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Innerdeutsche Beziehungen

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Knapp zwei Jahre zuvor war der »Generalsekretär der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR«, wie Erich Honecker stets in ermüdender Ausführlichkeit tituliert wurde, zu einem offiziellen Besuch in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, war als Staatsoberhaupt vom Bundeskanzler mit militärischen Ehren empfangen worden, mit dem Bundespräsidenten und führenden Vertretern von Politik und Wirtschaft zusammengetroffen und von nicht wenigen umworben worden. Dieser Besuch war der äußerliche Höhepunkt der DDR gewesen. Die DDR-Führung hatte lange auf ihn hingearbeitet. Neben wirtschaftlicher Unterstützung versprach sie sich davon vor allem eine politische Aufwertung. Der protokollarische Rahmen spielte deshalb für sie eine entscheidende Rolle. Dafür war die DDR bereit, auch Zugeständnisse im Bereich der innerdeutschen Kontakte, vor allem im Reiseverkehr zu machen. Wolfgang Schäuble, damals Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts, war entschlossen, auf diesen Handel einzugehen.

Entscheidungen in der Deutschlandpolitik und ihre Durchführung waren spätestens seit 1985 Sache des Bundeskanzleramtes. Das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen war zwar an sich federführend, tatsächlich lag die Zuständigkeit aber im Bundeskanzleramt 3 . Schäuble harte – bei aller Konzilianz und Behutsamkeit im Umgang mit seiner Ministerkollegin Dorothee Wilms – das Ruder in diesem Bereich fest in die Hand genommen, so daß dem Innerdeutschen Ministerium, abgesehen von der Zuständigkeit für die Lösung humanitärer Einzelfälle, nicht viel mehr blieb als die Verbreitung gesamtdeutscher Rhetorik und die Verteilung von Geld.

Allein im Bundeskanzleramt und unter strengster Geheimhaltung wurde im Frühsommer 1987 auch der Honecker-Besuch vorbereitet. Schon Anfang April hatte der Bundeskanzler dem Termin in einem Gespräch mit dem Mitglied des SED-Politbüros Günter Mittag grundsätzlich zugestimmt, wollte allerdings den Besuch so sachlich und formlos wie möglich hinter sich bringen. Den protokollarischen Wünschen der DDR begegnete er mit großem innerem Widerstreben; und es kostete Schäuble nach seinen eigenen Worten viel Mühe, Helmut Kohl davon zu überzeugen, daß mit Halbheiten das politische Ziel einer weiteren Öffnung der DDR nicht zu erreichen sei und daß im übrigen der Besuch auf andere Weise Gelegenheit böte, den besonderen Charakter der innerdeutschen Beziehungen zu demonstrieren.

Als Leiter des dem Chef des Bundeskanzleramts unmittelbar unterstellten Arbeitsstabes Deutschlandpolitik war ich für die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung des Besuches verantwortlich und begleitete Honecker auch, zusammen mit Staatssekretär Hans Otto Bräutigam, dem Leiter unserer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, während der fünf Tage, die er sich in Westdeutschland aufhielt. Bei der Ankunft am 7. September auf dem Flugplatz Köln-Wahn, wo ihn Schäuble begrüßte, und beim Abschreiten der Ehrenformation vor dem Bundeskanzleramt ließ er deutlich Anspannung und innere Erregung erkennen; im weiteren Verlauf lockerte er sich jedoch zusehends. Auch der Bundeskanzler und wohl jeder Anwesende waren innerlich stark berührt, als vor dem Bundeskanzleramt angesichts der verschiedenen und doch in ihrem Grunde gleichen Flaggen das Stabsmusikkorps die beiden Hymnen spielte 4 . In den nachfolgenden Gesprächen traf Kohl wie fast immer einen Ton, der Distanz wahrte, dem anderen aber dennoch das Gefühl gab, als Politiker ernstgenommen und trotz aller prinzipiellen Gegensätze bis zu einem gewissen Grade auch menschlich akzeptiert zu werden.

Honecker wirkte bei öffentlichen Auftritten hölzern; seine langatmigen Ansprachen in dem gestelzten, phrasenhaften Parteistil waren schwer erträglich. Beim Gespräch in kleinerem Kreis zeigte er sich jedoch meistens wohlinformiert und verstand es, seine Position zu vertreten. Er besaß eine gewisse steife Würde, die seinem Alter, einem guten Schneider und nicht zuletzt der Aura zuzuschreiben war, die ihn als unangefochtene »Nummer 1« der DDR umgab. Seinem inneren Habitus nach war er – darin seinem Staat durchaus ähnlich – kleinbürgerlich, ohne Bildung und Verständnis für Kultur, gleichwohl mit dem Anspruch, auch insoweit maßgeblich zu sein. Wenn er sich leutselig gab, verzog er seinen schmallippigen Mund zu einem gekünstelten Lächeln; seine Augen aber blieben kalt und ließen etwas von der Härte und Erbarmungslosigkeit ahnen, mit der er seinen Weg gegangen war. Manche meinten, aufgrund seiner saarländischen Herkunft und der Jugend im alten Deutschland bei Honecker noch ein gesamtdeutsches Empfinden voraussetzen zu können. Gewiß waren ihm deutsche Gemeinsamkeiten stärker bewußt als der nachwachsenden Generation von SED-Politikern; aber er war nicht der Mann, sentimentalen Anwandlungen Raum zu geben, wenn es um das ging, was er als sein politisches Lebenswerk ansah. Die Sicherung der Existenz der DDR als eines kommunistischen deutschen Staates hatte für ihn absolute Priorität. Wo er sie auch nur indirekt bedroht sah, kannte er keine Rücksicht.

Die Aufmerksamkeit, die Honecker bei seinem Besuch in Westdeutschland zuteil wurde, nahm er mit Befriedigung als Ausdruck der Anerkennung seines Staates entgegen. Er genoß sie darüber hinaus auch persönlich. Die westdeutsche Bevölkerung verfolgte den Besuch zwar interessiert, aber ohne stärkere Emotion. Dagegen zeigten sich größere Teile des Establishments durchaus beeindruckt. Auf der Einladungsliste für das Essen, das der Bundeskanzler am ersten Abend zu Ehren von Honecker in der Redoute in Bad Godesberg gab, standen die Namen der Spitzenvertreter aller politischen und gesellschaftlichen Institutionen; und dem Drängen einflußreicher Persönlichkeiten, ebenfalls zugelassen zu werden, konnte nur mit dem Hinweis auf die begrenzte Zahl der Plätze begegnet werden. Ich war erstaunt, wie viele bedeutende Leute aus Politik und Wirtschaft sich in meinem Büro um eine Einladung bemühten. Auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer, die Honecker anschließend besuchte, gaben sich alle Mühe, dem Gast gebührende Ehre zu erweisen. Bayerns Franz Josef Strauß wollte dabei nicht hinter Johannes Rau von Nordrhein-Westfalen zurückstehen. Am meisten Distanz wahrte noch Bernhard Vogel in Rheinland-Pfalz, der in einer sehr feinsinnigen Tischrede beim Mittagessen im Landesmuseum von Trier unter Hinweis auf die offene Grenze zu Luxemburg Vergleichbares für die innerdeutsche Grenze anmahnte. Im benachbarten Saarland dagegen, das als Honeckers Heimat einen besonderen Platz im Besuchsprogramm beanspruchte, zeigte sich die Landesregierung unter Oskar Lafontaine in geradezu peinlicher Weise um Intimität und ostentative politische Nähe bemüht.

Den stärksten Eindruck auf Honecker selbst machte der Empfang, den ihm am 9. September Vertreter von Wirtschaft und Industrie bei einer von Otto Wolff von Amerongen geleiteten Veranstaltung des DIHT in Köln und am Nachmittag desselben Tages, auf Einladung von Berthold Beitz, in der Villa Hügel bereiteten. Er kam im Gespräch später immer wieder darauf zurück und bezeichnete dies als den Höhepunkt seiner Reise. Es war allerdings auch zum Erstaunen, wie im Palast des früheren Krupp-Imperiums, Symbol des Kapitalismus in Deutschland, der erste Mann eines kommunistischen deutschen Staates hofiert wurde und der westdeutsche Wirtschaftsadel, darunter Vorstandsmitglieder von Weltunternehmen, sich drängte, um zur Audienz vorgelassen zu werden.

Gewiß waren es nur zum geringen Teil die – eher bescheidenen – wirtschaftlichen Perspektiven der DDR, die eine solche Anziehungskraft entfalteten. Das Faszinosum war anderer Art: Auf viele übte der andere Teil Deutschlands, gerade weil sie ihn wenig kannten, einen fast exotischen Reiz aus; wem es gelang, auf diesem schwierigen Feld einen Schritt zu unternehmen, hielt sich darauf Besonderes zugute. So wurde eine persönliche Begegnung mit Honecker nachgerade für westdeutsche Politiker aller Schattierungen ebenso wie für Größen der Wirtschaft zu einem wichtigen Element der Selbstdarstellung. Man mag hinzufügen, daß überdies mancher leicht dem Reiz des Totalitären erliegt, zumal wenn es äußerlich Ordnung und Stabilität zu gewährleisten scheint. Die Staatsgläubigkeit der Wirtschaft, verbunden mit einem gering entwickelten politischen Gespür bei manchen ihrer Vertreter, hat eine gewisse Tradition in Deutschland; und insofern war die Villa Hügel wohl in der Tat der geeignete Platz für ein solches Schauspiel.

In der offiziellen Bewertung der DDR war der Besuch ein bedeutender politischer Erfolg, der vor aller Welt die Souveränität und Gleichberechtigung beider deutschen Staaten zu dokumentieren und der DDR endgültig zu internationalem Ansehen zu verhelfen schien. Mit derselben Begründung wurde er in Westdeutschland auch kritisiert: Die DDR sei ohne Not und Gegenleistung aufgewertet und unter Mißachtung des Wiedervereinigungsgebots völkerrechtlich anerkannt worden, hieß es in konservativen Kreisen.

Wolfgang Schäuble und ich als sein Mitarbeiter im Bundeskanzleramt sahen das anders: Was die Aufwertung anlangte, so schien uns das ein flüchtiger Vorteil zu sein, den die DDR bei mangelndem Wohlverhalten – wie tatsächlich wenig später geschehen – wieder zu verlieren drohte; insofern hätte der Besuch eher eine disziplinierende Wirkung haben können. Zur Frage einer völkerrechtlichen Anerkennung ließ sich sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland die DDR bereits mit Abschluß des Grundlagenvertrages 5 als nach innen und außen selbständigen Staat anerkannt und lediglich für das bilaterale Verhältnis mit dem Festhalten an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit und dem Ziel der Wiedervereinigung einen Sondercharakter reklamiert hatte. Durch den Besuch änderte sich daran nichts.

Freilich ist nicht zu leugnen, daß Bilder wie die vom zeremoniellen Empfang im Hof des Bundeskanzleramts die Vorstellung der Menschen stärker prägen als Vertragsbestimmungen. Insofern kam politisch schon etwas hinzu. Andererseits machten gerade diese Bilder und der gesamte Ablauf deutlich, daß der Besuch nicht eines der üblichen zwischenstaatlichen Protokollereignisse war, sondern daß hier mehr mitschwang. Jedermann konnte sehen, daß es sich bei den innerdeutschen Beziehungen nicht um ein normales zwischenstaatliches Verhältnis handelte, sondern daß die beiden deutschen Staaten in einer besonderen Weise miteinander verbunden waren. Der Bundeskanzler nutzte seine – zu bester Fernsehzeit in alle deutschen Haushalte in Ost wie West direkt übertragene – Tischrede am Abend des 7. September 6 , um das eindringlich herauszustellen und zugleich unmißverständlich zu erklären, daß die Teilung Deutschlands zwar gegenwärtig und in überschaubarer Zukunft unser politisches Handeln bestimmte, daß wir diese Teilung aber nicht als endgültig betrachteten und ihre Überwindung langfristig für notwendig und möglich hielten. Honecker, der sich das mit unbewegtem Gesicht anhörte, erwiderte mit dem Bild von Feuer und Wasser, die sich ebensowenig mischen könnten wie Sozialismus und Kapitalismus. Er sollte schließlich recht behalten, wenngleich in ganz anderem Sinn, als er – ebenso wie wir damals – es sich vorstellen konnte.

Aus unserer Sicht war der Honecker-Besuch ein notwendiger und wichtiger Schritt auf dem Wege der allmählichen Öffnung der DDR. Diese Politik war zwanzig Jahre vorher nach dem von Egon Bahr unter dem Motto »Wandel durch Annäherung« 7 entwickelten Konzept von Willy Brandt begonnen und – ungeachtet der erbitterten Kritik der CDU in den Jahren ihrer Opposition – nach dem Regierungswechsel im Herbst 1982 von Helmut Kohl fortgesetzt worden. Ausgangspunkt war die Einsicht, daß man den Realitäten Rechnung tragen müsse, wenn man auf sie einwirken und sie langfristig ändern wollte, und daß es nichts nützte, an der Rechtsfigur der staatlichen Einheit festzuhalten, wenn unterdessen ihr Substrat, das Gefühl nationaler Verbundenheit, mangels Kommunikation verfiel.

Außerdem durfte man nicht ganz aus dem Blick verlieren, daß nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Grenzsoldaten, die auf Flüchtlinge schössen, die Mitarbeiter der Staatssicherheit, die ihren Mitmenschen auf vielfältige Weise nachstellten, und die Funktionäre, die für dieses Unrechtsregime die Verantwortung trugen, daß auch sie alle Deutsche waren. Zu den Realitäten gehörten Honecker und seine Genossen, und man kam nicht umhin, sich trotz der ihnen fehlenden Legitimität mit ihnen ins Benehmen zu setzen, wenn man die Verbindung zwischen den Menschen beiderseits von Mauer und Stacheldraht für die Zukunft erhalten wollte.

Mit ihnen zu verhandeln bedeutete notwendigerweise Anerkennung, jedenfalls pro tempore. Jeder innerdeutsche Vertragsschluß wertete das Regime ein wenig auf und befestigte damit scheinbar die Teilung; andererseits eröffnete er zugleich Möglichkeiten, durch Zusammenarbeit Kommunikation zu schaffen und damit der Teilung entgegenzuwirken. So kaufte die Bundesrepublik innerdeutsche Kommunikation für den Preis von Aufwertung und wirtschaftlicher Unterstützung. Die DDR brauchte beides – wirtschaftliche Hilfe, um den Ansprüchen ihrer Bürger notdürftig gerecht werden zu können, und äußere Anerkennung, um das innere Legitimationsdefizit auszugleichen.

Der Preis, den sie dafür erbrachte, war eine vorsichtige, kontrollierte Westöffnung mit dem Risiko, dadurch das eigene System zu destabilisieren. An einer ernsthaften Gefährdung der inneren Stabilität der DDR konnte andererseits auch die Bundesrepublik kein Interesse haben; denn solange die Sowjetunion, deren Geschöpf und Satellit die DDR war, einer grundlegenden Änderung der Verhältnisse dort nicht zustimmte, hätte das nur zu einer neuerlichen Abschließung geführt und damit alle Bemühungen um innerdeutsche Kontakte zunichte gemacht. Die Bundesrepublik konnte nicht auf Destabilisierung, sondern nur auf langsame Erosion des Systems der DDR setzen, auf Evolution, nicht auf Revolution.

So waren die innerdeutschen Beziehungen für beide Seiten eine Gratwanderung, allerdings mit dem Unterschied, daß die DDR immer absturzgefährdet war und die Bundesregierung darauf Rücksicht nehmen mußte. Kritiker sprachen von einem »Management der deutschen Teilung« und beklagten das Fehlen eines Konzepts für eine zielstrebige Wiedervereinigungspolitik. Die Wahrheit war, daß es ein solches Konzept nicht geben konnte, solange die sowjetische Politik eine Neuordnung in Mitteleuropa ausschloß. Es galt vielmehr, bereit zu bleiben für Veränderungen, wenn sie denn einmal kommen sollten, und einstweilen alles zu tun, um die Bindungen zwischen den Menschen im östlichen und westlichen Deutschland lebendig und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit wachzuhalten im Hinblick auf das Ziel, die deutsche Einheit in einer wenngleich ungewissen Zukunft wiederherzustellen.

Allerdings hatten manche dieses Ziel zeitweilig aus dem Auge verloren oder auch ganz aufgegeben; aus dem proklamierten Wandel durch Annäherung war unversehens eine Annäherung durch eigenen Wandel geworden. In der SPD war schon während ihrer Regierungszeit und mehr noch nach 1982 in der Opposition eine Neigung festzustellen, die deutsche Zweistaatlichkeit als Element der Stabilität und damit des Friedens in Europa anzusehen mit der Folge, daß die Erhaltung der DDR geradezu als staatsmännische Pflicht erschien. In dem zwischen SPD und SED 1987 ausgearbeiteten Grundsatzpapier 8 hieß es ausdrücklich, daß keine Seite der anderen die Existenzberechtigung absprechen dürfe und die Hoffnung sich nicht darauf richten könne, daß eine Seite die andere abschafft.

Manche – dazu gehörten viele Intellektuelle, auch Kreise der evangelischen Kirche – glaubten zudem, in der DDR zumindest Ansätze für eine sozialistische Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung des Westens zu erkennen, und meinten, über die Mängel in der Realität hinwegsehen oder sie wenigstens um des vermeintlich guten Zieles willen ertragen zu können. Linke Schwärmer und die meisten Grünen suchten überdies die Teilung der deutschen Nation mit dem Gedanken zu rechtfertigen, daß sie eine Art Sühne für begangenes Unrecht und für das Unglück darstellte, das der deutsche Nationalstaat in der Vergangenheit über die Welt gebracht hatte – eine Sühne, die allerdings fast ausschließlich andere, nämlich die Deutschen in der DDR, zu leisten hatten.

In der Öffentlichkeit wurde die deutsche Einheit oft schon als unrealistisch abgeschrieben; und die Neigung wuchs, den zweiten deutschen Staat auf Dauer zu akzeptieren und den Vorbehalt der nationalen Einheit, wie er besonders in der Präambel zum Grundgesetz und konkret in dem Festhalten an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit sowie dem Sondercharakter der innerdeutschen Beziehungen zum Ausdruck kam, als lästigen Ballast aufzugeben. Selbst Willy Brandt sprach noch im September 1988 davon, daß die Hoffnung auf Wiedervereinigung die »Lebenslüge der zweiten deutschen Republik« sei 9 . Die Bundesregierung unter Helmut Kohl betonte demgegenüber gerade diese Grundsatzpositionen, ohne sich freilich dadurch an einer pragmatischen Tagespolitik hindern zu lassen. Mit begrenzten Zugeständnissen und dem Hebel wirtschaftlichen Entgegenkommens versuchte sie, die Türen der DDR zum Westen weiter zu öffnen, in der Zuversicht, daß der Westen bei diesem Handel langfristig nur gewinnen könnte.

Im Zusammenhang mit dem Besuch Honeckers – und das war für uns der politisch entscheidende Punkt – gelang es, die DDR zu einer bis dahin nicht möglichen Ausweitung des innerdeutschen Reiseverkehrs zu bewegen. Um den offiziellen Empfang Honeckers in der Bundesrepublik zu erreichen, fand sich die DDR nicht nur bereit, touristische Reisen aus Westdeutschland in größerem Umfang zuzulassen, sondern lockerte auch – erst tatsächlich, dann auch rechtlich – die Reisebeschränkungen für ihre eigenen Bürger in einem Maße, das weitreichende Konsequenzen hatte.

Während Rentner aus der DDR schon seit längerem relativ frei in den Westen reisen durften und davon – sofern dort Verwandte oder Freunde für ihren Unterhalt sorgten – auch mit jährlich etwa 1,5 Mio. Besuchen reichlich Gebrauch machten, blieb die Zahl der Besuche von Personen unterhalb des Rentenalters, die nur in sogenannten dringenden Familienangelegenheiten reisen durften, ziemlich konstant auf 40 000 bis höchstens 60 000 im Jahr beschränkt. Auf Drängen der Bundesregierung stieg die Zahl dann jedoch 1986 zunächst auf 244 000, 1987 auf 622 000 und 1988 auf 790 000 Besuche. Zusammengenommen waren in diesen drei Jahren demnach schätzungsweise rund sechs Millionen Menschen aus der DDR, davon etwa ein Drittel unterhalb des Rentenalters, ein- oder mehrmals zu Besuch in Westdeutschland oder West-Berlin.

Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf das Bewußtsein bleiben. Die unmittelbaren Erfahrungen im Westen, nicht zuletzt auch im Umgang mit Behörden, ließen die Systemunterschiede nur allzu deutlich hervortreten; sie stärkten die Bereitschaft zu Kritik und Widerspruch nach Rückkehr in die Heimat. Zugleich wurde das Gefühl für die Zusammengehörigkeit der Menschen in beiden Teilen Deutschlands neu belebt. Insofern trug gerade der Honecker-Besuch letztlich nicht wenig zu den sich anbahnenden Veränderungen in der DDR bei und bestätigte damit die Richtigkeit der zuweilen als allzu pragmatisch gescholtenen Deutschlandpolitik der Bundesregierung.

Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

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