Читать книгу Systemabsturz - Constantin Gillies - Страница 9
*** #03 ***
ОглавлениеVerdammte Goldknopfsakko-Pissnelke!
Thomas Leinhart spürt, wie die wenigen übrig gebliebenen Haarsträhnen auf seiner verschwitzten Kopfhaut festkleben.
Wahrscheinlich sieht er wieder wie ein verschissener Kojak aus, doch das könnte in diesem Moment kaum egaler sein.
»Was soll das heißen, Andrew?«
Spuckefetzen schießen aus Leinharts Mund. »Wovon reden Sie? Chapter Eleven?«
Während er sein Handy ans Ohr presst, knetet er mit der freien Hand die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen, die – obwohl er seit Jahrzehnten keine Sorgen mehr hat – immer tiefer zu werden scheint.
Das konnte alles nicht wahr sein. NuWork, diese supertolle Ami-Firma, die mit ihren Mietbüros in den letzten zwei Jahren die ganze Welt erobert hat, soll kurz vor der Pleite stehen? Dabei sei die doch ein »reinrassiges Powerhouse«, hatte Andrew geschwärmt, mit einem charismatischen CEO, der seine Leute dazu zwingt, in Meetings die ganze Zeit Unterarmstütze zu machen. NuWork sei das nächste Einhorn, ganz sicher, der nächste Milliardenkonzern! Und diese Investment-Gelegenheit wollen Sie sich doch nicht entgehen lassen, Herr Leinhart, oder?
Und jetzt? Chapter Eleven, Zahlungsunfähigkeit. Andrew hat nur Bullshit abgesondert.
Doch was viel schlimmer ist: Er, Thomas Leinhart, der total abgebrühte Dotcom-Selfmade-Millionär, hat diesem kleinen Londoner Wichser geglaubt und ihm die Kontrolle über sein Portfolio gegeben. Er hat ihm erlaubt, alle Eier in ein Nest zu legen, auf Diversifikation zu pfeifen. Weil der große Leinhart den Hals mal wieder nicht vollkriegen konnte.
Und der Idiot Andrew hat wirklich nichts anbrennen lassen. Hat sofort die ganzen soliden Werte verscherbelt, die der Familie Leinhart so lange einen bombigen Lebensstil beschert hatten, um die Kohle in Start-ups »mit einer besseren Wachstums-Story« zu stecken, wie er sagte. Berkshire Hathaway raus, NuWork rein.
Die Adern an Leinharts Hals treten wie Stromkabel hervor.
»Hören Sie auf mit Ihrem verdammten Scheiß und sagen Sie mir endlich, was los ist!«
Leinhart versucht, die zitternde Hand in der Tasche seiner Leinenhose zu verbergen. Das paradiesische Panorama vor seinen Augen nimmt er nur noch wie durch einen Nebel wahr. Die lange Marmortreppe runter zum See, die roten Blumen auf dem Geländer, das Glitzern der Wellen – nichts dringt in sein Bewusstsein vor.
Azra wollte die Bude unbedingt kaufen, damit sie zu Hause erzählen kann, dass sie jetzt die Nachbarin von diesem Espresso saufenden, absurd gut erhaltenen Hollywood-Schnösel ist.
Für Leinhart war ausschlaggebender, dass er von der Terrasse der Villa aus die Einflugschneise des Aero Club Como sehen könnte. Seine Vision für die Zukunft hatte nichts mit den prominenten Nachbarn zu tun. Er würde sich mit einer Cohiba zurücklehnen und die Wasserflugzeuge beobachten, wie sie dröhnend Fahrt aufnehmen und vor der Villa Olmo langsam abheben.
Das kann er sich jetzt abschminken.
Von Sekunde zu Sekunde sinkt Leinhart stärker in sich zusammen, als hätte ihm jemand einen Rucksack umgeschnallt, der jetzt nach und nach mit Steinen gefüllt wird. Von dem, was ihm der Leiter seines Family Office in London mitteilt, bekommt Leinhart kaum noch etwas mit. Rein akustisch versteht er zwar jedes Wort, er registriert jede Feinheit des ihm so vertrauten Finanzjargons, doch sein Hirn weigert sich, die Bedeutung zu erfassen.
Plötzlich bäumt er sich auf und reißt die Hand hoch wie ein Polizist, der ein Auto stoppt.
»Augenblick-Augenblick-Augenblick, was heißt hier Nachschusspflicht? Sie wollen mir sagen, dass …«
Tatsächlich, Andrew hat sie gesagt, die drei bösen Worte: Negative Net Worth. Die Summe der Verbindlichkeiten übersteigt das Vermögen.
Alles ist weg.
Er, der umjubelte Star der New Economy, Titelheld der »Wirtschaftswoche«, steht wieder da, wo er 1998 angefangen hat. Er ist wieder bei Day One.
Mit leerem Blick lässt Leinhart das weiter vor sich hin krächzende Handy sinken. Sein Puls hämmert, seine Gedanken rasen durch die Vermögensaufstellung. Er wird alles verkaufen müssen, allem voran ihre Home Base an der Außenalster. Diese Immobilien-Schmierlackel mit ihren gekauften Adelstiteln werden sich die Hände reiben …
Danach müsste das Chalet in Courchevel verkauft werden, was bedeutet: nie wieder Jagertee trinken und dabei diese Last-Christmas-Video-Aussicht genießen. Das Objekt an der Côte wird ebenfalls weggehen wie nichts. Er kann nie wieder den Countach durch die Haarnadelkurven vor Sainte-Maxime prügeln.
Autsch.
Aber im Prinzip alles kein Problem, solange die Allowance der Mädchen in London gesichert ist. Wenn für die kein Geld mehr übrig ist, können sie nicht ihren Abschluss auf diesem Hogwarts für Nachwuchskapitalisten machen, und das wäre eine Katastrophe. Für ihre Kohle muss er bis aufs Blut kämpfen! Sie sollen nicht leiden müssen, nur weil ihr alter Herr den Hals mal wieder nicht vollkriegen konnte.
Alles weg.
Vor vielen Jahren hatte er Azra mal gefragt, was sie tun würde, wenn er nicht mehr »die Mittel« hätte, wie sie sich gerne ausdrückt.
»Davon hat der Pfarrer bei der Hochzeit aber nichts gesagt!«, protestierte sie. Dann entstand eine ziemlich peinliche Pause, bevor sie in etwas zu schrilles Lachen ausbrach. Der Moment war irgendwie beklemmend, daran kann sich Leinhart noch erinnern. Doch er war auch schnell wieder vorbei, und nach einem Hugo für sie und einem grandiosen Blowjob für ihn hatte sich das Thema erübrigt.
Nein, ohne »die Mittel« leben zu müssen, wird Azra nicht gefallen.
Er hört ihre High-Heels auf dem Kiesweg hinter sich knirschen.