Читать книгу Gestrandet in der Unendlichkeit: Paket 15 Science Fiction Abenteuer - Conrad Shepherd - Страница 6
Finale auf Dalos Alfred Bekker
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Frederico Corlan hatte wieder einmal die Stimmen gehört,
von denen sein Verstand wußte, daß sie nicht existierten.
Aber das machte keinen Unterschied.
In unregelmäßigen Abständen waren sie einfach da, die Stimmen aus der Vergangenheit, und peinigten ihn.
Er konnte noch so sehr dagegen ankämpfen, sich noch so heftig einreden, daß all das, was ihm dann widerfuhr, keine Realität besaß...
Er konnte nicht dagegen ankommen und er wußte das stets im Voraus.
Die Diagnose hieß Ekmnesie, was die krankhafte Vorstellung bezeichnete, in einen früheren Lebensabschnitt versetzt zu sein.
Corlan hatte einen Anfall gehabt und wurde nun von einer Welle der Depression heimgesucht, die mächtig genug war, seinen Geist vollständig zu lähmen. Jene düstere, abgrundschwarze Welle Welle war gekommen, als die Stimmen aus der Vergangenheit verstummt waren, und hatte ihn mit sich fortgerissen; dorthin, wo es keinen festen Grund mehr gab.
Corlan trieb in der Schwärze und Düsternis seiner eigenen Gedanken dahin. Apathie und Resignation breiteten sich in ihm aus.
Seine innere Verfassung war ihm einerseits unangenehm, andererseits gefiel er sich auf selbstquälerische Art und Weise in ihr. Corlan war ein Mann voller Widersprüche, sein Charakter glich einem einzigen Paradoxon. Seine Psyche war ein zerrissenes Hemd, das ihm in Fetzen vom Leib hing - ebenso zerrissen wie das Realitätsgefüge des Universums...
Es gab in ihm mehr Ungereimtheiten, als ein gewöhnlicher Mensch ausgehalten hätte - aber es hätte auch kaum jemand Corlan ernsthaft als einen gewöhnlichen Menschen bezeichnet. Vielleicht war er als ein solcher geboren worden, aber das war lange her. Jetzt war er zweifellos verschroben und ein wenig irrsinnig.
Und genial.
Die Grenze zwischen Genie und Irrsinn war fließend, aber in den letzten Jahren hatte Corlan sich zweifelsohne öfter auf der Seite des Irrsinns aufgehalten.
In gewissem Sinne war Corlan für diesen Irrsinn sogar selbst verantwortlich oder hatte doch zumindest seine Entstehung sehr begünstigt. Man hatte ihn eindringlich vor den Selbstversuchen gewarnt, bei denen er den Inhalt von Datenspeichern direkt in das menschliche Gehirn transferierte. Man hatte ihm zu erklären versucht, daß anschließend unbedingt eine teilweise Löschung dieser Daten erfolgen müsse, wollte er nicht in einer Art Informationsflut ertrinken.
Zwischen dem menschlichen Gehirn und einem elektronischen Datenspeicher bestand, was die Speicherkapazität anging, eben ein erheblicher Unterschied!
Doch Corlan hatte diese Wahrnungen in den Wind geschlagen. Er hatte nach Erkenntnis gesucht und danach getrachtet, sein Gehirn bis zum Rand mit Wissen vollzustopfen.
Immer wieder hatte er sich an die Datenspeicher anschließen und den Faktenfluß durch sein Gehirn rieseln lassen. Man hatte ihm gesagt, daß Wahnsinn und Realitätsverfall die Folgen sein konnten.
Aber er hatte es nicht glauben wollen.
Er hatte das angehäufte Wissen um keinen Preis verlieren wollen, denn er betrachtete es als seinen kostbarsten Besitz.
Doch inzwischen sah Corlan deutlich die Zeichen der Dämmerung, die sich wie grauer Spinnweben über seinen Geist legte.
Jahrzehntelang war es ihm immer wieder gelungen, die Tatsache seines zunehmenden Wirklichkeitsverlustes aus dem Bewußtsein zu drängen.
Mittlerweile war das unmöglich geworden.
Die Zeichen des Wahnsinns waren zu deutlich, um übersehen werden zu können.
Corlan fuhr sich mit der zierlich wirkenden Hand über die müden Augen, um sie vor der Grelle des diffusen Lichts zu schützen, das in dem großen, weißwandigen und luxuriös ausgestatten Raum, bedingt durch das einfallende Tageslicht, herrschte.
Alles schien umsonst gewesen zu sein.
Sein Leben, dessen größerer Teil jetzt hinter ihm lag, schien sinnlos gelebt. Mehr und mehr begann sich ihm die Aussichtslosigkeit zu offenbahren, jenes Ziel doch noch zu erreichen, daß er sich selbst gesteckt hatte.
Um die Mundwinkel legte sich ein leicht zynischer Zug, während er die Hand weiterhin über den Augen ließ. Seine Suche und seine umfangreichen Studien hatten immer nur einem Ziel gegolten: dem Erkennen der absoluten Realität.
Es schien wie der grausame Witz eines aus den Fugen geratenen, zynischen Universums, welches kalt und im Grunde verständnislos auf das Leben herabblickte, daß gerade jemand, der sich so lange um das Erkennen der objektiven Wirklichkeit bemüht hatte, nun in absehbarer Zeit in geistiger Umnachtung und völliger Bezugslosigkeit zur Realität enden würde.
Corlans Gesicht entspannte sich ein wenig und endlich nahm er die Hand von den Augen.
Er erhob sich zögernd und bewegte sich anschließend langsam auf das große Fenster zu, durch das das Tageslicht einfiel.
Corlan bewohnte ein Luxusappartment in einem der riesigen Wohntürme von Athen auf Alpha Centauri 2. Von hier oben aus hatte man einen herrlichen Panoramablick über das Gewimmel dieser galaktischen Metropole und den nahegelegenen Parashan- See.
Die Stadt wirkte auf Corlan wie ein Ameisenhaufen: Eine Anhäufung der unterschiedlichsten geometrischen Formen, zwischen denen sich eine Vielzahl von Lebewesen und Maschinen bewegten.
Corlan verließ das Apartment nur sehr selten.
Die Menschen interessierten ihn schon seit Jahren nicht mehr. Von hier oben aus sah er auf ihre kleinen alltäglichen Tragödien herab, wie es nach den Vorstellungen eines altirdischen Mythos vielleicht die Götter von ihrem hohen, erhabenen Olymp getan hatten...
Alles, was er brauchte, hatte er hier oben. Der HausComputer sorgte dafür, daß er mit dem Lebensnotwendigen versorgt wurde. Holovision und 3-D-Video waren seine Fenster zum Universum. Sein Sprechterminal verband ihn, sofern ihm der Wunsch danach war, mit den Datenbanken der halben Galaxis.
Frederico Corlan brauchte nichts und niemanden außerhalb seiner eigenen vier Wände. Er erinnerte sich noch gut an den vorhergehenden Besitzer des Apartments: einen ausgesprochen hageren Mann mit schulterlangen, strähnigen grauen Haaren und hervorstehenden Wangenknochen.
Corlan hatte ihn nach dem Grund für die Veräußerung des Apartments gefragt und jener Mann hatte ihm geantwortet, er wolle sich sein Gedächtnis (mit Ausnahme eines gewissen Elementarwissens) löschen lassen. "Nach der Methode von Ruel und McCormick", hatte der Mann noch hinzugesetzt. "Sie haben bestimmt schon davon gehört! Man sendet jetzt viele Werbespots dafür!"
Corlan hatte davon gehört, wenn auch nur flüchtig. Das Löschen war damals der letzte Schrei gewesen.
"Aber sind Sie sich denn auch wirklich im klaren darüber, was Sie da tun wollen?" hatte Corlan bestürzt ausgerufen. "Sie werfen Ihr Wissen, Ihr Selbst, Ihre Persönlichkeit einfach weg!"
Jener Mann hatte daraufhin nur milde gelächelt und gelassen erklärt: "Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, was das bedeutet. Wissen Sie, ich habe soviel gesehen und erlebt, daß das Leben für mich kein Abenteuer mehr bedeutet. Alles ist fade geworden, alles ist bekannt, es gibt nichts, was man noch ausprobieren könnte... Aber wenn ich jetzt vergesse, dann wird alles wieder neu sein - und unvermutet. Es wird wieder prickeln, ich werde wieder spüren, daß ich lebe und atme!"
"Aber dieses Apartment..." Corlan hatte gezögert, in seinem Gesicht war Unverständnis zu lesen gewesen. "Glauben Sie nicht, daß Sie es auch nach dem Vergessen noch brauchen könnten?"
"Nein!" Er hatte entschieden den Kopf geschüttelt. "Nein, auf keinen Fall. Ich werde zwangsläufig zu einer ganz anderen Person werden. Und diese Person wird nach einer anderen Wohnung verlangen, nicht nach dieser hier."
Seitdem waren nun schon Jahre vergangen und Corlan verstand diesen Mann noch immer nicht und würde es möglicherweise nie.
Ein frischer Luftzug wehte Corlans Haare durcheinander, als er das Fenster öffnete und sich hinauslehnte.
Der Anblick der geometrischen Formen der Wohn- und Geschäftshäuser von Athen - kleine Städte innerhalb der Metropole - übte einen beruhigenden Einfluß auf ihn aus, den er gerade jetzt auch bitter nötig hatte.
Jedesmal nach einem überstandenen Anfall wurde Corlan (nach anfänglicher Lethargie) von für ihn geradezu unnatürlicher Unruhe und Hektik ergriffen, die ihn ziellos umherirren und manchmal Stunden, oft aber tagelang nicht zur Ruhe kommen ließ.
Er fühlte eine Leere in sich, die verglichen mit dem Chaos, das während und kurz nach dem Anfall in ihm geherrscht hatte, angenehm war.
Die Kühle von draußen erfrischte ihn und er spuckte aus dem Fenster. Der Tropfen fiel hinab, dem urbanen Ameisenhaufen entgegen.
Erst jetzt bemerkte Corlan, wie anstrengend der letzte Anfall gewesen war. Er fühlte sich ausgelaugt und müde. Und doch war da auch der Drang, herumzulaufen, sinn- und ziellos durch das Apartment zu hetzen.
Es war ein seltsames erlebinis, so ein Anfall. Die verschiedenen zeitlichen Realitätsebenen vermischten sich, in der Vergangenheit Erlebtes vermengte sich auf oft groteske Art und Weise mit dem Augenblick und es war einfach unmöglich, die Dinge auseinander zu halten.
Corlan wandte sich vom Fenster ab und betätigte einen Knopf an der Wand, woraufhin sich eine Klappe öffnete. Ein kleines, rotes Dragée kam zum Vorschein; ein den Kreislauf stärkendes Mittel, das sich in solchen Momenten vielfach bewährt hatte.
Corlan nahm das geschmacklose Dragée, schluckte es hinunter und fühlte sich bereits wenige Augenblicke später besser und stärker.
Seine Gedanken wurden wieder klarer und geordneter, die Schwäche wich langsam aus seinen Gliedern.
Corlan bewohnte dieses Apartment schon mehrere Jahre lang allein; seit damals, als Margreta gegangen war.
Oder er sie hinausgeworfen hatte.
Er konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, wie das tatsächlich gewesen war. Im Übrigen war das in seinen Augen auch völlig ohne Bedeutung.
Es war eine dieser kleinen, unbedeutenden tragödien gewesen, die er so sehr verachtete, die ihn im Grunde nicht interessierten, nicht einmal dann, wenn er eine Hauptrolle darin spielte.
Das Apartment hielt sich automatisch und computergesteuert in Ordnung und so hatte Corlan viel Zeit (und doch zu wenig, wie er meinte), um über das Wesen der Realität nachzudenken, über Möglichkeiten, auf Erkenntnis- und Wahrnehmungsebenen von höherer Objektivität zu gelangen.
Schon vor langer Zeit war die Beeinflußbarkeit menschlichen Denkens und Wahrnehmens durch die Sprache erkannt worden. Eine Sprache bedeutete weit mehr, als nur eine Form der Verständigung, die eine möglichst schnelle und reibungslose Kommunikation von einer Intelligenz zur anderen ermöglichte.Siewar zugleich auch immer Denksystem und Wahrnehmungsfilter. Es gab Dinge, die in gewissen Sprachen einfach nicht formuliert und damit auch nicht gedacht werden konnten.
Corlan beherrschte 47 verschiedene Sprachen, sein Spezialgebiet waren altterranische und von Nicht-Humanoiden benutzte Idiome. (Letztere natürlich nur in dem Rahmen, wie sie der menschliche Kehlkopf nachvollziehen konnte.) Das Ergebnis seiner Sprachwissenschaftlichen Studien war schließlich die Entwicklung von OSPA gewesen, einer Kunstsprache, die eigens zum Zweck objektiverer Wahrnehmung und größerer Differenzierung geschaffen war.
Mit der Zeit war OSPA zur Sprache seines Denkens geworden, was den Haken hatte, daß niemand sonst im gesamten Universum diese Sprache beherrschte.
Aber das war der Preis, den er zu zahlen hatte:
Einsamkeit.
Er hatte die Beengtheit des gewöhnlichen Menschenhirns hinter sich gelassen und war auf eine Stufe objektiverer Wahrnehmung vorgedrungen.
Aber allein.
Kein Mensch, kein Humanoide, kein intelligentes Lebewesen - das wußte er insgeheim - würde ihm dahin folgen.
Seine Forschungsergebnisse und OSPA waren für jedermann frei zugänglich. Sie schimmelten in den Datenbanken der Universität von Athen, Alpha Centauri, vor sich hin, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Den Menschen schien ihre einseitige, unvollkommene Wahrnehmung völlig zu genügen!
Unterdessen war Corlan auch der Rahmen, den OSPA seinem Denken setzte, zu eng geworden. Er spürte OSPAs Grenzen von Tag zu Tag deutlicher, ebenso wie die Grenzen seines Gehirns...
Etwas konfus und unvermittelt eilte er jetzt durch den großen, weißwandigen Raum. Immer wieder schaute er sich abrupt um, als erwartete er, daß unvermutet hinter seinem Rücken jemand auftauchen könnte.
An einer der Wände waren Musikinstrumente aufgehängt. Uralte Instrumente zumeist, die er für teures Geld privaten Antiqitätenhändlern abgekauft hatte. Er konnte keines von ihnen spielen und verstand überhaupt so gut wie gar nichts von Musik - hörte sie im übrigen auch nicht, da er sie mehr als Krach, denn als Kunst empfand.
Aber er liebte diese Instrumente vom Optischen her und schätzte die Atmosphäre, die sie verbreiteten.
Die Atmosphäre von Kultur.
Er kam vor einer Harfe, die er in Neu Paris auf Virnoy gekauft hatte, für einen Augenblick zur Ruhe und gestattete sich ein paar sentimentale Gedanken Margreta betreffend.
Habe ich sie nun fortgeschickt oder ist sie aus freien Stücken gegangen?
Er wußte es tatsächlich nicht mehr.
Wie immer es auch gewesen sein mag, ich habe mir nichts vorzuwerfen!
Er hatte sich das schon tausendmal gesagt.
Das unterschwellig vorhandene Schuldgefühl Margreta gegenüber war deshalb jedoch keineswegs gewichen.
Corlan zupfte an den verstimmten Saiten der virnoyanischen Harfe. Die klirrenden Dissonanzen, die er damit erzeugte, verscheuchten seine Gedanken rasch wieder von jenem gefährlichen Terrain, auf dem sie sich zuletzt befunden hatten.
Und sie ließen sich gerne vertreiben. *
Später besuchte ihn Robert Mbanga, ein Schwarzer, der sich seine Haare blond gefärbt hatte. Mbanga war einer der wenigen Menschen, mit denen Corlan überhaupt noch Kontakt hatte. Er kam hin und wieder vorbei, vorgeblich, weil er sich ür Corlans Gedanken interessierte und mit ihm tiefschürfende Diskussionen über Realität und Universum zu führen liebte; in Wirklichkeit allerdings, weil er glaubte, daß der wunderliche Eigenbrödler jemanden brauchte, der ab und zu nach ihm sah.
Mbangas Qualitäten lagen weit weniger auf dem Gebiet der Rhetorik und des Philosophierens, als vielmehr beim Zuhören, wodurch er in Corlans Augen das Bild eines undogmatischen, aufgeschlossenen Mannes abgab - auch wenn der Schwarze, wie Corlan hin und wieder anmerkte, nicht in der Lage war, seinen Gedanken in allem zu folgen.
Das lag schon daran, daß Mbanga nicht in OSPA zu denken im Stande war, sondern nur das normale, unzulängliche Interkosmo zur Verfügung hatte.
Mbanga nahm derartige Äußerungen der Geringschätzung für gewöhnlich gelassen hin, ohne weiter darauf einzugehen - wußte er doch, daß Corlan soetwas nie persönlich meinte.
Corlan bot seinem Gast einen pneumatischen Sessel an.
"Was führt dich zu mir?" fragte er, nachdem er sich gesetzt hatte.
"Kein besonderer Grund, Frederico."
Der wahre Grund war, daß Robert Mbanga sich langweilte und sich von Corlans Gesellschaft etwas Unterhaltung und Abwechselung versprach.
"Kein besonderer Grund?" argwöhnte Corlan und ließ dann ein etwas gezwungen wirkendes Lächeln über seine Lippen fahren. "Mein lieber Robert, es geschieht nichts ohne Grund. Gar nichts! Im ganzen Universum gibt es nicht ein Molekül, daß sich bewegt, ohne dafür einen ganz eindeutig definierbaren Grund zu haben. Und du hast die Dreistigkeit, hier aufzutauchen und zu behaupten, keinen Grund dafür zu haben!" Corlan gestikulierte wild mit den Händen und sein Gesicht verzerrte sich beim Sprechen zu einer grotesken Maske. "Wenn jemand behauptet, es gäbe keinen Grund für eine bestimmte, von ihm begangene Handlung, dann kann das zweierlei bedeuten: Erstens besteht die Möglichkeit, daß er sich des Grundes nicht bewußt ist und zweitens kann es sein, daß der Betreffende den Grund zwar kennt, ihn aber nicht verraten möchte. Ich frage dich nun, was in diesem Fall vorliegt?"
Eine kurze Pause des Schweigens folgte, dann entschuldigte Corlan sich. "Ich glaube, ich bin kein besonders guter Gastgeber, was, Robert?"
Mbangas einzige Reaktion war ein Hochziehen der Augenbrauen.
"Möchtest du etwas trinken?"
Mbanga nickte.
"Gerne."
"Wie immer?"
"Wie immer."
Corlan gab einen mündlichen Befehl an den HausComputer und nur wenige Sekunden später ließ diese durch ein Antigravfeld Getränke heranschweben.
Mbanga gab einen Laut der Anerkennung von sich.
Corlan setzte sich jetzt ebenfalls in einen Pneumosessel und sah zu, wie Mbanga sein Glas zum Mund führte.
Es herrschte eine leicht angespannte Stille.
Corlan musterte seinen Gast aufmerksam, konnte aber in dem gleichmütigen Gesicht des anderen nichts lesen.
"Robert, ich stecke in einer Sackgasse..."
"Wenn du Hilfe brauchst..."
"Nein, ich meine das nicht auf die persönliche Ebene bezogen, sondern rein wissenschaftlich. Ich habe den Eindruck, als wolle sich die Natur der Realität einfach nicht enträtseln lassen. Alles, was ich bisher unternommen habe, hat mich nicht sehr viel weitergebracht. Kleine Schritte, nur Tropfen auf den heißen Stein. Nicht mehr."
"Ich mache mir Sorgen um dich, Frederico!" gestand Mbanga.
"Unsere Wahrnehmung der Realität bleibt subjektiv", erklärte Corlan, ohne auf den Einwurf seines Gastes einzugehen. "Es gibt im menschlichen Gehirn einen Kurzzeit- und einen Langzeit-Gedächtnisspeicher. Informationen, die das Gehirn erreichen, kommen zunächst in den Kurzzeitspeicher, bevor dann ein ausgewählter Teil im Langzeitspeicher abgelegt wird. Aber vor diesen beiden Speichern liegt das, was man als sensorischen Speicher bezeichnet, eine Instanz, deren einzige Funktion die Auswahl von Informationen ist. Nur ein kleiner Teil dessen, was unsere Sinne wahrnehmen, gelangt also tatsächlich bis zum Gehirn!" Corlan interessierte es im Moment überhaupt nicht, ob ihm sein Gast auch zuhörte. Er war in seiner Materie, er war gedanklich mitten drin in dem, was sein Leben ausmachte... "Die Auswahlkriterien, die innerhalb des sensorischen Speichers zur Geltung kommen, sind bei jedem Individuum verschieden. Wenn wir beide also den selben Gegenstand ansehen - etwa die virnoyanische Harfe dort an der Wand - so sehen wir beide doch jeder für sich etwas anderes!"Corlan hielt inne, nahm einen Schluck von seinem Getränk und holte tief Luft.
Mbanga dachte, daß der Moment gekommen war, auch einmal etwas zu sagen, doch noch ehe ein Wort über seine Lippen gekommen war, fuhr Corlan fort.
"Es gibt Untersuchungen an Blinden, die von Geburt an nichts sehen konnten und erst im Erwachsenenalter durch eine Operation das Augenlicht gewannen. Sie sahen nichts. Licht und eine Flut optischer Eindrücke stürmte auf sie ein, ja, aber sie sahen nichts, weil sie den optischen Eindrücken keine entsprechenden Begriffe zuordnen konnten..." er machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. "Faszinierend, nicht wahr? Diese Menschen mußten das Sehen erst lernen!"
"Frederico..."
Um die objektive Wirklichkeit wahrzunehmen, müßten wir sämtliche Wahrnehmungen aller Wesen im Universum auf einmal aufnehmen können, denn wenn es soetwas wie eine objektive Realität gibt, dann muß sie doch die Summe aller subjektiven Realitäten sein!"
"Ich sagte, ich mache mir Sorgen um dich!" wiederholte Mbanga jetzt sein Anliegen.
Corlan hatte ihm jetzt zum ersten Mal wirklich zugehört. Er wirkte ein wenig verblüfft, vielleicht sogar erschrocken.
Er runzelte die Stirn.
"Was?"
Ein völlig verkrampftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, verschwand jedoch sofort wieder.
"Du machst dir Sorgen? Um mich?"
"Ja. Schon seit längerem!"
"Aber - warum?"
Corlan hatte Mbanga seine Anfälle sorgsam verschwiegen.
Ist es am Ende gar schon so schlimm mit mir, daß es jeder merkt, der sich in meiner Nähe aufhält?
"Du solltest mal wieder unter Menschen gehen, Frederico. Du isolierst dich zu sehr. Langsam aber sicher wirst du hier verrückt."
"Ich suche nach Erkenntnis!"
"Und? Was hast du in den letzten Jahren an erkenntnis gewonnen?"
Corlan wollte gerade ansetzen, da überlegte er es sich anders.
Mbanga hatte Recht.
Es war keine nennenswerte Erkenntnis mehr hinzugekommen, er drehte sich im Kreis.
"Was interessieren mich die Menschen?" brummte er.
"Sie sollten dich interessierenb, Frederico! Du bist einer von ihnen!"
"Die Menschen sind dumm, Robert. Sie verstehen nichts. Auch du nicht."
Und er dachte an Margreta, die ebenfalls dumm gewesen war und nichts verstanden hatte. "Außerdem..." Corlans Stimme bekam einen leicht aggressiven Unterton. "Was gibt dir das Recht, dich in meine Angelegenheiten zu mischen?"
"Nichts", erwiderte der Schwarze. "Ich sage dir das als dein Freund, Frederico, nicht als jemand, der sich um jeden Preis in deine Angelegenheiten drängen will!"
Freund! daxhte Corlan und zuckte unwillkürlich zusammen.
Mbanga war möglicherweise der einzige Freund, den er noch besaß, der einzige Mensch, den es kümmerte, was mit ihm war...
Sie tauschten einen Blick, bei dem Corlan hoffte, durch seine Augen nicht zuviel über seine innere Verfassung zu verraten.
Und dann erinnerte sich an seine Zeit auf der Kolonialwelt Virnoy, wo er einen Lehrstuhl an der Universität von Neu Paris gehabt hatte. Er war nicht lange in Neu Paris auf Virnoy geblieben und er hatte auf diese Kolonialwelt immer verächtlich herabgesehen.
Virnoy, das war ein hinterwäldlerischer Provinzplanet, zu weit abgelegen von den Zentren des Imperiums.
Niemand, der die Möglichkeit hatte wegzuziehen blieb dort.
Aber jetzt, in der Rückerinnerung konnte Corlan kaum verhehlen, einen gewissen Aspekt seines dortigen Aufenthalts als äußerst angenehm empfunden zu haben: Für seine Studenten war er jemand gewesen, hatte etwas für sie bedeutet. Er war ihnen haushoch überlegen gewesen, was die Fülle seines Wissens anging und irgendwie war es ein wunderbares Gefühl, dafür bewundert zu werden und im Mittelpunkt zu stehen.
Und was war jetzt?
Jetzt bedeutete er für niemanden mehr etwas. Selbst Mbangas Interesse an ihm war mit anderen Motiven durchsetzt: Er brauchte Abwechselung, weil er sich chronisch langweilte.Und wer bot schon besseres Entertainment als ein leibhaftiger Irrer?
"Ich brauche keinen Menschen!" rief Corlan unvermittelt Mbanga entgegen. "Ich brauche niemanden!"
"Davon solltest du nicht zu sehr überzeugt sein, Frederico", erwiderte der Schwarze ruhig.
"Warum bist du hier, Robert? Um mich zu maßregeln? Um mir vorzuschreiben, wie ich zu leben habe?"
"Ich möchte dir helfen, das ist alles. Allerdings machst du es mir nicht gerade leicht."
Corlans Züge waren hart und verkrampft.
Mit der Zunge fuhr er sich über die Unterlippe. Er hatte schon immer einen gewissen Hang zum Einzelgängertum gehabt.
Dabei fand der räumliche Abstand, den er zwischen sich und seine Mitmenschen legte, eine Entsprechung auf geistiger Ebene: Je größer sein Wissen wurde, desto mehr verstärkte sich dieser Trend zur Einsiedelei.
er begann, sich einsam zu fühlen und zwar auf dieselbe Art undweise, auf die sich ein Sender unter Blinden einsam fühlen mag, da er das, was er sieht, mit niemandem teilen kann.
Das Wissen war in seinem Gehirn begraben wie in einer Totengruft. Es war leblos und nur für hn selbst, so schien es, von irgendeiner Bedeutung.
Er mußte mit sich selbst diskutieren, da sonst (wie er glaubte) niemand seinen intellektuellen Standard besaß.
Auch Mbanga nicht, obgleich Corlan dem Schwarzen zugestehen mußte, nicht gänzlich ungebildet zu sein.
Bei Margreta war das anders gewesen.
Sie war vollständig dumm.
Gewiß, sie hatte ihn geliebt, aber ohne ihn zu verstehen, und Liebe ohne Verständnis erreicht oft das Gegenteil von dem, was sie eigentlich erreichen will. Margretas Liebe war ohne Verständnis gewesen und hatte ihr Gegenteil erreicht - und deshalb war sie jetzt nicht mehr hier bei ihm.
Niemand war in der Lage, Corlan zu verstehen, und diese Tatsache begründete seine Einseimkeit.
Aber vielleicht war es auch genau anders herum und Corlan war der Einzige, der nichts verstand, der Blinde unter den Sehenden, der niemals begreifen würde, was das Leben tatsächlich ausmachte.
Doch Corlan verstand es, solche Gedanken sorgsam zu verdrängen.
Trotz allen Bemühens um Objektivität.
Trotz OSPA.
Die Objektivität behielt ihre Grenzen dort, wo die persönlichen Wahrnehmungsfilter begannen.
"Ich brauche deine Hilfe einfach nicht, Robert! Ich brauche sie nicht!" schrie er und ballte seine Linke zur Faust zusammen.
Gautama Buddha hatte seine Erleuchtung in der Isolation gehabt und Moses war - allein! - auf einen hohen Berg gestiegen.
Es gab Dutzende von Beispielen, aber der Unterschied war, daß sie alle irgendwann zu den Menschen zurückgekehrt waren.Und wann würde Corlan zurückkehren?
"Ich bin kein Fachmann für soetwas", erklärte Mbanga dann. "Ich weiß nur eins, mit dir stimmt etwas nicht. Es gibt heut'zu Tage doch sehr preiswerte und gute Kofferpsychiater zu kaufen. Wäre das nichts für dich, Frederico?"
Corlan erwiderte nichts und wieder war der Raum von unbehaglicher Stille erfüllt. Mbanga hatte noch einiges hinzufügen wollen, ließ es aber. Er sah ein, daß sein Versuch, Corlan zu erreichen, gescheitert war. Zu tief war er in seinen Irrsinn verstrickt. *
Am nächsten Tag meldete sich per Visiphon ein merkwürdiger Mann bei Corlan.
Er nannte sich Gaetano Mordron und Corlan hielt ihn seines extravaganten Aussehens wegen zunächst für den Vertreter irgendeiner Subkultur oder extremen Sekte, die die Bürger von Alpha Centauri mit ihren aufdringlichen Bekehrungsversuchen zu maltraitieren pflegten. Mordron hatte eine Glatze, dafür aber kräftige, möglicherweise sogar künstlich verstärkte, Augenbrauen. Seine Kleidung - soweit sie auf dem Visiphonschirm sichtbar war - war völlig schwarz.Der Ausschnitt seines Hemdes ließ den Blick auf eine Tätowierung auf der Brust frei. Auf dem Arm hielt er einen kleinen Pudel, der nicht gerade lebhaft wirkte.
"Ich trete keiner Sekte bei und kaufe auch nichts!" brummte Corlan desinteressiert, während er gleichzeitig das laufende Holovisionsprogramm verfolgte.
Aber Corlan irrte sich.
"Ich will Ihnen nichts verkaufen - und Sie auch zu nichts bekehren, woran Sie ohnehin nicht glauben würden..."
Corlan zog die Augenbrauen in die Höhe und warf einen kurzen Blick in Mordrons Gesicht, das völlig emotionslos zu sein schien.
"Was wollen Sie von mir? Machen Sie es bitte kurz, denn ich habe eine Menge zu tun!"
Mordron verzog das Gesicht.
"Ich denke nicht, daß Sie die Holovisionssendung auf ihrem Projektor meinen, bei der es sich ohnehin um eine Wiederholung handelt...."
Corlan runzelte die Stirn.
Als er sich dem Anrufer auf dem Bildschirm zuwandte, war ihm der Ärger deutlich anzusehen.
"Sagen Sie, was Sie von mir wollen - oder lassen Sie mich in Ruhe! Ich werde Ihre Nummer vom Computer in die Liste derjenigen aufnehmen lassen, von denen ich grundsätzlich keine Gespräche mehr annehme!"
"Suchen Sie noch immer nach der objektiven Realität?"
Corlan schluckte, dann kniff er ein wenig die Augen zusammen, um sich besser auf Mordrons Gesicht konzentrieren zu können, in dem er verzweifelt zu lesen suchte.
Was soll das? fragte er sich.
War da nicht eine Spur von Sarkasmus in der Stimme des anderen gewesen? Und vielleicht sogar noch eine Nuance von etwas anderem -
Verachtung vielleicht.
Corlan war zutiefst verwirrt.
Sein Umgang mit Menschen war sehr reduziert und ihm fehlte wohl einfach die Erfahrung, um das Verhalten seines Gegenübers auf dem Bildschirm richtig einordnen zu können.
"Ja", sagte er schließlich und er selbst fand, daß seine Stimme irgendwie schwach klang, als er das von sich gab. "Ich betreibe weiterhin Studien auf diesem Gebiet..."
"in den letzten Jahren haben Sie nichts mehr dazu veröffentlicht, Corlan", stellte Mordron daraufhin kühl fest.
Corlan schluckte.
Wenn man es genau nahm, dann hatte er in den letzten Jahren überhaupt nichts mehr veröffentlicht.
Die Zeit war an ihm im Eiltempo vorbeigegangen, ohne daß er auch nur einen Schritt weitergekommen wäre. Er hatte sich mehr mit der Verzweifelung beschäftigt, die ihn mittlerweile angesichts der Größe der Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, befallen hatte, als mit der Aufgabe an sich.
"Sie haben Recht!" murmelte Corlan dann leise, wobei er dachte, daß es erstaunlich genug war, daß sich jemand so intensiv mit seiner Person und seinem Schaffen beschäftigt hatte. "Ich sitze fest!" Mordron nickte auf eine Art und weise, die Corlan fast vermuten ließ, daß er ermessen konnte, was das bedeutete.
"Ich kann Ihnen das anbieten, wonach Sie am meisten suchen, Corlan!" erklärte Mordron dann, während er mit einer Hand seinen Pudel hinter den Ohren kraulte.
Corlan entschied, daß er die großspurige Art des anderen nicht mochte, war aber dennoch neugierig genug, ihm weiter zuzuhören.
"Ich biete Ihnen die objektive Realität! Nicht mehr und nicht weniger!"
Corlan war unfähig, etwas zu sagen.
Er saß nur da und starrte Mordron an.
Vielleicht war der seltsame Glatzkopf einfach nur ein Hochstapler, der sich wichtig machen wollte. Oder doch der Verkünder irgendeiner Sekte, denn schließlich war es ja auch für solche Leute kennzeichnend, daß sie die absolute Wahrheit gefunden zu haben glaubten.
**
Dalos war eine Provinzwelt des Imperiums, daher gab es keine Direktverbindung von der Erde aus.
Sie flogen mit einem Privatraumer des Wulin-Konzerns, der im übrigen auch um einiges komfortabler war, als die gewöhnlichen Linienschiffe.
"Na, wie fühlt man sich, wenn man der Erfüllung seines Traums so nahe ist?" fragte Mordron, während er sich mit großspuriger Geste einen Drink einschenkte.
Er blickte zu Corlan, der in sich gekehrt in einem Sessel saß und vor sich hin brütete.
"Auch was zu trinken?"
"Nein."
Er zuckte mit den Schultern.
"Wie Sie wollen, Corlan. Aber Sie haben mir noch nicht geantwortet!"
Corlan blickte auf, er wirkte müde. Unter den Augen hatten sich Ringe gebildet.
"Abwarten", murmelte er. "Wer weiß, was an dem dran ist, was Sie mir versprochen haben!" Er atmete kurz durch, es klang fast wie ein Seufzen, das jemand ausstößt, auf dem eine große Last liegt.
Mordron kratzte sich an seinem kahlgeschorenen Kopf.
Er ist verrückt! ging es ihm durch den Kopf. Aber wer, außer einem Verrückten, würde sich für ein solches Projekt zur Verfügung stellen?
Dann blickte er sich suchend um.
"Verdammt, haben Sie meinen Pudel gesehen?"
"Nein."
"Hoffentlich pinkelt er uns nicht das Raumschiff voll!"
*
Dalos war zu 99% mit Ozeanen bedeckt, die jedoch einen derart hohen Anteil an giftigen Salzen enthielten, daß eine Aufbereitung als Export-Trinkwasser nicht lohnte.
Die Atmosphäre war jedoch für Humanoide atembar.
Etwa hunderttausend Menschen lebten auf Dalos, die meisten davon in Neu Lagos, der einzigen Stadt dieses Planeten.
Aber Mordron wies den Kapitän des Wulin-Raumers an, nicht im dortigen Raumhafen, sondern auf Moreau, einer kleinen Insel auf der südlichen Halbkugel. Hier befand sich ein Forschungscamp des Wulin-Konzerns.
"Moreau...", sinnierte Corlan. "Es gibt da einen altterranischen Schriftsteller namens H.G.Wells, der einen Roman mit dem Titel Die Insel des Dr.Moreau geschrieben hat." Er zuckte mit den Schultern. "Ist seit Jahrhunderten nicht mehr aufgelegt worden..."
Mordron lachte.
"Diese Insel ist nach einem anderen Moreau benannt", erklärte er. "Luc-Baptiste Moreau, ein Vogelkundler, der lange hier gelebt und geforscht hat."
Corlan nickte nachdenklich.
"Dachte ich es mir doch..."
*
Das Forschungscamp auf Moreau erschien Corlan verhältnismäßig groß.
Man hatte eigens eine Landefläche für Raumschiffe und Gleiter planiert und Anlegestellen für Boote gebaut.
Fertighäuser waren schnell und schmucklos aufgestellt worden, um Platz für Laboratorien und Wohnraum zu bieten.
Corlan hatte Athen auf Alpha Centauri 2 verlassen, ohne sich von irgendjemandem verabschiedet zu haben.
Er hatte einfach nicht daran gedacht, aber jetzt, da er er die dünne, würzige telosianische Luft einsog, fiel es ihm wieder ein. Nichteinmal Robert Mbanga wußte, wo er sich jetzt befand.
Vielleicht hätte ich ihm bescheid geben müssen! dachte er. Vielleicht wäre es gut gewesen, die Entscheidung, Mordron nach Dalos zu folgen, mit jemandem zu besprechen, der das Ganze aus größerer Distanz sieht!
Aber rasch fegte Corlan diese Gedanken wieder bei Seite. Er durfte sich jetzt keine Zweifel gestatten.
Nach einer Unmenge von Kontrollen und Durchsuchungen wurde Corlan von Mordron in ein Büro geführt, das in einem der Fertigbauten untergebracht war.
Ein bärtiger Schwarzer wandte sich Vom Sprechterminal eines Computers ab und nickte zur Begrüßung.
"Dies ist Dr. Narian Dumandy, der wissenschaftliche Leiter dieses Projekts", wurde er von Mordron vorgestellt.
Dumandy reichte Corlan die Hand und lächelte.
"Ihr Name ist Corlan. nicht wahr?"
"Ja."
"Hat Mordron Ihnen gesagt, worum es bei diesem Projekt geht?"
"Ich habe eine sehr vage Vorstellung, nicht mehr."
Dumandy wechselte einen kurzen Blick mit Mordron, ein Blick, dessen Botschaft Corlan nicht zu entschlüsseln vermochte.
"Man wird Sie bald vollständig informieren!" erklärte Dumandy dann.
Corlan runzelte die Stirn.
"Ich würde aber gerne schon jetzt über einige Dinge Klarheit haben!"
"Übereilen wir besser nichts, mein Lieber! Am besten, Sie sehen sich ersteinmal Ihre Unterkunft an."
Corlan spürte eine seltsame Mischung aus Erwartung und Unbehagen. Er zuckte mit den Schultern.
"Wie Sie meinen... Aber lassen Sie mich bitte nicht zu lange warten!"
"Nein, bestimmt nicht."
Mordron wollte sich bereits zur Tür wenden, aber Corlan machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen. Stattdessen blieb sein Blick auf Dr.Dumandy gerichtet.
"Darf ich Ihnen noch wenigstens eine Frage stellen?"
"Natürlich."
"Was veranlaßt den Wulin-Konzern zu diesem Forschungsprojekt? Ich meine, Sie vertreten schließlich ein Unternehmen, das auf Profit aus sein muß..."
Ein nervöses Zucken spielte um Dumandy' Augen. Corlan glaubte, Unsicherheit erkennen zu können.
"Wir... Nun... Wulin stellt jährlich einen beträchtlichen Etat für zweckfreie Forschung zur Verfügung. Über die eventuelle kommerzielle Nutzung dessen, was hier erforscht wird, mache ich mir keine Gedanken - das gehört auch nicht in mein Resort!"
Er lügt! dachte Corlan.
Er hatte keine Ahnung, wie er auf diesen Gedanken kam. Es war eine spontane Eingebung.
Später, während Mordron ihn zu seinem Quartier führte, erklärte dieser ihm: "Merken Sie sich eines, Corlan: Sehen Sie zu, daß Sie sich nicht in Sachen einmischen, die Sie nicht direkt betreffen!"
"Ich glaube, ich verstehe nicht recht!"
Mordrons Züge entspannten sich etwas
"Es wird noch vieles geben, das Sie nicht auf Anhieb verstehen werden, verlassen Sie sich drauf!" Alles, was ich jetzt von Ihnen erwarte,ist, daß Sie sich nur um die Dinge kümmern, die Sie direkt etwas angehen!"
Corlan runzelte etwas verwirrt die Stirn.
"Wenn Sie unbedingt wollen..."
"Wir haben uns also verstanden?"
Corlan gab darauf keine Antwort mehr, denn nun hatten sie den Bungalow erreicht, der ihm als Quartier dienen würde.
Die Tür öffnete sich selbsttätig und sie betraten einen Eingangsraum, an dessen Wänden die verschiedensten Musikinstrumente hingen. Manche von ihnen waren selbst Corlan unbekannt, andere kannte er dagegen aus seiner eigenen Sammlung und wußte daher um ihren Wert.
"Wir haben uns bemüht, Ihnen einen angemessenen Wohnraum zu bieten und ihn so einzurichten, wie es unseren Informationen über Ihren Geschmack entprach", stellte Mordron mit demonstrativer Untertreibung fest.
Die Instrumente verbreiteten eine Atmosphäre, die Corlan vertraut war und die er liebte.
Dann ließ Mordron ihn allein und Corlan war ihm dankbar dafür.
Ein seltsam prickelndes Gefühl stieg in ihm auf. Ein angenehmer Schauer überkam ihn bei dem Gedanken an das Kommende. Ich werde endlich Erkenntnis haben! dachte er. Ich werde die Dinge endlich nicht nur aus meiner beengten, subjektiven Perspektive heraus betrachten können!
Obejektivität. Ein Zauberwort für Corlan.
"Ich glaube, du wirst langsam verrückt!" sagte eine besorgte, selbst für eine Frau ziemlich hohe, aber trotzdem weiche Stimme hinter seinem Rücken.
Etwas überrascht, ja, vielleicht sogar erschrocken, wandte er sich um und blickte in strahlend blaue, offene Augen, die genau in der Mitte eines von hellbraunem Haar umrandeten, sehr fein geschnittenen Gesichtes placiert waren und ihn besorgt musterten. "Weißt du, was das Enzyklopädie-Programm des Computers zu dem Begriff Schizophrenie alles zu sagen hat?"
"Nein."
"Willst du es hören?"
"Hör auf damit!"
Corlan kannte diese Augen nur zu gut. Und wie oft hatte er schon diese Worte gehört!
"Ich glaube, du weißt gar nicht, wie schlimm es um dich steht, Frederico!"
"Margreta, das Problem ist, daß du nicht verstehen kannst, worum es bei dem geht, was ich tue! Du bist der Prototyp einer Ignorantin! Du akzeptierst einfach, daß alles um dich herum so funktioniert, wie es funktioniert. Die Hintergründe kümmern dich einen Dreck!"
"Und was hat es dir gebracht, dich um die Hintergründe zu kümmern - außer Wahnsinn?"
Corlan zögerte.
Dann fragte er: "Warum bist du gegangen, Margreta?"
"Du hast mich fortgeschickt."
"Habe ich das?"
"Ja."
Erneutes Schweigen erfüllte die klimatisierte Luft des Bungalows. Er hatte sie fortgeschickt, weil sie dumm war und nichts verstand. Sie hatte seinen Ansprüchen nicht genügt, aber nachdem sie fort war, hatte es von Zeit zu Zeit Augenblicke gegeben, in denen er seine Handlungsweise aus irgendwelchen sentimentalen Gründen bedauerte.
"Was willst du hier?" wollte er dann von ihr wissen. "Arbeitest du auch für den Wulin-Konzern?"
"Nein."
"Aber was..."
Und dann wußte er, daß ihn wieder einmal ein Anfall überrascht hatte. Ekmnesie, das Eintauchen in Bilder der Vergangenheit...
Vielleicht bin ich wirklich verrückt!
Margreta war nirgends zu sehen, er hatte mit sich selbst gesprochen.
*
"Hatten Sie soetwas schon des öfteren?" fragte ihn der Mann in der weißen Kombination - später, nachdem er wieder zu sich gekommen war.
Corlan musterte etwas verwirrt die Umgebung.
"Was ist geschehen?" kam es heiser aus seinem Mund. "Und wo bin ich hier?"
Er lag in einem Bett, das angenehm gepolstert war. Zu seiner Rechten stand (so vermutete er) ein Arzt. Die Gestalt zu seiner Linken war Dr. Narian Dumandy, dessen Augen Besorgnis ausdrückten.
"Dies ist Dr. Moss Joskoh", erklärte Dumandy. "Er wird Sie in Zukunft medizinisch betreuen." Joskoh war von hellerer Hautfarbe als der Projektleiter, aber das war nur zu sehen, wenn beide nebeneinander standen.
Die beiden Wissenschaftler wechselten einen Blick miteinander, den Corlan nicht mitbekam.
Schließlich erklärte Joskoh: "Sie hatten einen Kreislaufzusammenbruch!"
Corlan zog die Augenbrauen zusammen.
Langsam versuchte er, sich an das zu erinnern, was gewesen war.
"Geht es Ihnen gut?"
"Ja, Dr.Joskoh." Er atmete tief durch. "Es geht mir gut."
Corlan richtete sich auf. Ihm war ein wenig schwindelig, aber sonst schien tatsächlich alles in Ordnung.
"Wir haben ein spezielles Sensor-System in Ihrem Quartier installiert, das jede Abnormität Ihrer Stoffwechsel- und Kreislauffunktionen sofort übermittelt." In Joskohs Stimme schien eine unterschwellige Drohung mitzuschwingen.
"Haben Sie auch... Abhörgeräte installiert?" erkundigte Corlan sich schwach.
"Natürlich."
Joskoh sagte das völlig emotionslos, während in Corlans Gesicht eine deutliche Veränderung vor sich ging. Das Kinn sackte ihm nach unten und er starrte den Arzt einige Augenblicke lang fassungslos an.
"Holen Sie Mordron! Ich muß mit ihm sprechen!"
"Seien Sie doch vernünftig!" versuchte Dumandy zu beschwichtigen.
"Holen Sie Mordron!"
"Es wird Sie vielleicht interessieren, das diese umfangreichen Überwachungsmaßnahmen ihrer Person auf seine Anweisungen hin vorgenommen wurden."
"Was?"
Jetzt mischte sich Joskoh wieder in das Gespräch ein. Seine Worte waren kühl und sachlich und doch schnitten sie sich wie Messer in Corlans Seele.
"Sie leiden unter Realitätsverfall", stellte er fest. Die Worte Arztes hingen wie eine Drohung in der Luft.
Vielleicht werden sie mich nun ausmustern! dachte Corlan Doch nicht das richtige Versuchskaninchen für das Projekt!
Einen Moment lang wollte er alles schlankweg leugnen, aber dann wurde ihm klar, das das wenig Sinn hatte.
Sie wissen alles!
"Der Kreislaufkollaps war nur eine Begleiterscheinung Ihres heutigen Anfalls", fuhr Joskoh unterdessen fort. "Sie haben mit sich selbst gesprochen, Sie haben Stimmen gehört von Menschen, die nicht anwesend waren."
Corlan schluckte.
"Soll ich ihnen die Aufnahmen vorspielen?"
"Dr. Joskoh! Gehen Sie menschlich mit ihm um!" fuhr Dumandy dazwischen.Aber Joskoh schüttelte energisch den Kopf. "Er muß es sich selbst eingestehen und etwas dagegen unternehmen, sonst ist er für unser Projekt gestorben!"
Ihre Blicke hingen an Corlan, sie musterten ihn wie ein Versuchstier, dessen Reaktion man abwartet.
"Verdammt nochmal, ja!" schrie Corlan dann. "Ja!" Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. "Sie haben Recht!" Dann blitzte er Joskoh zornig an, wovon dieser sich jedoch völlig unbeeindruckt zeigte. "Sind Sie jetzt zufrieden?"
"Wir haben Medikamente, die Ihnen helfen können", sagte Joskoh, ohne auf Corlans Ausfall einzugehen. "Es handelt sich um Präperate, die ein paar unangenehme Nebenwirkungen haben. Aber für dieses Projekt ist es unerläßlich, daß Sie von solchen Störungen Ihres Realitätsempfindes frei sind!"
"Was sind das für Nebenwirkungen?"
"Sie betreffen vornehmlich Herz und Kreislauf. Die Infarktgefahr wird verzehnfacht und die Gefäßwände stark in Mitleidenschaft gezogen..."
"Aber..."
"Keine Angst, wir passen schon auf Sie auf, Corlan!" warf Dumandy rasch ein.
Und Joskoh meinte: "Sie werden das Zeug nur für kurze Zeit nehmen. Er zuckte mit den Schultern. "Überlegen Sie es sich. Wenn Sie an dem Projekt weiterhin teilnehmen wollen, führt kein weg daran vorbei!"
Corlan nickte kurz.
Dieses Projekt ist deine letzte Chance, Frederico!
Deine Allerletzte!
"Ich bin einverstanden", erklärte er dann. "Verabreichen Sie mir das Zeug!"
*
"Was ist?" fragte Mordron an Narian Dumandy gewandt. "Sind Sie soweit?"
Dumandy machte einen zweifelnden, etwas besorgten Eindruck.
Er beantwortete die Frage nicht direkt, sondern sagte nur: "Corlan wird unser erstes menschliches Versuchsobjekt sein!"
"Was ist mit Ihnen Doktor?"
Gaetano Mordron zeigte ein häßliches, vor Zynismus triefendes Lächeln. "Plötzlich moralische Skrupel?"
Dr.Dumandy sah ärgerlich auf und brummte: "Es bedeutet für Corlan ein ziemliches Risiko!"
"Das habe ich ihm gleich zu Anfang gesagt!"
"Er könnte verrückt werden!"
"Natürlich. Aber ist das unsere Angelegenheit?" Mordron kratzte sich an seinem kahlen Hinterkopf.
"Seine Persönlichkeitsstruktur könnte völlig zerstört werden", gab Dumandy zu bedenken. Seine Stimme war leise und etwas heiser und es schien so, als hätte er mehr zu sich selbst, als zu seinem Gegenüber gesprochen.
"Bekommen Sie kalte Füße, Doktor?"
"Ich... Ich will damit sagen, daß wir vielleicht doch noch nicht weit genug sind!"
"Ich denke anders darüber."
"Aber..."
"Die Kunden drängen mich!" Mordron zuckte mit den Schultern. "Die Sache muß jetzt über die Bühne."
Ja! dachte Dumandy. Ohne Rücksicht auf Verluste!
*
Ein leichtes Mißtrauen hatte sich in Corlan geregt, als Mordron ihn (seinen Pudel auf dem Arm tragend) am nächsten Morgen von seinem Quartier abholte.
Es war ein sonniger, angenehm warmer Tag und ein frischer Luftzug kam vom Meer.
"Sie werden jetzt gleich von Dr. Dumandy über die Einzelheiten des Projektes unterrichtet, Corlan!" erklärte Mordron.
Sie gingen über den staubigen Untergrund zu einem etwas größeren Gebäude. Die Tür öffnete sich selbsttätig und durch mehrere recht lange und schmucklose Korridore gelangten sie schließlich in einen Raum, der zum Großteil mit riesigen Aquarien ausgefüllt war.
Corlan sah einige größere und kleinere Fische und andere Meerestiere. Er blickte zu Narian Dumandy, der ein wenig abseits stand.
"Guten Tag, Doktor!"grüßte er den Projektleiter, worauf dieser sich ein paar Schritte näherte.
Dumandy versuchte, entspannt zu wirken, aber konnte seine Befangenheit nicht verbergen. Sein Lächeln war aufgesetzt.
"Na, wie gefällt Ihnen, was Sie sehen?" erkundigte sich Dumandy.
"Nun, manche von diesen Fischen sehen recht seltsam aus."
Dumandy nickte wohlwollend.
"Ja, das stimmt. Der Ozean von Dalos bringt eine schier unvorstellbare Vielfalt bizarrster Lebensformen hervor."
"Mordron sagte mir, Sie wollten mich über Einzelheiten des Projektes erinnern."
"Das stimmt."
"Im Vertrag steht, daß ich noch zurücktreten kann, bis ich vollständig informiert wurde!"
Dumandy wechselte mit Mordron einen ratlosen Blick und dieser bestätigte dann nickend: "So steht es im Vertrag, das ist richtig."
Unbewußt stand für Corlan jedoch fest, daß er in keinem Fall zurücktreten würde.
Die Chance war zu einmalig, sein Durst nach Erkenntnis zu groß.
"Fangen Sie an!" forderte Mordron den Projektleiter auf.
"Sie sehen dieses Aquarium hier nicht wahr?" wandte sich Dumandy daraufhin an Corlan. Eine überflüsssige Frage, aber Corlan bestätigte dennoch mit einem leichten Nicken. "Wir haben es, wie Sie sich sicher denken können, nicht zum Spaß hier aufgebaut, sondern es hat ganz konkret etwas mit unserem Projekt zu tun. Die Fische sind dabei im Grunde genommen gar nicht wichtig..." Er gab Corlan ein Zeichen mit der Hand. "Sehen Sie einmal ganz genau hin... diese galeertartige, fast durchsichtige Masse... Das ist der Kern dieses Projekts!"
Corlan sah angestrengt hin.
Es war schwierig zu erkennen und trieb scheinbar willenlos in dem grünlich-blauen Salzwasser.
"Es handelt sich bei dieser schleimigen Masse um eine überaus interessante Lebensform. Da! Sehen Sie? Da ist noch eins von den Dingern! Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Das interessante an diesen Schleimwesen - den wissenschaftlich korrekten Terminus möchte ich Ihnen ersparen - ist ihre außerordentliche, gewissermaßen empathische Fähigkeit. Sie nehmen ihre Umwelt nicht durch eigene Sinnesorgane wahr - solche sind im Übrigen auch gar nicht vorhanden - sondern durch die sie umgebenden Wesen. Sie sehen, hören, riechen durch deren Augen, Ohren und so weiter. Dieser Schleimklumpen dort sieht in diesem Augenblick wahrscheinlich auch, was Sie sehen, Corlan - durch Ihre Augen!"
"Aber..."
Dumandy sah das Erstaunen in Corlans Zügen und lächelte nachsichtig. "Diese Kreatur begreift selbstverständlich nichts. Wie das genau funktioniert, wissen wir noch nicht. Es gibt da unterschiedliche Theorien, die sich teilweise widersprechen, aber noch wenig an gesicherten Erkenntnissen."
Als Milinair sah, wie sich Corlans Gesichtszüge auf Dumandy' letzte Bemerkung hin etwas verzogen, griff er seinerseits in den Vortrag ein.
"Diese, nennen wir es einem Grundlagenforschung, ist für dieses Projekt auch gar nicht so wichtig. Wulin geht es vornehmlich darum, herauszufinden, wie diese Dinge funktionieren, nicht warum."
"Sind diese Lebewesen irgendwie..." Corlan zögerte. "...intelligent?"
"Nein, natürlich nicht - oder jedenfalls nur in dem Maße, wie... vielleicht eine Pflanze. Von eigentlicher intelligenz kann man da nicht sprechen, ebensowenig von Bewußtsein."
Dumandy zog seine Augenbrauen in die Höhe und blickte Corlan offen an, um sich seiner Aufmerksamkeit zu versichern. "Diese Wesen ernähren sich von Plankton. aber man kann sie völlig problemlos auf andere Nahrungsmittel umstellen. Sie stellen keine Individuen dar, aber auch keinen Gestalt-Organismus. Sie liegen irgendwo dazwischen. Da! Sehen Sie die beiden schleimwesen dort? Schauen Sie genau hin! Sie vereinigen sich! Es kommt vor, daß sie sich zu metergroßen Gebilden zusammenlagern, aber ebenso häufig zerteilen sie sich auch in milimeterkleine Einzelwesen - jedes für sich lebensfähig und natürlich empathisch begabt. Was sie dazu veranlaßt, sich zusammenzulagern und zu verschmelzen beziehungsweise sich zu teilen, haben wir inzwischen weitestgehend klären können. Sie reagieren damit auf bestimmte Reize. Wir vermuten rudimentäre Atavismen, die noch an frühere Entwicklungsstadien dieser Spezies erinnern. In früherer Zeit hat sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch natürliche Feinde gehabt und vielleicht ist das Zerteilen und Verschmelzen ein ehemaliger Verteidigungsmechanismus. Ach, habe ich übrigens schon erwähnt, daß diese Spezies auch kEine Fortpflanzung praktiziert?"
Corlan verneinte mit einem Kopfschütteln.
"Weder geschlechtliche Vermehrung, noch durch Zellteilung. Dafür besitzt das Plasma eine praktisch unbegrenze Lebensdauer. Es gibt von diesen Wesen nur eine bestimmte Menge, die offenbar nicht vermehrt werden kann."
Sie verließen den Aquariumsraum und gelangten in ein Labor, das auf Corlan allerdings eher den Eindruck eines Zoos machte.
Überall standen Käfige mit Versuchstieren herum, die von Robotern betreut wurden.
"Hier sind wir bei der nächsten Stufe unseres Projekts", dozierte Dumandy weiter. "Sehen Sie, wir haben Plasmawesen dazu gebracht, sich zu verkleinern und diese kleinen Teile haben wir dann in die Gehirnmassen von Tieren eingepflanzt. Zunächst stießen wir auf mannigfache Probleme und mußten viele Mißerfolge hinnehmen, aber schließlich fanden wir heraus, wie man dieses Plasma durch Bestrahlung reizen muß, damit es mit dem Gehirn des Gastkörpers eine Art Verschmelzung eingeht. Wie Sie an diesen Tieren hier sehen können und wie im übrigen zahlreiche von uns durchgeführte Reihenuntersuchungen bestätigten, schadet sie dem Gastkörper in keiner Weise. Diese Versuchstiere hier vermögen jetzt ebenfalls durch Ihre und meine Augen zu sehen, Corlan! - und natürlich durch die aller anderen Tiere hier!"
"Werden sie dadurch nicht verrückt?" sprudelte es spontan aus Corlan heraus.
"Anfangs waren sie etwas verwirrt", gab Dumandy zu. "Aber ihre Körperfunktionenen erlitten keinerlei Schaden. Wenn Sie wollen, können Sie die Protokolle nachprüfen!"
"Nicht nötig!"
"Im Übrigen haben wir Methoden entwickelt, um die 'Reichweite' der Empathiefähigkeit dieser Schleimwesen zu maximieren - durch die Versetzung in einen besonders angeregten Zustand beispielsweise, wie er bei diesen Wesen bei Zusatz bestimmter Chemikalien eintritt. Was wir jetzt mit Ihnen vorhaben, ist im Prinzip das gleiche wie bei diesen Tieren hier. Nur - Sie sind unser erstes menschliches Versuchsobjekt!"
"Sie können jetzt von Ihrem Vertrag zurücktreten!" wurde Corlan von Mordron belehrt.
Aber dieser schüttelte energisch den Kopf.
"Nein", sagte er. "Ich will es wissen! Ich will wissen, wie es ist!"
"Wenn wir mit Ihnen fertig sind, werden Sie alles wahrnehmen, was die Gesamtheit der auf diesem Planeten beheimateten individuen wahrnimmt!" erklärte Dumandy.
Das ist es! dachte Corlan. Die Addition aller subjektiven Realitäten ist die objektive Wirklichkeit!
*
Als Corlan zusammen mit Mordron wieder ins Freie trat, fiel sein Blick auf den Pudel, den der Glatzkopf auf dem Arm trug.
Es hätte mir gleich auffallen müssen! dachte Corlan.
Er wußte, wie Hunde sich normalerweise benahmen.
Dieser Pudel war still und zahm.
Seine schwarzen Augen starrten ins Leere.
"Sagen Sie, Mordron, was ist mit diesem Tier los?"
Mordron verzog den Mund.
"Nichts ist mit ihm. Sein Gehirn ist nur ein bischen ausgebrannt. Dieser Pudel war auch einmal eines unserer Versuchstiere. Ein Mißerfolg allerdings. Und jetzt ist nicht mehr viel Leben in ihm, als in einer Planze. Aber ich habe ihn in mein Herz geschlossen."
Er grinste häßlich und freudlos. "Das ist das Quentchen Sentimentalität, das ich mir leiste, Corlan!"
*
Die Anfälle blieben auf Grund der Medikamente, die ihm verordnet worden waren, aus. Jeden Morgen kam Dr.Joskoh, verabreichte ihm seine Infusionen und nahm einige andere Untersuchungen vor.
Schließlich kam nach gut einer Woche Dr.Dumandy und erklärte, daß es nun soweit wäre.
Während die Vollnarkose bereits zu wirken begann, wurde er von einem Medo-Robot in den Operationssaal gefahren.
Lange Zeit umfing ihn nur Schwärze und das vage Gefühl, das etwas mit ihm geschah.
Und als er dann erwachte, war er nicht mehr allein.
Er würde nie mehr allein in seinem Kopf sein.
Und dann explodierte alles.
*
"Haben Sie ihn gesehen?" fragte Dr. Narian Dumandy - später, in seinem Büro, als er Mordron gegenübersaß.
Er tickte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herum.
"Ja", sagte Mordron kalt.
Er streichelte seinen Pudel.
"Es ist furchtbar!"
"Wie sieht Ihre Prognose aus, Doktor? Wird er so bleiben?"
"Ja, er wird!"
Das Schweigen, das dann folgte, wirkte auf den Projektleiter beunruhigend und steigerte seine Nervosität noch.
Mordron blieb jedoch ruhig.
Schließlich fragte er: "Können Sie mir erklären, was mit ihm ist?"
Dumandy zögerte.
"Autismus. Er ist völlig unfähig, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten." Er zuckte mit den Schultern und machte eine hilflose Geste. "Die Flut von Eindrücken und Wahrnehmungen war scheinbar zu groß, um von ihm verarbeitet zu werden. Durch unser Experiment mußte sein Gehirn millionenmal so viele Fakten aufnehmen, wie üblicherweise. Um einer Art Ertrinken zu entgehen, scheint das menschliche Bewußtsein eine Arzt Schutzreflex zu besitzen: Er zieht sich zurück."
"Und Corlan hat sich zurückgezogen?"
"Ja. Und weiß der Teufel, ob ihn je wieder etwas zum Hervorkommen bewegen wird!"
"Mit anderen Worten: Corlan ist zu einer Art Pflanze geworden."
"Ich glaube nicht, daß er eine Pflanze ist. Er hat sich nur zurückgezogen und gewissermaßen die Verbindung zur Außenwelt abgebrochen."
Mordron erhob sich aus seinem Sessel.
Das Experiment war gescheitert.
"Ich werde also unseren Kunden mitteilen müssen, daß sie noch ein wenig warten müssen!"
Mit diesen Worten verließ er das Büro und trat nach draußen in den strahlenden Tag.
Die Kunden warteten auf erfolge.
Er würde zur Erde zurückfliegen und sie vertrösten - Abgesandte von Diktatoren, die über unbedeutende Planeten herrschten und sich vom Wulin-Konzern eine neue Methode zur vollständigen Überwachung ihrer Untertanen erhofften.
Sonnenstrahlen fielen ihm in das bleiche Gesicht und er warf einen Blick auf den Ozean von Dalos, der voll war von diesen wertvollen Plasmawesen, die alles sahen und nichts wußten. (C) ALFRED BEKKER
ENDE