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Führungswechsel

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Am 18. Oktober wurde Honecker gestürzt. Nach einer Auseinandersetzung im Politbüro erklärte er in einer Sitzung des Zentralkomitees seinen Rücktritt nicht nur vom Posten des Generalsekretärs der SED, sondern auch von seinen staatlichen Ämtern. Gleichzeitig verloren die Politbüromitglieder Günter Mittag und Joachim Herrmann, zuständig für Wirtschafts- bzw. Informationspolitik, ihre Ämter. Die amtliche Verlautbarung ließ bereits erkennen, daß dieser Wechsel nicht freiwillig, sondern Ergebnis eines Machtkampfes war.

Honeckers Nachfolger, zunächst als Generalsekretär, wenig später, am 24. Oktober, auch als Vorsitzender des Staatsrats, wurde Egon Krenz. Er galt schon seit langem als Kronprinz, wenngleich auch immer wieder Zweifel aufgekommen waren; man redete von Affären und Alkoholproblemen, ohne freilich Genaueres zu wissen. Wie einstmals Honecker hatte Krenz seine politische Laufbahn in der FDJ begonnen, an deren Spitze er auch lange stand; bei offiziellen Anlässen erschien er im blauen offenen FDJ-Hemd, was mit vorrückenden Jahren einen etwas albernen Eindruck machte. Später suchte er sich einen staatsmännischen Anstrich zu geben. Bräutigam, der ihn einmal in einer Diskussion mit westlichen Botschaftern erlebt hatte, zeigte sich beeindruckt von seinen intellektuellen Fähigkeiten. Ich begegnete ihm zum ersten und einzigen Mal einen Monat später bei einem Besuch von Minister Seiters in Berlin. Krenz hatte etwas Grobschlächtiges an sich, das seine zivilen Umgangsformen als aufgesetzt erscheinen ließ. Sein schweres, breitflächiges Gesicht mit den auffällig unterlaufenen Augenhöhlen ließ an einen mehrfach geschlagenen Boxer denken. Er sprach langatmig und etwas monoton, wobei er immer wieder mitten im Satz, ohne erkennbaren Anlaß, den Mund zu einem Lachen verzog, was gleichermaßen töricht und irritierend wirkte, zumal er dabei ein großes Gebiß entblößte, das mich unwillkürlich an Rotkäppchen und den Wolf im Bett der Großmutter denken ließ.

Ich hielt Krenz von Anfang an für einen Mann des Übergangs. Da er sich selbst aber zweifellos nicht so verstand und entschlossen schien, den Machtanspruch der SED kompromißlos und mit aller Härte zu vertreten, ließ sich freilich zunächst nicht absehen, wie lange dieser Übergang dauern würde. Am Abend des 18. Oktober wandte sich Krenz mit einer wohlvorbereiteten Rede im Stil einer Regierungserklärung an die Öffentlichkeit. Er gab eine Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Führung und Bevölkerung, Fehleinschätzungen und wirtschaftliche Probleme offen zu, ließ aber keinen grundsätzlich neuen Ansatz zu Reformen erkennen. Von dem ausschließlichen Macht- und Führungsanspruch der SED machte er keinerlei Abstriche. Zwar sprach er von »Kontinuität und Erneuerung«, legte den Akzent aber eindeutig auf die Kontinuität: Es sollte nicht anders, nur besser gemacht werden. Dies war ganz gewiß kein Signal, um den wachsenden inneren Druck abzubauen. Vage Ankündigungen bloßer systemimmanenter Verbesserungen konnten nicht ausreichen, um Vertrauen zu gewinnen. Schließlich war nicht zu erwarten, daß die Menschen, die in den letzten Tagen und Wochen zu Tausenden auf die Straße gegangen waren, still in ihre Wohnungen zurückkehren würden, nur weil ein anderer Mann an die Spitze getreten war.

Während seine Rede also innenpolitisch wenig Bewegung verhieß, suchte Krenz nach außen Flexibilität zu demonstrieren. Dabei stand an erster Stelle das Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland. Ungeachtet der Wiederholung stereotyper Angriffe warb Krenz unüberhörbar um Unterstützung und Ausbau der Zusammenarbeit, wobei er langfristige vertragliche Regelungen und institutionalisierte Gesprächsebenen für alle Bereiche, erstmals auch für humanitäre und touristische Fragen, anbot. Offenkundig sah die neue Führung das innerdeutsche Verhältnis mehr denn je als entscheidend für die innere und äußere Existenz der DDR an.

Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

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