Читать книгу Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg - Страница 13
Prag
ОглавлениеDas einzige Land, in das DDR-Bürger ohne Paß und Visum reisen konnten, war die Tschechoslowakei. Reisen dorthin waren deshalb von jeher auch gelegentlich zu – meist vereitelten – Fluchtversuchen genutzt worden. Jetzt hofften viele, auf diesem Wege nach Ungarn kommen zu können. Aus innenpolitischen Gründen mochte die DDR die Grenze nicht schließen; sie veranlaßte aber die Tschechoslowakei zu verschärften Kontrollen an ihrer Grenze zu Ungarn; Reisepapiere für Ungarn wurden Fluchtverdächtigen womöglich schon in der DDR abgenommen. Die Folge war ein verstärkter Andrang auf unsere Botschaft in Prag, wo sich bis zum 19. September bereits über 500 Zufluchtsuchende angesammelt hatten. Ihre Zahl nahm täglich zu; wenn sie nicht durch die Tür eingelassen wurden 28 , kletterten sie – vor laufenden Fernsehkameras und von der tschechischen Miliz nur wenig behindert – über den Zaun. Zufluchtsuchende kamen ebenfalls in die Botschaft Warschau und wurden dort mit Duldung der polnischen Behörden außerhalb des Botschaftsgeländes in einem Priesterseminar untergebracht.
Es gab Anzeichen, daß die polnische Regierung sich vielleicht ähnlich wie Ungarn dazu bereit finden könnte, die Flüchtlinge auch ohne Zustimmung der DDR ausreisen zu lassen. In Prag dagegen schien eine solche Lösung angesichts einer sehr rigiden Haltung der tschechischen Regierung vorerst ausgeschlossen, und da die Probleme dort für uns von Tag zu Tag bedrängender wurden, meinte die DDR, die Bundesregierung hier am ehesten zu einer einvernehmlichen Regelung bewegen zu können, die dann auch als Modell für Warschau dienen und einen weiteren Einbruch wie in Ungarn verhindern würde.
Am 22. September kam deshalb Rechtsanwalt Vogel zu Minister Seiters. Er brachte eine Liste mit Namen von Personen mit, denen Anfang Oktober die Ausreise gestattet werden sollte, darunter die ersten der Zufluchtsuchenden aus der Ständigen Vertretung. Für die Flüchtlinge in den Botschaften Prag und Warschau stellte er bei freiwilliger Rückkehr eine Ausreisegenehmigung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten, in Ausnahmefällen innerhalb eines Jahres in Aussicht. Er schlug dazu eine Vereinbarung in Form einer Niederschrift über von ihm, Vogel, sowie von Staatssekretär Priesnitz abzugebende Erklärungen vor. Er selbst könne erklären, daß für DDR-Bürger nach freiwilliger Rückkehr eine positive Lösung im regulären Ausreiseverfahren gefunden werde; zugleich spreche er die Erwartung der DDR aus, daß Wiederholungsfälle vermieden würden. Staatssekretär Priesnitz sollte erklären, daß in künftigen Zufluchtsfällen ausschließlich auf den Behörden- und Anwaltsweg verwiesen werde und daß im übrigen zu der Verabredung keine öffentliche Stellungnahme abgegeben werde; eine finanzielle Gegenleistung an die DDR stehe nicht zur Diskussion.
Aus den bereits genannten Gründen konnten wir uns nicht darauf einlassen, Zusicherungen zu geben, wie sie Vogel offensichtlich anstrebte. Seiters würdigte deshalb zwar Vogels Bemühungen, bezeichnete eine Vereinbarung der vorgeschlagenen Art aber als problematisch. Letztlich komme es auch nicht auf die Bundesregierung an, sondern auf die Reaktion der Menschen. In Prag könnten Vertreter der Bundesregierung zwar sagen, daß es keine andere Lösung gebe, als auf das Angebot der DDR einzugehen; in Warschau sei das jedoch anders. Vogel insistierte, daß auch dort die »legale« Lösung auf jeden Fall die bessere sei, weil dann immer auch die Angehörigen und das ganze Umzugsgut mitgenommen werden könnten. Seiters blieb dabei, daß wir keine Vereinbarung treffen und in Warschau auch keine Erklärung mit dem von der DDR gewünschten Inhalt abgeben könnten. Vogels anfänglich zur Schau gestellter Optimismus verlor sich zusehends; er wirkte enttäuscht und betreten. Das einzige Ergebnis, das er schließlich mitnehmen konnte, war die Verabredung, daß er in den nächsten Tagen zuerst in Prag und dann in Warschau den Flüchtlingen selbst das Angebot der DDR vortragen könne.
Am 26. September reiste Vogel nach Prag. In Anwesenheit von Bertele, Sudhoff und Priesnitz als Vertretern der Bundesregierung übermittelte er den Flüchtlingen die verbindliche Zusage der DDR-Führung, innerhalb der nächsten sechs Monate ausreisen zu können, wenn sie zunächst in ihre Heimatorte zurückkehrten. Doch nur 200 Flüchtlinge wollten sich darauf einlassen und stiegen in die bereitgestellten Busse. Die anderen wollten Vogel nicht einmal anhören, ja, er wurde zuletzt regelrecht niedergeschrieen. Für den so selbstgewissen Mann, der gewohnt war, daß alle Verfolgten der DDR ihre Hoffnungen auf ihn setzten, muß dies eine niederschmetternde Erfahrung gewesen sein. Bertele erzählte mir später, Vogel sei völlig verzweifelt gewesen und habe ernsthaft erwogen, alles aufzugeben. Zwei Tage später in Warschau war es fast noch ärger: Nur 50 Leute gingen auf sein Angebot ein, obwohl er hier die Ausreise schon in wenigen Wochen sowie die Mitnahme von Angehörigen und Umzugsgut in Aussicht stellte. Der Zauber war gebrochen; die Gebannten waren immun geworden. Vogel mag hier gespürt haben, daß nun auch seine Zeit auslief.
Der Druck zu einer Lösung der Probleme in Prag und Warschau nahm unterdessen auf beiden Seiten zu. Besonders in der Botschaft Prag wurden die Lebensbedingungen zunehmend bedrängender, die hygienischen Verhältnisse waren kaum noch vertretbar; niemand wußte, was wir bei einem vorzeitigen Kälteeinbruch tun sollten. Auf der anderen Seite bereitete die DDR aufwendige Feiern zum 40. Jahrestages ihrer Gründung am 7. Oktober vor, zu denen Bilder von Flüchtlingen, die in westdeutschen Botschaften eingepfercht waren, schlecht passen wollten. Wir erwarteten deshalb, daß die DDR versuchen würde, die Lage vorher zu bereinigen. Am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen führte Außenminister Genscher in New York Gespräche mit dem tschechoslowakischen Außenminister, der aber auf die Zuständigkeit der DDR verwies, und mit DDR-Außenminister Fischer, der unbeweglich blieb. Genscher gelang es jedoch, den sowjetischen Außenminister Schewardnadse zu beeindrucken, wobei die humanitären Gesichtspunkte, aber auch sowjetisches Eigeninteresse eine wichtige Rolle spielten. Das sich zu einem internationalen Skandal entwickelnde Problem ihres wichtigsten Verbündeten war geeignet, auch das Ansehen der Sowjetunion selbst zu belasten, zumal Gorbatschow in wenigen Tagen als Ehrengast zu den Ost-Berliner Jubelfeiern reisen sollte.
Nicht zuletzt auf sowjetisches Drängen lenkte die DDR schließlich ein. Am Morgen des 30. September, eines Samstags, überbrachte der Ständige Vertreter der DDR, Neubauer, Minister Seiters im Bundeskanzleramt das Angebot, in der folgenden Nacht Züge nach Prag und Warschau zu schicken, um alle Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland zu befördern, allerdings über das Gebiet der DDR. Zugesichert wurde, daß keine Kontrolle erfolgen sollte außer zur Feststellung der Identität und der Abgabe der Personalpapiere der DDR; gleichzeitig sollten Ausreisedokumente ausgegeben werden. Die DDR gehe im übrigen davon aus, daß die Ausreise unter völliger Diskretion ohne jede öffentliche Propaganda erfolge und daß nach dem Modell der Ständigen Vertretung in Berlin die Botschaften danach geschlossen blieben.
Auf Nachfrage präzisierte Neubauer, der Verzicht auf Kontrolle bedeute freies Geleit. Er stimmte auch zu, daß Vertreter der Bundesregierung die einzelnen Zugtransporte begleiten könnten. Außenminister Genscher, der an dem Gespräch teilnahm, hatte betont, daß es gelte, bei den Flüchtlingen selbst um Vertrauen in die angebotene Lösung zu werben, und daß er und Minister Seiters deshalb in Prag mit ihnen sprechen und auch die Züge begleiten müßten. Zur Anwendung des von Neubauer so bezeichneten »Berliner Modells« erklärte Genscher aber gleich, daß die Bundesregierung mit der DDR keine Vereinbarung über ihre Vertretungen in Drittstaaten treffen könne.
Nach Abstimmung mit dem Bundeskanzler bestätigte Seiters, daß die Bundesregierung zu der Aktion bereit sei, allerdings keine Gewähr für den Erfolg übernehmen könne; dies gelte besonders für Warschau. Er und Genscher würden in Prag mit den Flüchtlingen sprechen, um Vertrauen werben und auch die Zugtransporte begleiten. Als weitere Begleiter wurden Staatssekretär Priesnitz, die Ministerialdirektoren Kastrup und Jansen vom Auswärtigen Amt sowie der Büroleiter von Genscher, Elbe, und ich benannt. Staatssekretär Sudhoff und Staatssekretär Bertele sollten in Warschau mit den Zufluchtsuchenden sprechen.
Wenige Stunden später waren wir in einem Flugzeug der Luftwaffe nach Prag unterwegs. Der Himmel war verhangen, und es dämmerte bereits, als wir vom Flugplatz hinunter in die Stadt zur Botschaft fuhren. Unsere Botschaft, das Palais Lobkowitz, glich einer eingeschlossenen Stadt. Ich hatte das Gefühl, noch nie so viele Menschen auf begrenztem Raum zusammen gesehen zu haben. Wohin man schaute, waren Menschen – Männer, Frauen, Kinder. Sie standen, saßen, hockten in den Hallen, Gängen und Sälen. Auf der breiten Barocktreppe konnte man kaum beide Füße nebeneinander setzen – rechts und links lagerten Menschen. In der Durchfahrt, auf den Gängen, wo immer sich Platz fand, waren dreistöckige Betten aufgeschlagen, aus denen uns erwartungsvolle Augen ansahen. Der große Garten war ein Zeltlager mit mehreren tausend Bewohnern. Die Zelte standen so gedrängt, daß in den Gassen gerade Raum war für die Halterungen. Es herrschte kein Lärm, aber auch nicht Ruhe; alles schien in ständig murmelnder Bewegung.
Eine Oase der Abgeschiedenheit und Stille waren allein die Privaträume des Botschafters im obersten Stockwerk. Hermann Huber und seine Frau waren wochenlang der Bedrängung durch immer mehr Menschen ausgesetzt gewesen und hatten zusammen mit den Mitarbeitern der Botschaft in unermüdlichem Einsatz, mit Entschiedenheit und obendrein Humor das Leben dieser Zufallsgemeinschaft notdürftig zu regeln versucht und den Menschen Halt gegeben. Es war menschlich wie organisatorisch eine großartige Leistung, die dem deutschen Auswärtigen Dienst zur Ehre gereichte. Daß es ihnen gelungen war, ihren privaten Bereich intakt zu halten, habe ich zusätzlich bewundert.
Zunächst erfuhren wir, daß Neubauer sich im Bundeskanzleramt bei Manfred Speck, dem persönlichen Referenten von Minister Seiters, gemeldet und mitgeteilt hatte, daß die Züge am selben Abend um 21.00 Uhr, 23.00 Uhr und 1.00 Uhr abfahren und jeweils eine Stunde vorher bereitgestellt werden sollten; ein vierter Zug werde in Reserve gehalten. Es bestünden keine Bedenken, wenn leitende Beamte die Züge begleiteten, eine Begleitung durch die Minister sei jedoch nicht möglich. Mit einiger Mühe gelang es mir, Neubauer telefonisch in Bonn zu erreichen, und Seiters erklärte ihm, die Ablehnung der Mitreise von Ministern stelle einen Bruch der Absprache dar. Die Begleitung sei ein wichtiges Element für die Vertrauensbildung und deshalb auch eine der Grundlagen für die Entscheidung des Bundeskanzlers gewesen. Neubauer behauptete, es sei nur von einer Begleitperson die Rede gewesen. Seiters bestand auf Überprüfung der Entscheidung. In einem weiteren Telefongespräch eine halbe Stunde später erklärte Neubauer jedoch, es müsse bei der getroffenen Entscheidung bleiben – die Minister könnten nicht mitreisen. Seiters wiederholte, daß dies der Absprache widerspreche; wir würden dennoch unser Bestes für den Erfolg der Operation tun, aber wenn es Probleme gebe, liege die Verantwortung allein bei der DDR.
Nun war jedenfalls der Zeitpunkt gekommen, zu den Flüchtlingen zu sprechen. Wir gingen alle hinaus auf einen Balkon an der Gartenseite, wo ein Mikrophon mit Lautsprecheranschluß installiert war. Unten die Zeltstadt, jenseits des Gartens an einem Hang Batterien von Fernsehkameras und Scheinwerfern, die Zelte und Menschen in ein fahles Licht tauchten. Tausende von bleichen Gesichtern schauten zu uns herauf, die Spannung zitterte fühlbar und machte sich in skandierten Rufen »Genscher, Genscher!« Luft. Genscher sagte: »Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik...« Seine weiteren Worte gingen unter in einem aus der Tiefe kommenden, fast animalischen Schrei, in dem sich alles auf einmal entlud: Verzweiflung, Angst, die Bedrückung des Lagerlebens und ungeheure Erleichterung, daß es nun – endlich! – in das gelobte Land gehen sollte. Es war unheimlich und bewegend zugleich. Uns allen standen Tränen in den Augen. Erst nach geraumer Zeit und erneuten »Genscher, Genscher«-Rufen wurde es etwas ruhiger, so daß Genscher weitersprechen und das Nötige zum Ablauf des Transports sagen konnte.
Anschließend beim Gang durchs Gebäude überall freudige Erregung, Nachfragen, auch immer wieder Worte des Dankes an die Minister. Genscher wäre nicht gewesen, was er ist, wenn er nicht sofort vor der Botschaft dem deutschen Fernsehen ein Interview gegeben hätte, in dem er unter Hinweis auf seine vorangegangenen Gespräche in New York für sich das Hauptverdienst an dem Ergebnis in Anspruch nahm. Die Nachrichten waren aber nun ohnehin schon in der Welt.
Danach trafen wir uns wieder bei Hubers, von wo man oben die erleuchteten Gebäude des Hradschin, das Palais Starhemberg und die Türme des Veits-Doms sehen konnte und unten die ersten Grüppchen von Flüchtlingen, die durch die kleine Gasse stadteinwärts gingen, wo an einem Platz die Busse warteten, die sie zum Bahnhof bringen sollten.
Kastrup sollte den ersten Transport begleiten und brach deshalb schon auf. Ich suchte noch einmal telefonisch Neubauer zu erreichen, um einige Fragen zu klären. Neubauer beklagte sich gegenüber Seiters bereits über die Publizität und das Fernsehinterview von Genscher, worauf Seiters nur erwidern konnte, daß es eine Illusion sei, eine Aktion dieser Art unter Ausschluß der Öffentlichkeit abzuwickeln. Ich war für den zweiten Transport vorgesehen und machte mich gegen 21.00 Uhr mit zwei jüngeren Kollegen von der Botschaft ebenfalls auf den Weg. Als wir den zu den Bussen gehenden Menschen zuriefen, daß wir sie begleiten sollten, wurden wir mit lautem Beifall begrüßt. Uns entgegenkommende weitere Flüchtlinge, die auf dem Weg zur Botschaft waren, machten sofort kehrt, als sie die gute Nachricht hörten, und schlossen sich uns an.
Die Züge sollten von einem Bahnhof im Außenbezirk Prags abfahren, wo die Aktion weniger Aufsehen erregte und das Gelände besser abzusperren war. Der erste Zug mit Kastrup war, wie ich hörte, ordnungsgemäß abgefahren; der zweite ließ jedoch auf sich warten. Es war schon nach 23.00 Uhr, und es kamen immer weitere Busse mit Flüchtlingen aus der Botschaft, die sich in der bald überfüllten Bahnhofshalle und dann auf dem Vorplatz sammelten und zunehmend unruhiger wurden. Dann fuhr ein Zug ein, jedoch nicht der für uns bestimmte, sondern ein regulärer Fernzug, der aus Ungarn kam und in dem auch zahlreiche Deutsche aus der DDR saßen. Als sie hörten, daß es eine Direktverbindung nach Westdeutschland geben sollte, stiegen einige auf der Stelle aus und gesellten sich zu den Wartenden. Schließlich – es war schon gegen Mitternacht – kam unser Zug, der sofort bis auf den letzten Platz gefüllt wurde und dann auch bald abfuhr.
Der erste Halt war an der tschechisch-deutschen Grenze, und alle wurden unruhig. Aber außer Bahnpersonal und einem Paar in Lederjacke, der Ausgehtracht der Staatssicherheit, ließ sich niemand sehen. Um 2.00 Uhr morgens hielt der Zug erneut in Dresden am äußersten südlichen Bahnsteig des Hauptbahnhofs. Auf der Straße hinter dem Bahnhof standen ähnliche Gestalten wie an der Grenze und schienen voll Interesse den nächtlichen Himmel zu betrachten. Auch drei junge Leute lungerten auf dem Bahnsteig herum. Ich hielt sie zunächst für Vertreter derselben Firma, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte und sie plötzlich losliefen und im Fahren aufsprangen. Sie hatten, wie sie mir dann erzählten, auf einer Autofahrt im Radio von den Ereignissen in Prag gehört und spontan beschlossen, sich anzuschließen, waren aber nicht mehr über die Grenze gelassen worden und darauf nach Dresden gefahren. Hier hörten sie, daß die Flüchtlingszüge durchfahren sollten, und versuchten ihr Glück. Sie brachten nur das, was sie auf dem Leib trugen, und ihre Entscheidungsbereitschaft in den Westen.
Es dämmerte schon, als sich der Zug langsam dem Grenzgebiet näherte. An einigen Häusern waren Tücher aufgehängt, Menschen standen am Fenster und winkten; auch Eisenbahner grüßten verstohlen. Der letzte Halt vor der Grenze war in Reichenbach. Der Bahnsteig, an dem wir hielten, war nach außen vollkommen abgeschottet; auf allen anderen Gleisen standen Züge mit geschlossenen Waggons, so daß niemand von außen Einblick hatte noch auch von drinnen hätte entkommen können. Ein Trupp von Männern in grauen Anzügen, vermutlich Mitarbeiter des Innenministeriums und der Staatssicherheit, verteilte sich auf die Wagen. Ich stellte mich als Begleiter aus dem Bundeskanzleramt vor, was zur Kenntnis genommen wurde. Auf meine Frage, ob die Flüchtlinge nun ihre Ausreisepapiere erhalten würden, bekam ich in dem für DDR-Organe typischen Ton von Anmaßung und Zurechtweisung die Antwort: »Behindern Sie hier keine Amtshandlungen!« Tatsächlich wurden entgegen der Zusage von Neubauer keine Ausreisepapiere ausgegeben, sondern nur die DDR-Ausweise eingesammelt, so daß viele ganz ohne Identitätsnachweis nach Westdeutschland kamen.
Meine Kollegen und ich hatten vorher in Gesprächen im Zug zur Ruhe gemahnt; aber die Stimmung war, wie nur allzu verständlich, aufs äußerste gespannt. Manche schleuderten den Vertretern ihres bisherigen Staates wütend ihre Ausweise und restliches DDR-Geld vor die Füße oder stießen halblaute Beschimpfungen aus. Wir konnten nur immer wieder mahnen, nicht die Nerven zu verlieren. Angst und die offensichtlich den Vertretern der Dienste erteilte Weisung, Provokationen zu ignorieren, ließen es aber nicht zu Zwischenfällen kommen. Ich stellte mir allerdings die Frage, was zu tun sei, wenn einzelnen Flüchtlingen die Ausreise verweigert würde, und hatte für mich selbst entschieden, daß ich dann ebenfalls den Zug verlassen und zurückbleiben würde. Glücklicherweise wurde das aber nicht notwendig. Nach einer quälend langen Dreiviertelstunde wurde schließlich das Signal auf freie Fahrt gestellt. Als der Zug aus dem Bahnhof ausfuhr, ging hörbar ein Stöhnen der Erleichterung durch die Reihen, und als wir wenig später die schwarzrot-goldenen Grenzpfähle passierten, jubelten und schrien alle, lagen sich in den Armen, lachten und weinten. Überall an der Strecke standen winkende Menschen, und in Hof wurden wir von einer kaum übersehbaren Menge von Offiziellen und Helfern mit Begeisterung in Empfang genommen.
In den folgenden Stunden trafen noch zwei weitere Züge ein. Infolge der Verspätung fuhren sie die größte Zeit bei Tageslicht durch die DDR und wurden von der Bevölkerung demonstrativ begrüßt, einige benutzten auch Gelegenheiten, um aufzuspringen und ebenfalls direkt in den Westen zu fahren. Ähnlich war es bei dem Transport aus Warschau, der etwa zur gleichen Zeit in Helmstedt eintraf.
Wir Transportbegleiter sammelten uns in einer Kaserne des Bundesgrenzschutzes und flogen am Nachmittag mit einem Hubschrauber zurück nach Bonn. Dort erfuhr ich, daß die Botschaft in Prag sich schon wieder füllte. Scharen von DDR-Deutschen, die bereits in der Tschechoslowakei waren oder sich auf die Nachricht von der Ausreiseaktion dorthin aufgemacht hatten, sammelten sich bereits im Laufe des Sonntagvormittags auf dem Platz vor der Botschaft. Es kam zu Gedränge, zu Zusammenstößen mit der tschechischen Polizei, so daß das Tor schließlich wieder geöffnet werden mußte. Am Abend lagerten erneut mehrere tausend Flüchtlinge in den gerade erst geräumten Notquartieren des Palais Lobkowitz. Auch in Warschau wurde in den folgenden Tagen wieder eine allerdings kleinere Zahl von Flüchtlingen in unserer Botschaft aufgenommen.
Minister Seiters beauftragte mich, Neubauer für den folgenden Tag zu ihm einzubestellen, um das Problem dieser Nachzügler sowie die bei der Abwicklung der Ausreiseaktion offen gebliebenen Fragen zu behandeln. Dabei ging es uns besonders um die abredewidrig nicht ausgehändigten Ausreisedokumente, die nicht nur für die Identifizierung, sondern auch für den Status der Flüchtlinge von Bedeutung waren. Im Falle einer »legalen« Ausreise konnten Angehörige nachziehen; auch brauchten sie nicht um ihren zurückgelassenen Besitz zu fürchten, konnten ungefährdet die Transitwege nach Berlin benutzen und später sogar wieder zu Besuch in die DDR reisen. Wir haben diese Frage in der Folgezeit immer wieder bei der DDR angesprochen, ohne jemals eine befriedigende Antwort zu erhalten. Das Problem erledigte sich schließlich durch die weitere Entwicklung.
Neubauer verlangte seinerseits einen Termin noch am Abend des 1. Oktober bei dem Minister, mußte dann jedoch mit mir vorliebnehmen. An Sonntagabenden ist auch das Bundeskanzleramt gewöhnlich geschlossen; und es bereitete einige Mühe, die Türen aufsperren und den DDR-Vertreter in Empfang nehmen und in mein Büro bringen zu lassen. Das Gespräch war äußerst frostig. Neubauer protestierte gegen die erneute Aufnahme von DDR-Bürgern in unseren Botschaften in Prag und Warschau, die den getroffenen Absprachen widerspreche und die gerade abgeschlossene Aktion unterlaufe. Die Botschaften müßten deshalb jetzt die Bürger der DDR in ihre Heimat zurückschicken. Ich verwies auf die im Laufe des Tages eingetretene Entwicklung vor der Prager Botschaft, die uns zu handeln gezwungen habe, und erinnerte ihn an die Erklärung von Außenminister Genscher vom Vortage, daß wir mit der DDR keine Vereinbarung über unsere Botschaften in Drittstaaten treffen könnten. Neubauer bezeichnete dies als fadenscheinige Begründung und protestierte auch gegen die öffentliche Behandlung der Ausreiseaktion durch die Bundesregierung, insbesondere das Fernsehinterview des Außenministers. Das Gespräch nahm an Schärfe zu, als Neubauer der Bundesregierung Wortbruch vorwarf, was ich als in der Form und in der Sache völlig unangemessen zurückwies. Er verließ mich schließlich fast grußlos 29 .
Am folgenden Tage gab sich Neubauer in der Form etwas gemäßigter, protestierte aber erneut dagegen, daß die Bundesregierung sich angeblich nicht an die getroffenen Absprachen, insbesondere auch nicht an das sogenannte »Berliner Modell«, gehalten, sondern die Botschaften gleich wieder für DDR-Bürger geöffnet habe. Die DDR betrachte dies als groben Vertrauensbruch und verlange, daß diese Menschen aus den Gebäuden hinausgewiesen würden, um ihre Angelegenheiten entsprechend dem Angebot von Rechtsanwalt Vogel in der DDR zu regeln. Im übrigen seien von den verantwortlichen Politikern bewußt falsche Informationen über die Ausreiseaktion in Umlauf gebracht worden. Es habe sich dabei um eine einseitige Entscheidung der DDR gehandelt, die weder in New York noch anderswo vorbereitet worden sei.
Minister Seiters erwiderte darauf in gleicher Weise wie ich am Vortage und fragte, wem denn gedient worden wäre, wenn Bilder von einer Massenansammlung vor unserer Botschaft in Prag und von Zusammenstößen mit der Polizei um die Welt gegangen wären. Die DDR müsse zur Kenntnis nehmen, daß nicht wir das Problem geschaffen hätten. Es liege nicht an uns, daß die Menschen in großen Scharen die DDR verlassen wollten; auch uns bedrücke diese Situation, wir hätten sie aber nicht heraufbeschworen. Alle Welt wisse, wo die wahren Ursachen lägen. Andererseits könne auch die DDR kein Interesse daran haben, daß sich die Lage wieder so zuspitze wie in der vorhergehenden Woche. Seiters bat daher dringlich, die Möglichkeit einer Anschlußregelung zu prüfen. Neubauer erklärte dazu, es gäbe die jetzige Situation nicht, wenn jede Seite sich an die Absprache gehalten hätte. Die DDR habe ihre Verpflichtungen erfüllt; wir dagegen hätten das nicht getan. Die Aktion vom Wochenende sei ein einmaliger humanitärer Akt gewesen, der nicht wiederholt werden könne 30 .
Diese Position konnte die DDR freilich nicht durchhalten. Inzwischen wurde sie nämlich auch von der tschechoslowakischen Regierung unter Druck gesetzt, für die der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen aus der DDR und Menschenansammlungen vor und in unserer Botschaft auch ein eigenes Problem wurden. Am Nachmittag des 3. Oktober bat Neubauer kurzfristig und dringlich um einen Termin bei Minister Seiters und erklärte auf Weisung seiner Regierung, die Haltung der Bundesrepublik Deutschland und die Nichtbeachtung von getroffenen Absprachen hätten dazu geführt, daß erneut eine große Zahl von DDR-Bürgern sich widerrechtlich in der Botschaft in Prag aufhalte. Da darunter zahlreiche Kinder und Kleinstkinder seien, habe die Regierung der DDR aus humanitären Gründen beschlossen, diese Personen in die Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Sie würden in Zügen der Deutschen Reichsbahn in gleicher Weise wie am 1. Oktober in die Bundesrepublik gebracht. Der erste Zug werde noch am selben Abend um 20.00 Uhr in Prag bereitstehen.
Etwa gleichzeitig telefonierte der Bundeskanzler mit dem tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Adamec, der ihm sagte, daß sich an diesem Tag nachmittags 6000 Flüchtlinge aus der DDR in unserer Botschaft aufhielten, weitere 2000 in der Umgebung. Außerdem seien 3000 bis 4000 DDR-Bürger auf dem Weg nach Prag. Zusammen handele es sich um 10 000 bis 11 000 Menschen. Mit der DDR sei vereinbart, daß sie am Abend oder in der Nacht in gleicher Weise wie am voraufgegangenen Wochenende in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen könnten. Die tschechoslowakische Regierung wolle das am Abend auch bekanntgeben 31 .
Auch die Bundesregierung gab daraufhin eine entsprechende Mitteilung an die Presse. Am Abend zeigte sich jedoch, daß in Prag weder Züge noch Busse für die Fahrt zum Bahnhof bereitstanden. Damit begann eine Nacht nahezu pausenloser Telefonate mit unserer Botschaft in Prag, der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, unserer Ständigen Vertretung in Berlin und der tschechoslowakischen Botschaft in Bonn. Angeblich gab es technische Probleme. Von tschechischer Seite hieß es, die DDR lasse bereitstehende Züge nicht durchfahren.
Bis zum nächsten Morgen war noch kein Transport abgegangen. Da Neubauer sich verleugnen ließ, bestellte ich in aller Frühe seinen Vertreter Glienke ein und verlangte unter Hinweis auf die akuten Gefahren für Gesundheit und Sicherheit der betroffenen Menschen, nun unverzüglich die Voraussetzungen für die Ausreiseaktion zu schaffen und uns mitzuteilen, wann der erste Zug fahren könne. Bis zum Mittag war die Ständige Vertretung der DDR jedoch zu einer Antwort nicht in der Lage. Auch Bertele, der sich bereits in der Nacht über den Bereitschaftsdienst an das Außenministerium der DDR gewandt hatte, erhielt keine Auskunft.
Minister Seiters telefonierte am 4. Oktober um 9.00 Uhr mit dem Leiter der Außenabteilung beim Präsidium der Tschechoslowakei, Soukop, der ihm erklärte, die am Vortag mit der DDR vereinbarte Regelung gelte nach seiner Kenntnis weiter. Die DDR habe bereits gestern eine feste Zusage gegeben, noch am selben Tag Züge bereitzustellen. Die tschechoslowakische Regierung werde jetzt DDR-Ministerpräsident Stoph noch einmal um eine Stellungnahme bitten. Mittags teilte Soukop dann mit, daß der erste Zug in Kürze in die Tschechoslowakei einfahren und um 17.00 Uhr wieder abfahren könne. Eine Stunde später wurde mir das von Neubauer bestätigt. Er forderte zugleich, daß die Bundesregierung endlich Maßnahmen treffe, um Botschaftsbesetzungen zu verhindern. Um 15.00 Uhr kam er noch einmal zu Minister Seiters und teilte mit, daß insgesamt zehn Züge vorgesehen seien, die voraussichtlich im Stundentakt fahren könnten. Neubauer wiederholte seine Forderung nach Schließung unserer Botschaften, wozu Seiters auf unsere mehrfach erklärte Position verwies. Auf unsere Frage, was mit den Menschen in der Botschaft Warschau geschehen sollte, konnte Neubauer nichts sagen, unterrichtete mich aber am folgenden Tag telefonisch, daß die DDR entschieden habe, diese Leute in gleicher Weise über das Territorium der DDR auszuweisen. Am 4. und 5. Oktober reisten dann rund 10 000 Flüchtlinge aus Prag und am 5. Oktober noch einmal etwa 600 Flüchtlinge aus Warschau über die DDR in die Bundesrepublik Deutschland 32 .
Schon am Vormittag des 4. Oktober hatten wir erfahren, was der wahre Grund für die angeblich technisch bedingte Verzögerung war: In Hof ankommende Reisende hatten berichtet, daß sich entlang der Strecke große Menschenmengen angesammelt hätten. Überall müßten Sicherheitskräfte eingesetzt werden, um Gleise und Bahnhöfe von Menschen zu räumen, die für Ausreisefreiheit demonstrierten oder auch unmittelbar auf die Züge aufspringen wollten. Vor dem Dresdner Hauptbahnhof sammelten sich mehr als 3000 Menschen, bis sie von Polizei und Staatssicherheit rücksichtslos zusammengeschlagen wurden. Auch in Magdeburg wurde eine Demonstration mit brutaler Gewalt aufgelöst; zahlreiche Demonstranten wurden festgenommen.
Daß es zu solchen Demonstrationen kommen würde, hätte die DDR-Regierung leicht voraussehen und möglicherweise auch vermeiden können, wenn sie der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge aus Prag unmittelbar in das Bundesgebiet zugestimmt hätte. Die von Honecker persönlich getroffene Entscheidung, die Transporte über DDR-Gebiet zu leiten, war nur durch das krankhafte, aus dem Bewußtsein der Minderwertigkeit gespeiste Souveränitätsbedürfnis zu erklären: Die DDR konnte es mit ihrem Selbstverständnis nicht vereinbaren, daß ihre Bürger auf eigenen Wegen und ohne behördliche Zustimmung dem Land den Rücken kehrten; wenn sie schon ihren Staat verließen, so sollte dies aufgrund einer souveränen Entscheidung der DDR selbst geschehen. Dementsprechend wurde die Aktion in offiziellen Verlautbarungen der DDR-Regierung auch stets als »Ausweisung« bezeichnet.
In den folgenden Wochen, besonders während der Herbstferien, kamen erneut zahlreiche Flüchtlinge über Ungarn in den Westen. Obwohl die DDR den sichtvermerksfreien Reiseverkehr in die Tschechoslowakei zeitweise suspendierte, sammelten sich Flüchtlinge auch wieder in der Botschaft Prag, außerdem in Warschau. Die Fälle wurden teils aufgrund der weiter geltenden Zusage von Rechtsanwalt Vogel gelöst, teils erhielten die Flüchtlinge nun auch von den DDR-Vertretungen Ausreisepapiere. Als sich Anfang November in der Botschaft Prag mit dem Andrang von über 2000 Flüchtlingen erneut eine kritische Situation ergab, stimmte die DDR schließlich auch zu, daß die Flüchtlinge unmittelbar über die deutsch-tschechische Grenze in den Westen reisten. Zu spektakulären Aktionen kam es nicht mehr. Der Schwerpunkt der Entwicklung verlagerte sich von der Peripherie ins Zentrum.