Читать книгу Systemabsturz - Constantin Gillies - Страница 10

*** #04 ***

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Neumann schiebt den Kaffee beiseite und wendet sich dem Karton mit Chucks Habseligkeiten zu. Plötzlich ist dieses Gefühl wieder da, dieses Hämmern in der Brust, dieses Gefühl, ohne erkennbaren Grund aufgeregt zu sein.

You shouldn’t worry.

Das hatte die Ärztin gebetsmühlenartig wiederholt, als sie ihm die Ergebnisse der Untersuchung telefonisch durchgab. Es bestünde kein Anlass zur Sorge. Ihre Ausführungen klangen allerdings so, als müsse er sich durchaus Sorgen machen. Coronary-artery disease, eine seiner Arterien ist verstopft, zu 70 Prozent. »That sounds like it’s quite a lot«, hatte er eingewendet. Doch die Ärztin sprach in ruhigem Ton weiter und kündigte lapidar an, weitere Tests machen zu wollen. Alles sei für sein Alter nicht ungewöhnlich. Der Befund habe sogar einen eigenen Namen, Widow’s Block, die Blockade der Witwe.

Neumann war über die Präzision der volkstümlichen Diagnose erstaunt. Wie viele Jahre waren seit Marys Tod vergangen? Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, seit einiger Zeit nicht mehr nachgerechnet zu haben. Früher konnte er den Zeitraum jederzeit auf die Woche genau angeben.

Das Herz also. Dabei hatte er nie etwas gespürt, keinen Schmerz, nicht einmal Kurzatmigkeit.

»What am I supposed to do?«, hatte er gefragt.

»Nothing. Just relax.« Er konnte hören, wie die Ärztin über seine für einen Amerikaner viel zu steife Formulierung lächelte. Es folgten einige medizinische Erläuterungen, in der das unangenehm klingende Wort »Angioplastie« vorkam. Dabei achtete die Medizinerin auffällig genau darauf, nur von einer »condition« zu sprechen, von einem »Zustand«, nicht von einer Krankheit.

»Don’t google it«, lautete ihre abschließende Empfehlung.

Daran hat er sich gehalten, er hat nichts im Internet recherchiert, sondern sich seinem Schicksal gefügt.

Neumann spürt die Ecken der Tablettenschachtel in seiner Hosentasche.

Die Präparate klingen wie die Namen von weit entfernten Planeten, Rosuvastatin Teva zum Beispiel. Er nimmt sie alle mit preußischer Disziplin ein, regelmäßig und exakt zum vorgeschriebenen Zeitpunkt. Und sollte wirklich ein Eingriff nötig sein – die Ärztin hatte von »Stents« gesprochen –, würde er ihn durchführen lassen. Er würde tun, was man ihm rät, er würde stur den Behandlungsplan abarbeiten, wie die ganzen anderen Checklisten, die er in seinem Leben schon abgearbeitet hat. Entscheidend war, von der condition nicht sein Leben bestimmen zu lassen.

Chuck hatte offenbar ähnliche Probleme gehabt.

Neumann entwirrt einige Kabel, für die keine passenden Geräte im Karton liegen, und zieht ein schwarzes Plastikarmband hervor. Offensichtlich hat Peggy alles überhastet zusammengeworfen.

Ein Fitness-Armband.

Neumann hat von den Geräten gehört. Beim letzten Treffen mit den ehemaligen Kollegen vom Lab trugen viele diese Armbänder. Offensichtlich kämpfte dort fast jeder mit der ein oder anderen condition. »You should get one, too«, ereiferten sich die älteren Herren. Die Bänder würden den Puls überwachen und bei Unregelmäßigkeiten Alarm schlagen.

Neumann hörte interessiert zu, hielt sich jedoch zurück. Er wollte nicht in den Chor der Versehrten einstimmen. Wenn ihm etwas zuwider ist, dann Altersgenossen, die alle Welt mit ihren Krankheiten behelligen.

Nun ja, ein schwaches Herz war sicher nicht die Ursache für Chucks Tod …

Neumann legt das Armband zurück und tastet den Boden des Kartons ab. Weitere Kabel und Adapter, die ermöglichen, dass kleine Stecker in große Buchsen passen oder umgekehrt. Halt – was ist das?

Ein Schlüssel.

Neumann hält das schwarze Klötzchen, aus dem ein kurzer Bart ragt, ein Stück vom Körper weg, um es besser erkennen zu können.

Zu klein für eine Haustür, zu groß für einen Briefkasten. Wäre Chuck Europäer gewesen, läge die Vermutung nahe, dass es sich um einen Fahrradschlüssel handelt. Doch auf dieser Seite des Atlantiks fährt nahezu niemand aus seiner Generation mit dem Rad.

Der Schlüssel könnte zu einem Vorhängeschloss passen, die Sorte, mit der man seinen Waffenschrank gegen unbefugte Zugriffe sichert, doch auch dergleichen besaß Chuck nicht. Vermutlich hatte Peggy den Schlüssel beim Aufräumen einfach aus Versehen in dem Karton deponiert. Er wird sie bei Gelegenheit darauf ansprechen. Zwischen all diesen Gerätschaften jedoch droht der Schlüssel endgültig verloren zu gehen, er sollte ihn sicherer aufbewahren.

Neumann steckt den Schlüssel in die Feuerzeugtasche seiner Jeans.

In dem Karton ist nur Schrott – auch wenn er das Peggy natürlich nicht sagen kann. Keine Witwe hört gerne, dass ihr Mann der Welt – ökonomisch gesehen – nichts von Wert hinterlassen hat. Es sei denn …

Neumann zieht ein silbernes Gerät aus dem Kabelgewirr. Immerhin ein Laptop, wenngleich sicher kein Spitzenmodell. Er hatte solche Rechner schon bei Walmart gesehen, wo sie – zu großen Pyramiden aufgetürmt – am Eingang angeboten wurden. Im Prinzip handelt es sich um Wegwerfprodukte. Neumann löst vorsichtig einen gelben Haftnotizzettel ab, den jemand auf dem Deckel des Rechners angebracht hat. DOESN’T WORK? – Peggys Schrift. Sollte ihre Diagnose stimmen, würde es seine Theorie bestätigen, dass Chucks Erbe gänzlich wertlos ist.

Neumann legt den Laptop zurück und drapiert die Kabel darüber so sorgfältig, als würde er Blumen in einer Vase arrangieren. Dann schiebt er den Karton von sich weg.

Im Prinzip kann er alles wegwerfen.

Doch das ist keine Option. Er muss eine bessere, würdevollere Lösung finden. Vielleicht lässt sich der Laptop ja reparieren und der Inhalt seiner Festplatte wiederherstellen? Und vielleicht beweisen die Daten, dass Chuck eben nicht das zufällige Opfer eines Verkehrsunfalls war?

Neumann schließt die Augen.

Wenn er nur nicht so müde wäre.

Sein Pflichtgefühl sagt ihm, dass er jeder noch so kleinen Spur, die zur Aufklärung von Chucks Tod beitragen könnte, nachgehen muss. Gleichzeitig ist da diese immense Sehnsucht nach einem Abschluss. Er ist jetzt mit Gladys zusammen, und wenn die condition keine Probleme macht, stehen ihnen noch etliche gemeinsame Sommer in Kalifornien bevor. Warum sich mit der Vergangenheit belasten? Warum an alten Laptops herumschrauben, wenn man in der gleichen Zeit gemeinsam über den Farmers’ Market flanieren kann?

Schröder!

Natürlich, das ist die Lösung.

Er hat zwar schon seit Monaten nichts mehr von ihm gehört, aber sie waren das letzte Mal on good terms auseinandergegangen. Sie hatten sogar locker verabredet, im Sommer gemeinsam einen Ausflug nach Peenemünde zu machen, falls er seinen lange geplanten Urlaub in der alten Heimat tatsächlich realisieren würde. Und da Schröder Deutscher ist, hatte diese Absichtserklärung durchaus Gewicht, sie war geradezu eine Freundschaftsbekundung.

Schröder ist der perfekte Mann für den Job! Schließlich gehört es zu seiner täglichen Arbeit, die Rechner anderer Menschen zu analysieren. Ihm wird es ein Leichtes sein, Chucks Laptop wieder in Gang zu bringen.

Noch heute wird er den Karton von einem Expressdienst abholen lassen, mit etwas Glück sollte ihn Schröder schon am Dienstag auf dem Schreibtisch haben. Und sollte sich Peggy wirklich nach dem Verbleib der Dinge erkundigen, könnte er, der gewissenhafte Hausfreund, mit Fug und Recht behaupten, alles Mögliche getan zu haben.

Neumann zuckt zusammen.

Ach, nur dieser verdammte Fernseher!

Aus dem Gerät über der Theke dröhnt die aufgeregte Stimme eines Nachrichtensprechers.

Ein Schandfleck, dieser Bildschirm! Wozu überhaupt einen Fernseher in so einem schönen Lokal aufstellen? Seit wann reicht ein anregender Dialog mit dem Gegenüber nicht mehr als Unterhaltungsprogramm?

Obwohl Neumann weiß, wie alt ihn diese Bewegung erscheinen lässt, kann er sich ein angedeutetes Kopfschütteln nicht verkneifen.

Wenn er etwas an Gladys’ Arbeitsplatz mag, dann, dass hier die Zeit stillsteht. Fast alles ist noch wie an dem Tag, als er hier nach seinem ersten Arbeitstag einkehrt war. Alles verströmt den Stil und die Ruhe der Apollo-Ära: das zur Straße hin abgeschrägte Dach, die sorgsam mit Naturstein verkleidete Seitenwand, die gemütlichen Sitzecken. Es riecht nach Klimaanlage und Frühstücksspeck. Altes Amerika, altes Kalifornien.

Bisher ist es dem neuen Besitzer nicht gelungen, dieses Flair gänzlich zu zerstören, obwohl er weiß Gott hart daran arbeitet, zuletzt mit der Installation dieses schrecklichen Fernsehers.

Die heisere Stimme eines Mannes dröhnt aus dem hinteren Sitzbereich nach vorne zur Theke.

»Hey, Jes. One of your fellow rocket scientists?«

Neumann hebt dankend die Hand.

Mike, der örtliche Klempner, einer der Stammgäste. An sich ein netter Kerl, vielleicht eine Spur zu laut und jovial. Das ließe sich allerdings über viele der Gäste sagen.

Widerwillig schaut Neumann zum Fernseher hoch.

Ein Mann in einem weißen Kittel tritt ins Bild, sichtlich überfordert von dem Blitzlichtgewitter, das ihn umgibt. Die Worte Russian Academy of Sciences laufen am unteren Bildschirmrand vorbei. Der grauhaarige Mann – seiner Kleidung nach ein Wissenschaftler – gestikuliert aufgeregt, während aus seinem Mund ein Stakkato an Worten kommt. Zusammen mit der darübergelegten Simultanübersetzung entsteht ein akustisches Chaos, das die dünnen Lautsprecher des Flachfernsehers hörbar überfordert.

Plötzlich ein Schnitt, Bilder von einer Kamera, die aus einem Auto heraus filmt. Das Fahrzeug wartet vor einer roten Ampel. Unversehens taucht am Himmel ein heller, weißer Punkt auf und rast quer durchs Bild, einen dünnen Schweif hinter sich herziehend. Ein zweites, zusätzlich eingeblendetes Bild zeigt einen jungen Mann, offenbar der Fahrer des Wagens. Er klappt ungerührt die Sonnenblende herunter. Sekundenbruchteile später wird das Bild komplett weiß.

RUSSIAN TOWN HIT BY METEOR.

Neumann legt die Stirn in Falten.

Hoffentlich kein Ereignis der Tunguska-Kategorie – das wäre für die Menschen dort schrecklich.

Systemabsturz

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