Читать книгу Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg - Страница 14
3.KAPITEL
DIE WENDE Die Opposition formiert sich
ОглавлениеEine wachsende Zahl von Menschen wollte die DDR nicht verlassen, sondern sie von innen verändern. Es ging ihnen um Freiheits- und Bürgerrechte, um Mitbestimmung und einen Staat mit menschlichen Zügen. Die oppositionellen Kräfte, die bisher verstreut und im verborgenen oder unter dem Dach der Kirche agiert hatten, formierten sich und traten aus dem Schatten hinaus an die Öffentlichkeit.
Auf Initiative der Malerin Bärbel Bohley und des Biologen Jens Reich sowie anderer Oppositioneller traf sich am 9. September in Grünheide bei Berlin eine Gruppe zur Unterzeichnung eines Gründungsaufrufs für ein »Neues Forum«, der mit dem Satz begann: »In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört«, und ohne konkrete, im engeren Sinne politische Aussagen den Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Bewahrung der Natur artikulierte. Angestrebt wurde eine Gesellschaft »freier, selbstbewußter Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln«. Bärbel Bohley und Jutta Speidel beantragten in aller Form beim Innenministerium der DDR die Zulassung des Neuen Forums als Vereinigung, was freilich nahezu umgehend am 21. September mit der lapidaren Begründung abgelehnt wurde, Ziele und Anliegen widersprächen der Verfassung, die Gruppe sei staatsfeindlich. Das verhinderte nicht, daß in den kommenden Wochen Tausende überall in der DDR ihre Namen unter den Gründungsaufruf für das Neue Forum setzten, das damit auch ohne staatliche Anerkennung ein politischer Faktor zu werden begann.
Andere folgten: Am 14. September gab in Erfurt der Pfarrer Edelbert Richter die Gründung des »Demokratischen Aufbruchs« bekannt. In Böhlen bei Leipzig entwarf eine Gruppe, die sich als »Vereinigte Linke« bezeichnete, ein Positionspapier, das den Begriff Sozialismus mit neuen Inhalten füllen sollte. Wiederum in Berlin gründeten der Regisseur Konrad Weiß und der Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann die Bewegung »Demokratie Jetzt«, die bereits mit einem konkreten Programm antrat, das Rechtsstaatlichkeit und Formen der Marktwirtschaft einschloß. Am 7. Oktober schließlich, dem Staatsfeiertag der DDR, wurde im Pfarrhaus von Schwante im Kreis Oranienburg als Ergebnis längerer, zum Teil schon in den Anfang des Jahres zurückreichender Überlegungen zweier evangelischer Pfarrer, Martin Gutzeit und Markus Meckel, eine »Sozialdemokratische Partei in der DDR« gegründet, die sich ausdrücklich als politische Partei verstand. Die anderen Gründungsmitglieder kamen ebenfalls aus dem kirchlichen oder kirchennahen Bereich: der gastgebende Pfarrer Joachim Kähler, Konrad Elmer, der erste Sprecher der Partei Stefan Hilsberg und der spätere Vorsitzende Ibrahim Böhme. Sie nannten sich zunächst ausdrücklich »SDP« 33 ; der Verzicht auf den traditionsreichen Namen »SPD« ließ nicht nur einen mangelnden Sinn für die Bedingungen politischen Handelns erkennen, sondern war auch Ausdruck des Wunsches nach Eigenständigkeit. Die SDP wie alle anderen Gruppierungen, die sich damals zusammenfanden, wollten nämlich zunächst und vor allem eines: eine bessere DDR. Der Gedanke an die Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland lag ihnen zu dieser Zeit sehr fern, er wurde teilweise auch offen abgelehnt. Das Verlangen nach Wiedervereinigung kam erst später und wuchs letztlich aus anderen Gründen.