Читать книгу Systemabsturz - Constantin Gillies - Страница 16
*** #10 ***
ОглавлениеThomas Leinhart drückt auf Eject und genießt das geschäftige Summen, mit dem der VHS-Rekorder die Kassette aus seinen Innereien herausbefördert. Vor Jahren hat er das Gehäuse mal abgeschraubt und zugeguckt, wie das Band ausgefädelt, die Schutzklappe zurückgeschoben und die Kassette in eine Art Aufzug verfrachtet wird. Doch selbst nachdem er den hochkomplexen Vorgang beobachtet hatte, blieb er für ihn magisch.
So long, Hawke.
Das war’s, die letzte ernst zu nehmende Folge »Airwolf« ist digitalisiert und für die Nachwelt gerettet, auch wenn diese Nachwelt bisher absolut kein Interesse an den Abenteuern eines Hubschraubers gezeigt hat. Denn darauf läuft es hinaus, auf die Erlebnisse eines Drehflüglers. Das menschliche Personal ist ziemlich irrelevant. Die Mädchen hatten immer nur empört »Ach, Papa« gebrüllt, wenn er sie mit dem kulturellen Erbe der Achtziger beglücken wollte. Banausen!
Leinhart schiebt die BASF E-180 – Chromdioxid Super High Grade – in ihre Papphülle zurück und studiert zufrieden das aufgeklebte Papierchen.
8. November 1989, er hat das Aufnahmedatum damals sauber mit Papas Reise-Schreibmaschine draufgetippt.
Mission erfüllt, den analogen Verfall gestoppt, alle Kassetten in bester Qualität digitalisiert und aufs RAID gespeichert. Wenigstens eine Sache, die von Dauer ist.
Aber was für ein Aufwand, dabei ist die Serie nicht mal besonders gut. Um genau zu sein: Sie ist kaum zu ertragen.
Allein diese letzte Folge … Die ersten fünf Minuten sah man nur, wie eine Katze durch die Dunkelheit schlich, dann begann die absolut hirntote Story:
Eine Freundin von Hawke wird von einem Drogendealer-Schrägstrich-Filmproduzenten getötet, Hawke heuert zum Schein als Drogenpilot an. Es folgen zahlreiche Klischeeszenen, wie: Der Böse sticht böse guckend mit einem Messer auf ein Paket ein, das weißes Pulver enthält. Eine quälend lange Dreiviertelstunde später jagt Hawke den Heli des Bad Guy in die Luft. Ende. Und die ganze Zeit lang macht Jan-Michael Vincent diesen Gesichtsausdruck mit den halb zugekniffenen Augen, seinen einzigen Gesichtsausdruck halt.
Im Prinzip total verschwendetes Super-High-Grade-Chromdioxid – und verschwendeter Platz auf den Festplatten.
Wenn es die Lady nicht gäbe.
Sobald der Airwolf ins Bild kommt, ist alles gut. Immer wenn er sich über einem Wüstental in die Kurve legt oder dicht über dem Boden angerast kommt, mit ballernden Geschützen, dass die Sandfontänen nur so hochfliegen – das war und ist Porno.
Okay, nach ’ner Zeit hat selbst ein Zwölfjähriger gemerkt, dass die Flugszenen immer die gleichen waren und dass der Film – superbillig – einfach nur doppelt so schnell abgenudelt wurde, sobald Hawke auf den Turboknopf drückte. Aber das war egal. Spätestens wenn die Lady aus ihrem Hangar im Berg rausschwebte, bekam jeder ’nen Tech-Ständer.
Und dazu noch diese Titelmelodie. Die war nicht aus der Birne rauszukriegen, erst recht nicht in der SID-Version vom Commodore-64-Game. Eigentlich müsste er mal zusammen mit Schröder zu dem Drehort ins Monument Valley fahren – nein: fliegen!
Im Prinzip war die Lady ja nur ein umgebauter normaler Hubschrauber von Bell.
So einen sollte er sich wirklich mal besorgen, natürlich in Dunkelblau. An der Seite müsste in fetten Achtzigerjahre-Buchstaben LEINHART ENTERPRISES draufstehen. Das wäre geil. Megatraurig, dass die Original-Maschine als Rettungshubschrauber in Deutschland gestrandet ist und dann Anfang der Neunziger auf einem Acker im Sauerland runterkam.
Irgendwo in Hessen soll es einen Typen geben, einen Gerd Soundso, der noch einen Bell Triple Two in flugfähigem Zustand besitzt. Wäre das Richtige für eine Abschiedstournee.
Leinhart lässt die Kassette zu den anderen in den Umzugskarton gleiten.
Korrektur: So einen hätte er sich besorgen sollen, als er noch Geld hatte und kein verfickter Hartzer war.
In ein paar Tagen werden sie anfangen, alles, was er hat, zu verramschen. Dann wird der Makler die Leinhart Home Base zum Verkauf anbieten, und so wie der Immobilienmarkt derzeit aussieht, dürfte sein Server unter der DDoS-Attacke der kaufwilligen Pfeffersäcke zusammenbrechen.
Azra hat die Nachricht von ihrer plötzlichen Mittellosigkeit recht gut aufgenommen. Sie starrte ihn aus ihren dunkelgrün umrandeten Panda-Augen an und fragte nur: »Alles?« Nach der Lidstraffung sah sie immer noch aus wie Axel Schulz nach der zwölften Runde, mit Blutergüssen bis zu den Wangen runter.
»Alles«, hatte er wahrheitsgemäß geantwortet, woraufhin sie wortlos nach oben verschwand. Zehn Minuten später huschte sie, trotz Dämmerung mit Sonnenbrille auf der korrigierten Nase, an ihm vorbei. Sie murmelte was von »Spaziergang« und schloss – ungewohnt leise – die Tür. Alles andere als ein Spaziergang zum Scheidungsanwalt wäre eine Überraschung.
Leinhart lehnt sich an den weißen Holzrahmen des Wohnzimmerfensters.
Es war richtig, sofort in Como die Zelte abzubrechen und nach Hause zu fliegen, nachdem dieser verdammte Andrew mit der Hiobsbotschaft rausgerückt war. Gerade zu dieser Jahreszeit war die Stimmung in der Leinhart Home Base unschlagbar: Auf dem Wasser schwimmt ein Puzzle aus kleinen Eisschollen, dazu dieser Vollmond über der dunklen Außenalster, am Horizont die glühende City. Fein, jeden Cent wert. Sehr bald wird jemand anders diese Aussicht genießen können.
Er würde es Azra nicht übelnehmen, wenn sie ihn verlässt. Im Gegensatz zu ihm hat sie, die Tochter aus wohlsituiertem Kieferorthopäden-Haushalt, niemals schlechte Zeiten erlebt – und will diese Erfahrung auch nicht nachholen.
Wer weiß, wo er enden wird? Vielleicht wie Schröder in so einer Sozialklitsche.
Doch was immer passiert, eines hat er geschafft:
Er hat die Abenteuer der Lady für die Nachwelt gerettet.