Читать книгу Systemabsturz - Constantin Gillies - Страница 17
*** #11 ***
ОглавлениеJesko von Neumann tastet mit zitternder Hand das Armaturenbrett ab. Er muss einen Weg finden, sich abzulenken, sonst wird die Aufregung zu groß, und das solle er angesichts seiner condition unbedingt vermeiden, hatte die Ärztin betont. Seine Finger haben den runden Einschaltknopf des Radios ertastet. Ja, es ist ein altes Gerät, doch solange es funktioniert und die AM-Sender nicht abgeschaltet werden, sieht er keinen Anlass, es zu ersetzen. Der Knopf gibt beim Drehen ein sattes Klicken von sich.
… several rain-related accidents on the I-5 …
Neumann muss schmunzeln. In seiner alten Heimat kommt es bei dieser Niederschlagsmenge sicher nicht zu so vielen regenbedingten Unfällen. Die Leute in Orange County dagegen sind von jeder Art Niederschlag sofort überfordert und setzen ihre Trucks gleich reihenweise in den Graben.
Zugegeben, das Wetter könnte günstiger für seine Exkursion auf Chucks Spuren sein: An so ziemlich jedem anderen Tag im Jahr ist diese Gegend so staubtrocken, wie man es am Rande der Mojave-Wüste erwarten kann. Ausgerechnet heute jedoch wehen regelrechte Regenvorhänge über die Fahrbahn. Die Scheibenwischer seines treuen Honda Accord quietschen unter der ungewohnten Anstrengung.
Zu warten wäre jedoch keine Option gewesen, diese Fahrt duldet keinen Aufschub.
Neumann schaut hektisch zum beschlagenen Beifahrerfenster.
Hätte er schon diese Ausfahrt nehmen müssen? Durch den Regen wirkt alles noch gleichförmiger als sonst. Da die Straße nicht einmal mit einem Randstreifen markiert ist, lässt sich der Übergang zum braunen Geröll der Wüste kaum erkennen.
Unglaublich, was Schröder in seiner E-Mail vorhin geschrieben hatte: Chuck sei regelmäßig zu einer Self-Storage-Anlage gefahren – gibt es dergleichen in Deutschland überhaupt? Er hat also einen privaten Lagerraum angemietet.
Das war in zweifacher Hinsicht merkwürdig. Zum einen besaß Chuck ein großzügiges Haus mit reichlich Stauraum, er wäre also im Prinzip nicht auf einen externen Lagerraum angewiesen gewesen. Zum anderen hatte er ihm, seinem besten Freund, eigentlich immer alles erzählt. Warum nicht von diesem Lagerraum?
57 M.P.H.! Neumanns Fuß zuckt vom Gaspedal zurück. Er hat, ohne es zu merken, leicht das Tempolimit überschritten. Jetzt gilt es zu warten, bis die Nadel wieder zur 55 zurückgewandert ist. In dem Land, das ihn so freundlich aufgenommen hat, sollte er die Gesetze selbstverständlich einhalten.
Es war äußerst clever von Schröder, die Bewegungsdaten von Chucks Fitness-Armband abzurufen – auch wenn er die Art und Weise, wie er das getan hat, nicht billigen kann. Einfach in den E-Mails einer fremden Person herumzustochern, war sehr unschön. Schröder hat sich anscheinend Zugang zu Chucks Konto beim Hersteller dieses Fitness-Armbands verschafft, indem er die Geburtstage von Mason und Sophia als Passwort ausprobierte. Ob sie sich später an ihren Grandpa erinnern werden? Sie sind ja noch so klein.
Dort muss es sein!
Neumann wirft einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, tritt dann behutsam auf die Bremse. Die flachen Betongebäude der Self-Storage-Anlage gleiten vorbei: eine schier unendliche Reihe von Garagentoren, hinter denen sich die Aufbewahrungsräume befinden.
Der Honda biegt auf den Zufahrtsweg ein.
Das korrekte Vorgehen wäre, zunächst Peggy um Erlaubnis zu fragen, bevor er Chucks Lagerraum betritt. Doch dafür ist keine Zeit mehr.
Ein junger Mann tritt aus dem Wachhäuschen neben dem Tor.
Neumann lässt das Fenster herunter.
»Gardner.«
Bemerkt der Wachmann, dass sein Gesicht vor Aufregung gerötet ist? Nein, der junge Mann ist zu beschäftigt damit, die Liste auf seinem Klammerbrett durchzugehen.
»That would be … forty-two, right?«
»Affirma … uh, correct.« Er durfte unter keinen Umständen auffallen, auch nicht durch den militärischen Sprachgebrauch, den er sich in all den Jahren auf diversen Testgeländen angewöhnt hat.
Der junge Mann quetscht ein »… ight« heraus und eilt zurück in sein Häuschen. Das bedeutet wohl, der lästige Kunde kann weiterfahren. Neumann legt die Lenkradschaltung auf »D«.
Garagentor nach Garagentor, jedes mit einer großen weißen Zahl markiert, zieht vorbei.
12, 16 und 22.
Neumann widersteht der Versuchung, mehr Gas zu geben, und behält die Schrittgeschwindigkeit bei.
28, 34, 36.
Eine kleine Straße durchschneidet das Labyrinth der Lagerhallen.
38, 40 – 42.
Er ist da.
Rein äußerlich unterscheidet sich die Lagereinheit 42 nicht von den zahllosen anderen: ein leicht länglicher Flachbau aus Waschbeton, vorne mit einem dunkelgrün gestrichenen Tor versehen.
Einige dieser Storage-Anlagen sind sehr runtergekommen, diese hingegen macht einen äußerst gepflegten Eindruck. Sogar die Vorhängeschlösser, mit denen die Rolltore am Boden fixiert sind, scheinen alle vom gleichen Hersteller zu sein. Bei anderen Anbietern dürfen die Kunden ihre eigenen Schlösser mitbringen, was optisch immer sehr unruhig wirkt und auch aus Sicherheitsaspekten nicht optimal ist.
Neumann dreht den Zündschlüssel, der Motor des Honda geht gluckernd aus.
War seine Recherche bis hier hin schon recht spekulativ, sollte sie nun endgültig zum Glücksspiel verkommen: Er hat nur eine einzige Chance, an das, was sich in dem Lagerraum befindet, heranzukommen. Sollte der Schlüssel, der im Karton mit Chucks Nachlass lag, nicht passen, war alles umsonst und er kann sofort wieder umkehren und nach Hause fahren. Ein Single Point of Failure – dergleichen hätte es beim Lab nicht gegeben … Kein Nasa-Ingenieur würde ein System entwerfen, dessen Funktionsfähigkeit durch einen Fehler an einer einzigen Stelle in Gefahr gebracht wird.
Neumann tastet in der Feuerzeugtasche seiner Jeans nach dem Schlüssel. Jetzt bloß nicht in Hektik verfallen! Wenn ein so kleiner Gegenstand hier im Auto zwischen die Sitze rutscht, würde das eine halbe Stunde für den Rücken äußerst schmerzhafter Akrobatik bedeuten. Da, er hat ihn. Von der Größe her könnte der Schlüssel durchaus zu einem der Vorhängeschlösser passen. Vorausgesetzt, es ist der richtige Schlüssel.
Der Vertrauensbruch schmerzt fast ein wenig. Warum hat Chuck ihm von all dem nichts erzählt?