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Praktische und finanzielle Folgen

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Am folgenden Morgen, vor seiner Rückreise nach Polen, rief der Bundeskanzler Krenz an und vereinbarte einen Besuch von Minister Seiters in Berlin für den 20. November; zugleich erklärte er seine Bereitschaft, kurz danach auch selbst mit Krenz – allerdings nicht in Berlin – zusammenzutreffen3. Einen ersten telefonischen Kontakt zwischen dem Bundeskanzler und Krenz hatte es bereits kurz nach dessen Wahl zum Staatsratsvorsitzenden, am 26. Oktober, gegeben, wobei auch schon ein persönliches Gespräch mit Seiters in Aussicht genommen worden war. Die Ereignisse in der Zwischenzeit machten es jetzt jedoch dringlich, über Inhalt und Form der weiteren Zusammenarbeit zu sprechen. Wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten, war beiden Seiten daran gelegen, die Entwicklung in geordnete Bahnen zu leiten. Der Bundeskanzler erklärte ausdrücklich, es komme darauf an, jede Form von Radikalisierung zu vermeiden. Krenz bekräftigte das und fügte hinzu, man sei sich sicherlich darin einig, daß gegenwärtig die Wiedervereinigung nicht auf der politischen Tagesordnung stehe. Von dieser Auffassung distanzierte sich der Bundeskanzler zwar unter Hinweis auf seinen Amtseid, räumte jedoch ein, daß die Wiedervereinigung auch uns im Augenblick nicht am meisten beschäftige.

Vordringlich war in der Tat die Frage, in welcher Weise der Reiseverkehr in Deutschland nach der improvisierten Maueröffnung verlaufen, und vor allem, wie er bezahlt werden sollte. Schalck hatte schon am 6. November im Gespräch mit Seiters vorgerechnet, was hier zu erwarten war: Wenn die ca. 12,5 Millionen Menschen im Alter von über 14 Jahren, die in der DDR lebten, von einer Reisemöglichkeit Gebrauch machten, so würde das bei einer Devisenausstattung von nur 300,- DM jährlich bereits einen Aufwand von 3,75 Mrd. DM bedeuten. Schalck hatte hinzugefügt, die DDR sei bereit, ihrerseits die von der Bundesrepublik für den Verkehr zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet gezahlte Transitpauschale von 860 Mio. DM im Jahr in voller Höhe dafür aufzuwenden, außerdem bei Reisen von Westdeutschen und West-Berlinern auf Visumsgebühren und den obligatorischen Mindestumtausch zu verzichten sowie eine Vielzahl von zusätzlichen Übergängen auf eigene Kosten zu öffnen, wenn die Bundesrepublik für den Differenzbetrag von fast 3 Mrd. DM aufkomme und außerdem erhöhte Zuschüsse zur Verminderung der Devisenbelastung der DDR im Eisenbahnverkehr leiste. Bei einem weiteren Gespräch am 15. November übergab Schalck dazu Papiere mit präzisen Vorschlägen.

Vorgeschlagen wurde insbesondere die Bildung eines aus Mitteln der Bundesrepublik zu finanzierenden Devisenfonds, aus dem jeder Bürger der DDR über 14 Jahren für Reisen 300,-DM zu einem erhöhten Wechselkurs (1,- DM = 4,40 DDR-Mark) erwerben könnte; die Gegenwertmittel sollten für die zusätzlichen Abfertigungskosten sowie Vorhaben von gemeinsamem Interesse verwendet werden. Ferner sollte die Bundesrepublik die Kosten für die Rückfahrten der Reisenden in die DDR sowie den – sich wegen unterschiedlicher Streckenlängen bei der Verrechnung der gegenseitigen Leistungen für die Reichsbahn ergebenden – Negativsaldo vom innerdeutschen Reiseverkehr in voller Höhe übernehmen 39 .

Als Gegenleistung wollte die DDR auf den Mindestumtausch verzichten; außerdem hatte sie bereits ab 14. November zahlreiche neue Grenzübergangsstellen in Berlin und an der innerdeutschen Grenze geöffnet. Schalck übergab ferner den Entwurf für ein »Verständigungsprotokoll«, in dem Krenz und der Bundeskanzler neben der Regelung für Reiseverkehr und Tourismus die Aufnahme oder Fortsetzung von Gesprächen zu einer Vielzahl von Themen, insbesondere über den Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen einschließlich der Bildung einer gemischten Wirtschaftskommission, vereinbaren sollten.

Zentrales Anliegen war aber die Regelung der Devisenprobleme. Schalck brachte in diesem Zusammenhang auch erneut die Frage eines Großkredits in Höhe von 8 Mrd. DM als Liquiditätshilfe für die DDR ins Gespräch und deutete die Möglichkeit an, daraus auch einen Teil des Reisedevisenfonds zu finanzieren. Minister Seiters betonte demgegenüber, daß ohne einen substantiellen eigenen Beitrag der DDR zu dem Fonds eine Beteiligung der Bundesrepublik nicht in Betracht komme; er machte außerdem klar, daß bei seinem Besuch am 20. November keinesfalls schon abschließende Ergebnisse erwartet werden könnten.

Seinerseits konzentrierte Seiters das Gespräch auf die Frage der politischen Reformen in der DDR, wozu Schalck ein weiteres Papier mit Erläuterungen zu dem vom Zentralkomitee der SED am 10. November beschlossenen Aktionsprogramm übergab, in dem freie Wahlen auf der Grundlage einer neuen Wahlgesetzgebung – allerdings ohne Termin – angekündigt, eine Gleichberechtigung aller gesellschaftlichen Kräfte sowie die Entwicklung des »sozialistischen Rechtsstaats« auf der Grundlage des Rechts, eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik im Sinne einer »an den Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft«, Förderung von Meinungsvielfalt und die Entflechtung von Partei und Staat in Aussicht gestellt wurden.

Auf Fragen bestätigte Schalck, daß das zentrale Problem die Verfassungsänderung und hier die in Artikel i verankerte führende Rolle der SED sei. Er meinte, daß die SED nach Neuwahlen jedenfalls ihre Macht verlieren werde. Die weitere Entwicklung werde notwendigerweise auf die Bundesrepublik Deutschland zulaufen. Allerdings müsse das sowjetische Interesse an Aufrechterhaltung der bestehenden Grenzen und Verhinderung jeglicher Ausweitung des westlichen Militärbündnisses respektiert werden. Dennoch werde schließlich ein gemeinsamer Weg möglich sein. Schalck regte an, dafür schon bald gemeinsame Fachkommissionen – für Wirtschaft, Umwelt, Wissenschaft und Technik, Gesundheit etc. – einzurichten. Damit zeichnete er recht zutreffend bereits die Bahn vor, in der die Entwicklung in den nächsten Monaten verlaufen sollte.

Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990

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