowie mit der Interdependenz von individuellen, kommunikativen Wahlhandlungen auf der einen und sozialen Gegebenheiten auf der anderen Seite auseinandersetzen. Die linguistische Forschung zu diesem Themenkomplex hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen und sich kontinuierlich weiterentwickelt, sodass es heute fast schon unmöglich ist, sich einen Überblick zu verschaffen (vgl. Neuland 2018b). Einführungen in die Theorie der sprachlichen Höflichkeit beginnen inzwischen regelmäßig mit der Bemerkung, dass es sich um ein unüberschaubares Feld handelt.
Die Erforschung von sprachlicher Höflichkeit kann und muss – neben der linguistischen Tradition – auch noch an die reiche und wechselvolle Kulturgeschichte der Höflichkeit und der Höflichkeitskonzepte anknüpfen, in der sich höfische, bürgerliche und antiautoritäre Annäherungsweisen und verschiedene Kombinationen zwischen diesen abwechseln.
Natürlich handelt es sich auch um ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz, das immer wieder zum Thema öffentlicher Debatten wird – über den Sinn und Unsinn von Höflichkeitsvorschriften, ein angemessenes Verhältnis zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Konventionen oder die Rolle der Erziehung, um nur einige Gegenstandsfelder zu nennen.
All dies und noch viele andere Aspekte müssen in der wissenschaftlichen Diskussion berücksichtigt werden. Häufig wird aus guten Gründen aber nicht das Gesamtbild thematisiert, sondern einzelne Aspekte vertieft, wie Komplimente, Beleidigungen, Anredeformen u.ä.
Wesentliche Impulse sind durch die frühen Beiträge der US-amerikanischen bzw. britischen Klassiker Brown/Levinson (1987), Lakoff (1973) und Leech (1983) ausgelöst worden. Die frühen sprechaktbezogenen Arbeiten der kulturkontrastiven Pragmatik (CCSAR-Projekt vgl. Blum-Kulka/Olshtain 1984 oder Blum-Kulka/House/Kasper 1989) in den 1970er und 1980er Jahren haben zugleich mit der Kritik am Universalitätsanspruch der genannten Pioniere neue Aufmerksamkeit in der Forschung bewirkt, wie die Dokumentation der einschlägigen Sektion der IVG-Tagung Politeness in Language. Studies in its History, Theory and Practice (Watts/Ide/Ehlich 1992/2005) belegt.
Nach einer gewissen „Flaute“ in der internationalen Forschungsentwicklung in den 1990er Jahren wurde das Thema der Höflichkeit nach der Jahrtausendwende wieder belebt. Der genannte IVG-Band erfuhr 2005 eine Neuauflage, und 2011 erschienen die Ergebnisse der Sektion Sprachliche Höflichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz (Ehrhardt/Neuland/Yamashita) der IVG-Tagung in Warschau 2010.
Seitdem ist die sprachliche Höflichkeit immer wieder Thema internationaler wissenschaftlicher Konferenzen (z.B. Sprachliche Höflichkeit: Historische, aktuelle und künftige Perspektiven, Ehrhardt/Neuland 2017), wissenschaftlicher Publikationen und auch kontroverser Diskussionen in der Öffentlichkeit (vgl. dazu Kapitel 2).
Schließlich ist die Auseinandersetzung mit Höflichkeit auch ein beliebtes Thema in der universitären Lehre im Rahmen der linguistischen Pragmatik, Soziolinguistik und Kommunikationsforschung im Bereich der Germanistik und der Fremdsprachenphilologien.
Für das vertiefte Studium möchte der vorliegende Band den Versuch unternehmen, trotz der Unübersichtlichkeit einige Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Diskussion zu beschreiben und damit eine Grundlage zu schaffen, die es Studierenden ermöglicht, sich ein Bild von der internationalen Forschung (mit Schwerpunkt auf der deutschsprachigen) zum Thema Höflichkeit zu machen, wichtige Forscher und Forschungsansätze kennenzulernen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Überlegungen zu identifizieren und zu bewerten, und auch zu erkennen, an welchen Punkten noch Forschungsbedarf besteht.
Idealerweise sollten LeserInnen mit den Grundbegriffen der linguistischen Pragmatik vertraut sein, wie sie in Einführungskursen vermittelt werden.
Das Buch beginnt mit einer Annäherung an das Thema aus alltagssprachlicher Perspektive. In Kapitel 2 soll beschrieben werden, was Sprecher des Deutschen meinen, wenn sie von Höflichkeit reden. Dazu werden Wörterbuchdefinitionen herangezogen, die den Gebrauch der Wörter Höflichkeit und höflich illustrieren, aber auch kleine Einblicke in kontrovers diskutierte Fragestellungen angesprochen, die in öffentlichen Debatten eine Rolle spielen.
Kapitel 3 bietet einen kurzen kulturhistorischen Überblick über verschiedene Entwicklungen und Tendenzen von Diskussionen über Höflichkeit. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass das Nachdenken über Höflichkeit eine Konstante in der Kulturgeschichte ist und eine wichtige Funktion im Rahmen der Selbstverständigung von Gesellschaften und Kulturen erfüllt.
In Kapitel 4 geht es um sprachliche Formen des Deutschen, die im Allgemeinen angeführt werden, wenn der Zusammenhang von Sprache und Höflichkeit beleuchtet werden soll. In diesem Kapitel wird vor allem darauf hingewiesen, dass die Verwendung bestimmter sprachlicher Strukturen (Anredeformen, Konjunktiv Präteritum usw.) zwar ein zentraler Gegenstand von linguistischen Überlegungen zur Höflichkeit sein muss, dass die Verwendung dieser Formen aber weder notwendig noch hinreichend ist, um eine Äußerung zu produzieren, die als höflich eingeschätzt wird.
Höflichkeit ist damit eine Funktion von Äußerungen und nicht von Wörtern oder Sätzen. Diese Annahme bietet den Ausgangspunkt der Überlegungen in Kapitel 5, in dem skizziert werden soll, wie die Behandlung von Höflichkeit in einen umfassenderen Ansatz eingeordnet werden kann, der das Ziel verfolgt zu analysieren und zu erklären, unter welchen Bedingungen Kommunikation zustande kommt und effizient sein kann. Die zentrale Frage dieses Kapitels betrifft demnach die kommunikativen Funktionen und die Relevanz von Höflichkeit. Als Ergebnis dieser Betrachtungen wird ein Begriff von Höflichkeit vorgeschlagen, der geeignet sein könnte, das Phänomen theoretisch angemessen einzuordnen.
Kapitel 6 gibt dann einen Überblick über die Geschichte der Höflichkeitsforschung im engeren Sinne. Hier werden wichtige Ansätze aus dem deutschsprachigen und internationalen Bereich vorgestellt und im Hinblick auf den Begriffsvorschlag aus Kapitel 5 diskutiert. Insgesamt ergibt sich hier ein Panorama der Forschungssituation, wichtiger Themen und Ansätze.
In Kapitel 7 werden einzelne anwendungsbezogene Themen herausgegriffen und vertiefend diskutiert. Hier geht es vor allem um Höflichkeit in der computervermittelten Kommunikation, um interkulturelle Kommunikation, kontrastive Ansätze und um Höflichkeit in der Didaktik des Deutschen als Muttersprache und Fremdsprache.
Kapitel 8 bildet schließlich den Abschluss des Bandes, in dem ein Ausblick auf mögliche Themen weiterer Forschung gegeben und die Befunde der Diskussionen noch einmal zusammenfassend auf den Punkt gebracht werden sollen.
Insgesamt stellt der Band also einen Vorschlag zur Begriffsbestimmung dar, aber auch und vor allem einen Überblick über das Forschungsfeld „sprachliche Höflichkeit“. Er bietet eine geeignete Gundlagenlektüre für Vorlesungen und Seminare und gibt Interessierten eine Orientierung in einem komplexen und facettenreichen Bereich. Es geht dabei um linguistische Fragestellungen, um die Rolle von Höflichkeit als Teil der kommunikativen und interkulturellen Kompetenz. Wer praktische Orientierung sucht, wann er wen duzen darf, wie eine angemessene Entschuldigung formuliert sein sollte oder wie man eine höfliche Mail formuliert, der wird nicht auf seine Kosten kommen.
Nach langen Überlegungen haben die Autorin und der Autor sich entschlossen, eine Version der gendergerechten Sprache zu wählen, die eben gendergerecht ist, aber den Lesefluss nicht stört und stilistisch unauffällig ist. Diese Lösung besteht aus der Verwendung des Binnen-I und beider Artikel (maskulin und feminin) im Singular: Mit „der/die LeserIn“ sind also Personen jeglichen Geschlechts gemeint. Häufig wird auch der Plural verwendet oder, wenn es sich im jeweiligen Kontext anbietet, auch andere Formen, die gendergerecht und leser(innen)freundlich sind oder mit denen das zumindest angestrebt wird.
Urbino und Wuppertal, im April 2021