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Die Mauer fällt

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Ein bestimmendes Thema blieb aber nach wie vor die Reiseund Ausreisefrage. Die Zahl derjenigen, die diesen Staat auf immer verlassen wollten, wurde nicht kleiner, sondern nahm eher noch zu. Bereits am 19. Oktober, einen Tag nach Honeckers Sturz, war der Innenminister beauftragt worden, umgehend einen Gesetzentwurf über Reisen von Bürgern der DDR ins Ausland vorzubereiten. Am 6. November wurde dieser Entwurf veröffentlicht und stieß sofort auf heftige Kritik. Gemessen an den früheren Bestimmungen war er zwar recht liberal – jeder sollte einen Paß erwerben und jährlich maximal 30 Tage ins Ausland fahren können; auch sollte über Anträge innerhalb von 30 Tagen entschieden werden, bei einer »ständigen Ausreise«, das heißt Übersiedlung, in längstens 6 Monaten. Aber die Zeit für derartige bürokratische Reglementierungen war vorbei. Im Zentralkomitee wurde dann auch beschlossen, die Einschränkungen weitgehend fallenzulassen. Günter Schabowski, der zum Abschluß der Sitzung am 9. November um 18.00 Uhr vor die Presse trat, hatte den Entwurf eines Ministerratsbeschlusses bei sich, der als Übergangsregelung bis zum Erlaß eines Gesetzes kurzfristige Genehmigungen von privaten Auslandsreisen ohne besondere Voraussetzungen sowie die Erteilung von Sichtvermerken für ständige Ausreisen unmittelbar aus der DDR in die Bundesrepublik und nach West-Berlin vorsah. Die förmliche Verabschiedung und auch die zur praktischen Umsetzung erforderlichen Anweisungen an die Grenzdienststellen standen jedoch noch aus; auch eine Pressemitteilung sollte erst am 10. November herausgegeben werden, was Schabowski jedoch nicht wußte oder übersah. Gedrängt von den Journalisten gab er den Inhalt bekannt, ohne weiter zwischen Besuchsreisen und ständiger Ausreise zu unterscheiden; und unter dem Eindruck der ihm von Krenz vermittelten dringlichen Bedeutung beantwortete er schließlich die Frage, wann die neue Regelung in Kraft treten werde, verwirrt mit »sofort, unverzüglich«. Schon wenige Minuten später, kurz nach 19.00 Uhr, lief über die Agenturen, dann über alle Abendnachrichten die Meldung, daß die DDR ihre Grenze öffne. Binnen kurzem sammelten sich vor den Übergangsstellen in Berlin Tausende von Menschen, die auf die Absperrungen zudrängten. Ohne Anweisungen und von den Nachrichten selbst verunsichert, taten die Grenzpolizisten das Vernünftige: Sie öffneten die Schlagbäume und ließen die Menschen hindurch.

Im Bundeskanzleramt hatten wir bereits nachmittags Hinweise erhalten, daß nach der Sitzung des Zentralkomitees wichtige Mitteilungen zu erwarten seien. Als wir dann aber die Meldungen über die Grenzöffnung hörten und wenig später im Fernsehen Bilder aus Berlin dazu sahen, konnten wir es nicht wirklich fassen. Der Bundeskanzler war am Morgen zu einem offiziellen Besuch nach Warschau gereist. Eduard Ackermann übernahm es, ihn telefonisch zu unterrichten. Minister Seiters lud seinerseits kurzfristig die Bundestagspräsidentin sowie die Fraktionsvorsitzenden ein, die alle genauso fassungslos waren wie wir selbst. Es wurde verabredet, daß der Bundestag um 21.00 Uhr zu einer Plenarsitzung zusammentreten sollte, auf der Seiters für die Bundesregierung und danach die Fraktionsvorsitzenden kurze Erklärungen zu dem Ereignis abgeben würden. Ich habe dann in aller Eile die Erklärung für Seiters entworfen, die in den wesentlichen Teilen wie folgt lautete:

»Die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen aus der DDR ist ein Schritt von überragender Bedeutung. Damit wird praktisch erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR hergestellt. Mauer und Grenze in Deutschland werden damit durchlässiger. Die Bundesregierung hofft, daß diese Entscheidung der DDR-Führung einen Schritt in Richtung auf eine echte Liberalisierung in der DDR darstellt. Das Ziel muß bleiben, ... die Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands so zu entwickeln, daß die Menschen, die dort ihre Heimat haben, für sich die Perspektive auf eine lebenswerte Zukunft sehen. Vor diesem Hintergrund will ich noch einmal an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom gestrigen Tage erinnern ... Die Chancen und Perspektiven, die sich hier auf friedliche Weise eröffnen, erfordern ein ganz hohes Maß an Solidarität, die jetzt in der Bundesrepublik in einer außergewöhnlichen Weise gefragt ist und von der ich überzeugt bin, daß sie auch praktiziert wird. Wir, die freigewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, sollten gemeinsam an unsere Bevölkerung appellieren, die Solidarität in einer historischen Stunde auch unter Beweis zu stellen.« 36

Auch die anderen Erklärungen waren tastend, zurückhaltend in ihren Aussagen, aber ergriffen vom Ereignis. Am Ende der Sitzung standen alle Abgeordneten spontan auf und sangen die Nationalhymne. Unter den vielen bewegenden Momenten dieses Jahres war es für mich der ergreifendste, an den ich nie ohne Rührung zurückdenken kann.

In Berlin wurde es eine Nacht der Begeisterung, des Taumels und des Glücks. Wer immer gehen oder fahren konnte, machte sich auf zur Grenze. Wildfremde Menschen fielen sich in die Arme, weinten und lachten, feierten gemeinsam das Ende der Trennung und des Leids, das die Mauer den Menschen in Ost und West gebracht hatte. »Soviel Trauer durch die Mauer«, sagte eine alte Frau vor der Kamera, dann brach sie in Schluchzen aus.

Doch nun hatte die Mauer ihre böse Kraft verloren. Vor dem Brandenburger Tor stiegen junge Leute von beiden Seiten hinauf, und die Grenzpolizisten der DDR halfen dabei. Auch die folgenden Tage hatten noch etwas Traumhaftes. Wo immer sich Menschen aus der DDR mit ihren wunderlich kleinen Wagen der Marke »Trabant«, liebevoll »Trabi« genannt, im Westen sehen ließen, wurden sie gefeiert und jedenfalls dieses eine Mal als das empfangen, als was sie im Floskelwerk der Sonntagsreden immer angesprochen worden waren: als Brüder und Schwestern.

Die Bilder gingen um die Welt und kündeten vom Ende einer Epoche. Der große russische Cellist Mstislav Rostropowitsch kam spontan und setzte sich mit seinem kostbaren Cello vor die geöffnete Mauer und spielte Bach.

Über Nacht war alles anders geworden, und was geschehen war, konnte auch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Grenze gab es zwar noch, aber sie war offen; hier und da begannen einzelne – sogenannte »Mauerspechte« – bereits Brocken aus der Mauer zu schlagen und als Souvenir zu vertreiben 37 . Selbst die Grenzsoldaten der DDR, darauf trainiert, jeden scharf einschüchternd ins Auge zu fassen, barsch zu befragen und weitere Kontakte mit dem »Klassenfeind« strikt zu vermeiden, zeigten sich auf einmal umgänglich und aufgeschlossen. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 11. November den neuen Übergang am Potsdamer Platz besuchte, trat ihm der diensthabende DDR-Offizier entgegen, salutierte und sagte: »Herr Bundespräsident, ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse!« Es schien eine neue Welt zu sein; und alle erwarteten, daß nun der Wunder noch mehr geschähen.

Doch man kann nicht lange auf der Höhe eines Gefühls leben, und im politischen Raum schon gar nicht. Erste Mißtönekamen bereits auf bei einer Kundgebung am Abend des 10. November vor dem Schöneberger Rathaus, wo der Regierende Bürgermeister Walter Momper, Willy Brandt, Außenminister Genscher und der Bundeskanzler – der seinen Besuch in Warschau kurzfristig unterbrochen hatte – sprachen. Die deutschlandpolitische Zurückhaltung der Berliner SPD und die in nationalen Fragen äußerst negative Position autonomer linker Gruppen wurden in ihrer Wirkung verstärkt durch die Ineffizienz der Berliner CDU, die ihre Anhänger an einem anderen Ort zusammengerufen hatte, so daß sich auf dem Rathausplatz eine durchweg kritische Menge zusammenfand, die zwar die Freizügigkeit für Berlin begrüßte, alle nationalen Konsequenzen aber zurückwies. Die Ansprachen ließen auch bereits die unterschiedlichen Akzente der Parteien erkennen, die in den folgenden Monaten die Diskussion bestimmen sollten: Alle stimmten zwar darin überein, daß die Menschen nun nicht in großen Scharen die DDR verlassen sollten; während Momper den Akzent aber auf eine dauerhaft zu erhaltende DDR legte, deutete der Bundeskanzler in vorsichtiger Form eine weitere Entwicklung an, die schließlich zur Überwindung der deutschen Teilung führen sollte. Genscher äußerte sich wie immer bedeutungsvoll ausgewogen und unklar. Das Treffendste sagte letztlich Willy Brandt: »Nichts wird wieder so, wie es einmal war« 38 , und später: »fetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«

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