Читать книгу Systemabsturz - Constantin Gillies - Страница 8
*** #02 ***
ОглавлениеWie wenig von einem Menschenleben übrig bleibt.
Jesko von Neumann stellt den kleinen braunen Karton vorsichtig auf den Tresen. Chuck war sein bester Freund, viele Jahre lang zudem sein einziger, gerade in der Anfangszeit, als er neu in diesem Land war und über keine sozialen Kontakte verfügte.
Und das soll nun Chucks gesamter Nachlass sein.
Von Neumann nimmt seine Baseballkappe ab, tupft sich mit einem Taschentuch den Kopf ab und legt die Kappe beiseite. In geschlossenen Räumen die Kopfbedeckung abzunehmen gehört zu diesen europäischen Marotten, die er nicht ablegen kann und für die er sich von seinen Kollegen oft hatte aufziehen lassen müssen.
Er schiebt den Zeigefinger unter den Deckel des Kartons und wirft einen vorsichtigen Blick durch den Spalt. Von einem halben Jahrhundert Freundschaft scheint nur ein Haufen elektronischer Schrott übrig geblieben zu sein.
»Good morning, Hon.«
Jesko von Neumann spürt, wie sich Gladys auf seiner Schulter abstützt. Er fühlt ihren Atem am Ohr und muss lächeln. An das öffentliche Bekunden von Zuneigung wird er sich wohl nie gewöhnen. Vielleicht ist er zu sehr der Mann aus der Alten Welt, der steife Fritz, wie ihn seine Kollegen im Lab immer nannten. Der bewahrt in jeder Lage die Contenance. Er hatte sich vorgenommen, daran zu arbeiten und lockerer zu werden, gerade im Umgang mit dieser wunderbaren Frau.
Neumann dreht sich um und legt seine dünnen Arme auf die Schultern der Kellnerin.
»Good morning, Gladys.«
Ihre hellbraunen Augen strahlen ihn an. Oder zumindest vermutet er, dass sie ihn anstrahlen, denn seine Augen weigern sich schon lange, auf nahe Dinge zu fokussieren. Alles, was er von ihren Sophia-Loren-Augen sieht, sind verschwommene Schatten.
Gut erkennen kann er nur noch, was mindestens zwei Armlängen entfernt ist, in diesem Moment zum Beispiel die Durchreiche zwischen dem Gastraum und der neonbeleuchteten Küche. José reißt die Augen mit gespielter Entrüstung auf, grinst – und wendet sich wieder seinen Pancakes zu.
Diese Reaktion hat Neumann schon mehrfach beobachtet. Ein verliebtes Paar in ihrem Alter zaubert vielen Leuten ein Lächeln ins Gesicht, vereinzelt entfährt den Umstehenden sogar dieses »Awww«, mit dem die Amerikaner alles auch nur entfernt Anrührende kommentieren.
Obwohl Neumann spürt, wie seine Wangen glühen, versucht er, Gladys’ Blick standzuhalten. Aber natürlich kann er ihr nichts vormachen. Sie spürt seine Nervosität und entlässt ihn – kopfschüttelnd – aus der Umarmung.
»I’ll be right back. Help yourself.«
Sie formt ihre Lippen zu einem angedeuteten Kuss.
Neumann steuert – sichtbar erleichtert – die Lücke im Tresen an, durch die man vom Gastraum in die Küche kommt und neben der die Kaffeemaschinen stehen.
Früher, als er hier nur Gast war, hätte er sich das nie getraut, schließlich befindet sich hinter dem Tresen das Revier der Kellnerinnen. Doch seit fast einem Jahr ist alles anders.
Neumann lässt ein wenig Kaffee in die braune Steinguttasse plätschern, nippt daran und beobachtet über den Rand der Tasse hinweg, wie die Kellnerin durch die schwarz-weiß gekachelten Gänge des Coffeeshops eilt.
Gladys hat sich kein Stück verändert. Sie ist im Kern das gleiche Mädchen geblieben, das ihm hier vor Ewigkeiten seinen ersten amerikanischen Kaffee gereicht hat, ihm, diesem Sonderling fresh off the boat, der mit seinem harten Akzent klang wie die Nazis in den Hollywood-Filmen.
Die Bewegung, mit der sie nach dem Aufnehmen der Bestellung ihren Kugelschreiber hinters Ohr klemmt, hat nichts an Zackigkeit eingebüßt. Zugegeben, sie trägt ihr Haar etwas kürzer als früher, und auch ihre Kleidung wählt sie eher nach praktischen Erwägungen aus: kein hellblaues knielanges Kleid mit Schürze mehr, sondern Jeans und T-Shirt. Doch ihre alte Uniform würde ihr zweifelsohne noch passen.
Neumann grinst in seine Tasse.
Er ist ein alter Narr – aber ein glücklicher alter Narr. In manchen Momenten schämt er sich sogar fast für sein Glück, gerade angesichts der Sache mit Chuck.
Es sei nur ein hit and run gewesen, sagten die Polizisten, Unfallflucht. Wahrscheinlich stand der Fahrer unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen oder Schmerzmitteln. Das Auto erfasste Chuck und schleuderte ihn dreißig Fuß durch die Luft. Weil sich der Unfall weit draußen in der Wüste ereignete, kam die Ambulanz viel zu spät. Noch bevor sie das Krankenhaus erreichten, war Chuck tot. D.O.A., dead on arrival. Dieses Land ist ungeschlagen darin, Unangenehmes in Abkürzungen zu verpacken.
Er hatte die Geschichte von der Fahrerflucht nie geglaubt. Selbst auf die Gefahr hin, wie dieser merkwürdige Thomas Leinhart mit seinen Verschwörungstheorien zu klingen: Es kann kein Unfall gewesen sein, dafür gab es zu viele Ungereimtheiten. Warum sollte jemand eine Person auf einer einsamen Wüstenstraße ohne nennenswerten Verkehr aus Versehen überfahren? Es hätte reichlich Platz gegeben, um eine Kollision zu vermeiden.
Er hatte seine Bedenken natürlich gegenüber dem Sheriff’s Department geäußert, dort jedoch hatte man ihn geflissentlich ignoriert. Der Fall wurde zu den Akten gelegt und Chuck Gardner zu einem weiteren indirekten Opfer der Opioid-Krise erklärt.
Neumann atmet durch und klappt den Karton komplett auf.
Das ist also sein Nachlass.
Sie habe sich entschlossen, zurück zu ihrer Familie nach Pennsylvania zu ziehen, hatte Peggy am Telefon gesagt, und sie wisse nicht, wohin mit Chucks Sachen. Es war eine Frage der Höflichkeit, ihr sofort seine Hilfe anzubieten. Er, der gute Hausfreund, der den Gardner-Kindern beim Zelten immer diese schrecklich-schauerlichen Geschichten vom »Ruubessahl« erzählt hatte, war im Obligo. Er konnte Peggy unmöglich etwas abschlagen – so gerne er die Geschichte mit Chuck auch hinter sich gelassen hätte.
»Sure, I’ll take care of it«, bot er pflichtbewusst an.
Angesichts des lächerlichen Kartons, den sie dann schickte, schämte er sich, auch nur einen Moment gezögert zu haben.
Neumann zieht ein gerahmtes Bild aus dem Karton, das ganz obenauf liegt. Offensichtlich eine analoge Aufnahme, erkennbar an der starken Körnung, aus der Zeit der Pathfinder-Mission. Abgelichtet sind Chuck, er und das restliche Team des Jet Propulsion Laboratory, wie sie stolz neben dem spinnenbeinigen Sojourner-Rover posieren. Damals hatten alle feuchte Augen, als der Pathfinder sich das erste Mal aus dem Ares Vallis meldete.
Neumann lächelt.
Mein Gott, was waren Chucks Haare grau. Obwohl die Aufnahme aus den Neunzigern stammen muss, sieht er mit seinem strengen Scheitel und dem kurzärmeligen weißen Hemd wie ein Vorzeigewissenschaftler der Apollo-Ära aus.
Daran, wie das Foto entstanden ist, kann er sich noch erinnern: Sie hatten den Fotografen bei einem offiziellen Termin um ein Extrabild gebeten, als Erinnerung an eine großartige Zeit, vielleicht die beste ihres Lebens.
Neumann legt das Bild vorsichtig zurück.
Warum musste er nur sterben?