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Realitätsverlust

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Die Stimmungslage der Bevölkerung wurde von der allgegenwärtigen Staatssicherheit insgesamt recht gut erfaßt, von der politischen Führung aber in ihrer wirklichen Dimension nicht begriffen. Man war sich hier zwar eines inneren Drucks bewußt und versuchte, ihm in gewissem Umfang Rechnung zu tragen. Schritte wie der Erlaß einer Reiseverordnung, mit der die Reisemöglichkeiten erweitert und formelle Grundlagen auch für eine Übersiedlung ins westliche Ausland geschaffen wurden, sowie die Einführung von Ansätzen für eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ließen ein solches Bemühen erkennen, waren jedoch – auch wegen der systembedingten Einschränkungen – zu halbherzig und blieben jedenfalls hinter den Erwartungen der Bevölkerung zurück. Für sie galt, was fast immer das Entgegenkommen der Herrschenden in einer vorrevolutionären Situation kennzeichnet: zu wenig und zu spät.

Honecker selbst ließ eine befremdliche Realitätsferne erkennen. Er schien sich weder der politischen noch gar der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR bewußt zu sein, sah sich vielmehr in der Rolle eines Landesvaters, der über ein zwar nicht problemfreies, aber doch geordnetes Staatswesen mit einer insgesamt zufriedenen Bevölkerung herrschte. Ich hatte oft den Eindruck, daß er sich wenn nicht geliebt, so doch geachtet fühlte und damit vielleicht sogar nicht einmal ganz unrecht hatte, diese Achtung aber als Zustimmung zu seinem System mißverstand.

Er gefiel sich in patriarchalischen Attitüden und bewilligte aus einem Fonds zu seiner persönlichen Verfügung, der stets mit 200 Mio. DM gefüllt sein mußte, gelegentlich Sondereinfuhren von Konsumgütern – Apfelsinen zu Weihnachten, auch einmal Westautos; und nicht selten nahm er sich persönlich einzelner Probleme an, auf die er zufällig stieß, so daß an ihn gerichtete Eingaben manchmal überraschende Wirkung hatten. Gerne zog er Vergleiche zu seiner Jugend und zur Lage nach dem Krieg, um dann den sozialistischen Fortschritt zu preisen. Er war zum Beispiel besonders stolz darauf und gab es als Zeichen wirtschaftlicher Stabilität aus, daß der Preis für ein Brötchen seit fast vierzig Jahren gleich geblieben war; daß Brötchen aber inzwischen billiger als Viehfutter waren und von den Menschen wo immer möglich in großen Mengen an Kaninchen und Schweine verfüttert wurden, nahm er dagegen nicht wahr. Ebensowenig sah er wohl die Zurüstungen, die speziell für ihn gemacht wurden und die Wirklichkeit verbargen, etwa daß die Fassaden der Häuser in der Prenzlauer Allee, durch die er gewöhnlich von seiner Wohnung in Wandlitz ins Stadtzentrum fuhr, gerade nur bis zu der Höhe gestrichen waren, die man beim Blick aus dem Auto erkennen konnte. Ein Funktionär sagte mir einmal selbstironisch: »Wenn der Honecker kommt, wird auch der Wald gefegt.«

Zuletzt und wohl altersbedingt nahm der Abstand zur Realität immer mehr zu. Bei einem Gespräch mit Schäuble am 9. November 1988 redete er fast nur noch langatmig und nicht immer ganz konsistent darüber, wie doch alles in den letzten vierzig Jahren soviel besser geworden sei und wie gut es den Menschen gehe, um dann nach Art alter Leute zu klagen, daß die jüngere Generation dies leider nicht genügend anerkenne. Als im April 1989, wo die Zeichen des Unmuts in der Bevölkerung kaum noch zu übersehen waren, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, Honecker bei einem Besuch vorsichtig auf die angespannte innere Lage ansprach, wies dieser die Annahme, es gebe innere Probleme, weit von sich und erklärte, er lade ihn, den Ministerpräsidenten, ein, an der Parade zum 1. Mai teilzunehmen, dann werde er sehen, wie groß die Übereinstimmung zwischen Führung und Bevölkerung sei. Dabei machte er den Eindruck, daß er tatsächlich glaubte, was er sagte.

Die Herrschenden haben es überall schwer, die Wirklichkeit zu erfahren. Wieviel mehr in einem System, in dem sie sich nie dem Volk stellen müssen, sondern immer auf dem Podest stehen, an dem die von ihnen selbst inszenierten Paraden mit zum Jubeln und Fahnenschwenken angehaltenen Menschen vorbeiziehen. Verwundert es, daß schließlich auch sie der Illusion erliegen, die sie selbst geschaffen haben?

Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

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