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1. KAPITEL
VORABEND DER KRISE Zeichen an der Wand

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Am 19. August 1989 erklärte der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR, Professor Otto Reinhold, in einem Beitrag für Radio DDR, daß die DDR nur als sozialistischer Staat lebensfähig sei. Anders als die übrigen sozialistischen Länder, deren Staatlichkeit nicht in erster Linie von ihrer gesellschaftlichen Ordnung abhänge, sei für die DDR die Bewahrung ihrer sozialistischen Identität lebenswichtig. »Sie«, so Reinhold, »ist nur als antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische Alternative zur BRD denkbar. Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich keine.« Angesichts der Wandlungen in der »Welt des Sozialismus« warnte Reinhold vor allen Tendenzen, die DDR in irgendeine Form bürgerlicher Ordnung zu drängen, und forderte stattdessen eine Stärkung der sozialistischen Ordnung im Innern bei gleichzeitig verschärfter Systemauseinandersetzung nach außen. An die westlichen Staaten appellierte Reinhold, im eigenen Interesse der sozialistischen Entwicklung der DDR zum Erfolg zu verhelfen, weil nur mit der fortdauernden Existenz beider deutscher Staaten der Status quo in Europa erhalten werden könne 1 .

Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften war die ideologische Denkschule der SED und Reinhold einer ihrer Vordenker. Zwei fahre zuvor hatte er mit Vertretern der Grundwertekommission der SPD ein gemeinsames Papier »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« 2 ausgehandelt, in dem die SED von der SPD als gleichwertiger Partner anerkannt wurde, aber ihrerseits zugestehen mußte, daß über den Unterschied der Systeme eine offene Diskussion auf beiden Seiten geführt werden sollte. Als unter Berufung auf das Papier eine solche Diskussion in Intellektuellenkreisen der DDR tatsächlich auf breiter Front einsetzte, distanzierte sich die Parteiführung, und es oblag wieder Reinhold, diesen Rückzug öffentlich darzustellen und zu rechtfertigen.

In seinen Ausführungen am 19. August umriß Reinhold sehr präzise die grundlegende Problematik des zweiten deutschen Staates. Sie waren zugleich ein Notsignal. Inhalt und Art der Veröffentlichung ließen erkennen, daß es sich nicht nur um eine der üblichen Handreichungen zur Agitation handelte, sondern daß der Aufruf auch an die Führung selbst gerichtet war. Reinhold war viel zu klug und kannte die Verhältnisse auf beiden Seiten Deutschlands zu genau, um nicht zu wissen, daß die DDR im Wettbewerb der Systeme auf die Dauer nicht bestehen konnte. Vor dem Hintergrund der von dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, angestoßenen Reformdiskussion in allen Staaten des sogenannten »Sozialistischen Lagers« und einem wachsenden Druck auf Veränderungen auch in der DDR selbst sah er den zweiten deutschen Staat jetzt in einer existentiellen Krise, ohne freilich zu deren Überwindung anderes anbieten zu können als eine intensivere Fortsetzung des bisherigen Kurses. Letztlich war es das Eingeständnis des Scheiterns, das er vergeblich zu beschwören versuchte.

Schon Ende Mai hatte mir ein enger Mitarbeiter von Reinhold, Professor Rolf Reissig, am Rande einer Tagung des Aspen-Instituts in Berlin erklärt, der Kern aller Probleme einschließlich des wirtschaftlichen Notstandes sei die fehlende Bereitschaft der Menschen in der DDR, sich mit ihrem Staat zu identifizieren; alle Reformen aber, die diesem Mangel abhelfen könnten, gefährdeten die Stabilität des Systems. Deutlicher konnte man kaum sagen, daß die Deutsche Demokratische Republik innerlich am Ende war und nur noch durch das Korsett der autoritären Staatsordnung zusammengehalten wurde.

Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

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