Читать книгу Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg - Страница 10
2. KAPITEL
AUSREISEWELLE Zufluchtsfälle
ОглавлениеEin Gradmesser für die Stimmung der Bevölkerung war die Zahl derjenigen, die sich darum bemühten, die DDR zu verlassen. Als Voltaire nach dem Zerwürfnis mit Friedrich dem Großen Preußen den Rücken kehrte, schrieb er: »Dieses Land ist so schlecht und wird so schlecht regiert, daß wir jedem verbieten, es zu verlassen, weil es sonst die ganze Bevölkerung verlassen würde.« Die Bemerkung, seinerzeit Ausdruck boshafter Überspitzung, hätte 200 Jahre später gut als Beschreibung der DDR gelten können. Seit dem Bau der Mauer und der Anlagen an der innerdeutschen Grenze war es nicht nur verboten, sondern auch praktisch unmöglich, die DDR zu verlassen. Immer wieder gelang zwar einzelnen mit größtem Risiko die Flucht, allein oder mit Unterstützung mehr oder weniger ehrenwerter Helfer und auf abenteuerlichen Wegen, zum Teil auch über Drittländer; vom 13. August 1961 bis Mitte 1989 waren das knapp 41 000 10 . Die meisten dieser Versuche aber blieben erfolglos, endeten im Gefängnis oder mit Verlust von Gesundheit und Leben; über tausend Menschen sind in dieser Zeit bei der Flucht an der Grenze erschossen worden oder auf andere Weise ums Leben gekommen 11 . Legal, d.h. mit Genehmigung der Behörden, konnten praktisch nur Rentner ausreisen, die als bloße Kostgänger für die DDR nicht mehr von Interesse waren; anderen wurde eine Ausreisegenehmigung nur in seltenen Ausnahmefällen nach einem willkürlich gehandhabten Ermessen erteilt. Die 1988 erlassene Reiseverordnung 12 enthielt erstmals eine formelle Regelung auch für die Erteilung von Ausreisegenehmigungen, trug aber nicht viel zur Beruhigung der Ausreisewilligen bei, weil nur wenige unter die ausdrücklich genannten Kategorien der Familienzusammenführung fielen, während es für die große Mehrzahl bei einer Ermessensentscheidung »aus anderen humanitären Gründen« blieb.
Seit Mitte der sechziger Jahre führte allerdings noch ein Weg aus der DDR über die sogenannten besonderen Bemühungen der Bundesregierung, härter und präziser ausgedrückt: über den Freikauf. Gegen Zahlung gab die DDR Menschen frei – Personen, die aus familiären oder sonstigen Gründen dringend in den Westen wollten, sowie politische Häftlinge, die oft ebenfalls nur wegen hartnäckiger Ausreisebemühungen oder fehlgeschlagener Fluchtversuche verurteilt waren. Den Gegenwert erhielt die DDR unter Einschaltung des Diakonischen Werks der evangelischen Kirche in Form von Warengutschriften, die allerdings mit einigen Transaktionen auch in ihrem Geldwert realisiert werden konnten und dann unmittelbar in die notorisch schwache Devisenbilanz der DDR eingingen. Ende 1988 lag der Tarif bei ca. 90 000 DM für Häftlinge und ca. 5000 DM für Fälle der Familienzusammenführung; die Gutschriften schwankten in den letzten Jahren zwischen 150 und 300 Mio. DM pro Jahr und betrugen 1988 ungefähr 220 Mio. DM.
Auf westdeutscher Seite wurde das Geschäft vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen betrieben – die einzige operative Zuständigkeit, die dieses Ministerium tatsächlich hatte. Als Vermittler war der Ost-Berliner Rechtsanwalt Professor Dr. Wolfgang Vogel tätig. Er verfügte über unmittelbaren Zugang zu Honecker und enge Kontakte zu allen maßgeblichen Stellen in Staat und Partei, natürlich nicht zuletzt auch zum Ministerium für Staatssicherheit, wobei es letztlich gleichgültig war, ob er dort selbst auf der Liste der Mitarbeiter geführt wurde; wichtig war nur, daß er auch in schwierigen Fällen – im humanitären Bereich ebenso wie beim Austausch von Agenten – Lösungen erwirken konnte. Auf diese Weise hat er tatsächlich vielen Menschen geholfen. Gewandt und mit Diskretion bewegte er sich zwischen den beiden Welten, wurde auch von beiden großzügig honoriert. Seine hohe Intelligenz, sein Verhandlungsgeschick und seine Verbindungen im Osten wie im Westen machten ihn für beide Seiten wertvoll. Sein eigentlicher Mandatar war jedoch stets die DDR; hier war er auch zu Hause mit allen Privilegien, die dieser Staat vergeben konnte: Ansehen, Besitz, Geld und die Möglichkeit, es nach Belieben im Osten wie im Westen auszugeben, nicht zuletzt unbeschränkte Bewegungsfreiheit (bis hin zu der förmlichen Berechtigung, sich im Straßenverkehr über Geschwindigkeitsbegrenzungen hinwegsetzen zu dürfen). Wenngleich er bei vielen Anliegen vermittelnd hilfreich war, gab es keinen Zweifel, auf welcher Seite er stand. Ich habe mich deshalb Bestrebungen, ihn mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen, immer und letztlich erfolgreich widersetzt.
Vogel war auch der Ansprechpartner für heikle Fälle in den westdeutschen Vertretungen. Viele, die ausreisen wollten, richteten ihre Hoffnungen auf die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin oder suchten bei Reisen ins sogenannte sozialistische Ausland ihr Anliegen bei den dortigen westdeutschen Botschaften, vor allem in Prag und Budapest, vorzutragen. Bei den Botschaften konnten sie die Ausstellung eines westdeutschen Reisepasses verlangen, der ihnen allerdings nichts nützte, weil die örtlichen Behörden sie damit nicht ausreisen ließen. Die Ständige Vertretung hatte mit Rücksicht auf den besonderen Charakter der Beziehungen keine konsularische Zuständigkeit und war nicht befugt, Pässe auszustellen. Sie konnte praktisch nicht mehr tun als die Anliegen registrieren und menschlichen Rat geben. Die Namen wurden einem West-Berliner Anwaltsbüro übermittelt, das seinerseits wieder in Verbindung mit dem Büro des Rechtsanwalts Vogel stand. Einzelne Härtefälle wurden in die besonderen Bemühungen einbezogen; die meisten blieben Akten in einer wachsenden Registratur. Dennoch mag es für manche ein Trost gewesen sein, über ihr Schicksal sprechen zu können und ihren Namen aufgehoben zu wissen.
Die DDR lehnte jede offizielle Erörterung von Ausreisefragen strikt ab. Bei Besuchen prominenter Politiker fand sie sich immerhin gelegentlich bereit, Listen mit Härtefällen entgegenzunehmen, beharrte jedoch darauf, daß es sich um eine innere Angelegenheit handele, für die sie ausschließlich zuständig sei und die nicht Gegenstand der bilateralen Beziehungen sein könne. Die Mitarbeiter der Ständigen Vertretung und der Botschaften mußten den Besuchern daher sagen, daß man ihnen von unserer Seite nicht helfen könne und der Weg zur Ausreise allein über die Behörden der DDR führe.
Nicht alle wollten sich jedoch mit diesem Bescheid abfinden. Sie wollten sich nicht gedulden, sondern eine Entscheidung erzwingen und erklärten, die Vertretung andernfalls nicht zu verlassen. Das versetzte uns in eine schwierige Lage: Nach zwischenstaatlichem Recht durften unsere Vertretungen eigentlich kein Asyl gewähren, hätten strenggenommen die betreffenden Personen auf Ersuchen der örtlichen Behörden sogar herausgeben müssen; nach dem Grundgesetz hatten andererseits alle Deutschen – und Deutsche waren es für uns jedenfalls – Anspruch auf den Schutz der staatlichen Organe. Ganz abgesehen davon wäre es politisch überhaupt nicht zu vertreten gewesen, jemanden, der in einer unserer Missionen Zuflucht suchte, mit Gewalt vor die Tür zu setzen.
Wenn alles Zureden nichts half, wurde in diesen sogenannten Zufluchtsfällen, die vornehmlich die Ständige Vertretung in Ost-Berlin betrafen, der Rechtsanwalt Vogel eingeschaltet, der regelmäßig nach einiger Zeit erschien, dem auf Ausreise Drängenden erklärte, daß er den Fall übernehmen wolle, und mehr oder weniger deutlich eine positive Erledigung in Aussicht stellte; Voraussetzung war, daß der Betreffende die Vertretung verließ und an seinen Wohnort zurückkehrte. Im allgemeinen konnte er tatsächlich einige Zeit später aus der DDR ausreisen. Die von der Bundesregierung dafür aufzubringenden Kosten entsprachen denen für den Freikauf eines Häftlings.
Schon aus diesem Grund sollte auch aus unserer Sicht die Ausreise über die Ständige Vertretung nicht zur Regel werden; vor allem aber durften wir nicht riskieren, daß die DDR, um das Loch zu stopfen, den Zugang zu unserer Vertretung blockierte. Die Mitarbeiter waren daher gehalten, den Besuchern auf jede erdenkliche Weise klarzumachen, daß der Weg aus der DDR nicht über die Ständige Vertretung führe, wissend, daß letztendlich, wenn der andere nur hartnäckig genug blieb, doch eine Hintertür geöffnet werden konnte. So haben oft gerade die Robusten und Widerstandsfähigen ihr Ziel erreicht, während die Zaghaften und Bedrückten, die eigentlich der Hilfe bedürftiger gewesen wären, schließlich resigniert das Haus verließen.