Читать книгу Systemabsturz - Constantin Gillies - Страница 12

*** #06 ***

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Noch zwei Wochen, dann wird sie auffliegen.

Behutsam klappt Harriet Thorborg den Laptop zu. Ein Teil von ihr würde den Deckel gerne mit aller Kraft zuschmeißen, doch Wut – plus ein Hardware-Schaden – würden ihre Situation nur noch verschlimmern und am Ergebnis nichts ändern.

Ihr kleines Experiment ist gescheitert.

Thorborg dreht ihren Stuhl Richtung Fenster. Das Büroquartier gegenüber ist in den Schlaf gesunken; nur in ein paar Foyers auf der anderen Seite des Flusses brennt noch Licht.

Wie viel Kohle kostet diese großartige Aussicht jede Minute? Deutlich zu viel, das steht fest. Das war ihr Fehler Nummer eins: zu groß gedacht. Sie wollte nicht in der Studentenbude rumkrebsen, sondern direkt auf repräsentativ machen. Sie hatte keine Geduld, das Geschäft langsam hochzufahren, sondern wollte direkt in der Oberliga mitkicken. Frau Thorborg musste direkt den Executive spielen!

Sie lehnt sich mit der Stirn an die Scheibe, um die Uferpromenade unter ihrem Fenster erkennen zu können.

Kein einziger Hundebesitzer dreht mehr seine Runden, kein Penner ist auf der Suche nach Pfandflaschen. Sie muss die letzte wache Person in dieser Stadt sein, wie so oft in den letzten Wochen. Und wofür?

In der Krönung-Light-Werbung sah alles so leicht aus. Das Leben als Geschäftsfrau schien ein Spaziergang zu sein: im Kostümchen ins Meeting stolpern, kurz wichtig auf einer Flipchart rumzeigen, abends zum Aerobic-Kurs und danach mit dem Cabrio-Typen ausgehen. Und all das – die Krönung der Lächerlichkeit – mit »halb so viel an Koffein«.

Sie haben sich gnadenlos übernommen.

Sie hätten merken müssen, dass der Auftrag dieser Klinik-Heinis eine Nummer zu groß ist. Umfassende Sicherheitsaudits und Penetrationstests durchführen, dazu hundertseitige Reports in zwei Sprachen abliefern, in denen jeder einzelne Befund nach Common Vulnerability Scoring System bewertet ist, plus Zusammenfassung für die Geschäftsführung – das ist für zwei einfach zu viel. Selbst wenn der Tag 36 Stunden hätte und sie aufs Schlafen verzichten würden, könnten sie den Report nicht bis zur Deadline abliefern.

Jetzt ist die Sache glasklar. Doch als dieser Manager vor zwei Wochen freitagabends angerufen hatte und wegen seines Sicherheitsvorfalls total aus dem Häuschen war, besaß sie dieses Wissen leider noch nicht. Da hatte sie nur den großen Namen vor Augen.

Und dann schlug auch direkt Fehler Nummer zwei zu: Sie haben keine Ahnung von Wirtschaft. Zwei Online-Crashkurse in Betriebsführung machen eben noch keinen guten Unternehmer, und Anna-Lenas abgebrochene Ausbildung als Industriekauffrau konnte es auch nicht rausreißen. Ihnen fehlen einfach die Basics. Allein dieser peinliche Moment, als Anna-Lenas Mann sie darauf hinweisen musste, dass auf eine Rechnung eine Steuernummer gehört … Gottseidank hat er das Ding aus Zufall im Drucker gesehen.

Und sie haben sich nicht das Kleingedruckte durchgelesen, dass ihnen die Klinik-Heinis untergejubelt haben. Das hätten sie echt besser gemacht. Dann wäre ihnen nämlich aufgefallen, dass diese Arschlöcher selbst für Teilrechnungen ein Zahlungsziel von neunzig Tagen reingeschrieben haben. Sie müssen also verschissene drei Monate auf ihr Geld warten, während ihnen die Kosten für das Büro langsam die Luft abdrücken. Jeder Späti wirtschaftet professioneller.

Noch zwei Wochen bis zum finalen Report.

Doch den werden sie nicht liefern können, nicht mal, wenn der Kunde noch einen Monat drauflegt. Wenn sie diese Deadline reißen, dürfte der Ruf von Thorborg & Partner in der Branche ein für alle Mal verbrannt sein, kein CIO wird mehr das Risiko eingehen, sie zu engagieren. Sie können dichtmachen.

Anna-Lena wird es wegstecken, schließlich bringt ihr Peter genug Kohle nach Hause, um die kleine Familie durchzubringen. Sie selbst wird sich auch irgendwie durchschlagen, selbst wenn die letzten Reserven aufgebraucht sind. Im Zweifel müsste sie – und das wäre die finale Demütigung – zurück zu ihren Eltern ziehen. Sie würde Mutter den Beweis dafür liefern, dass ihre Befürchtungen berechtigt waren – dass die Kleine in der großen Stadt nichts als Unglück haben wird.

Viel schlimmer ist, dass sie dann verloren hätte.

Thorborg zieht die Schultern nach hinten.

Jetzt bloß kein Selbstmitleid! Bei Sturm zeigt sich der gute Kapitän, nicht bei schönem Wetter.

Es bleiben noch zwei Wochen.

Wenn Schröder bloß Ja gesagt hätte. Mit einer dritten Person am Start hätten sie die Chance gehabt, den Job zumindest rechtzeitig fertigzukriegen.

Natürlich war es mies, ausgerechnet ihn zu fragen. Andererseits, wen hätte sie sonst fragen sollen? Sie brauchen jemanden, der sofort loslegen kann, der vom ersten Tag an Deckungsbeiträge erwirtschaftet. Jemanden, der kein Problem mit Crunch Time hat und bei dem sich zuhause niemand beschwert, wenn er Sonntagabend erst nach elf aus dem Büro kommt. Anna-Lena muss ja immer zu ihrer Kleinen, die ist ohnehin schon am Limit.

Sie brauchen einen nützlichen Idioten ohne Privatleben.

Und da kommt nur Schröder infrage.

Sie hat sich echt in ein Miststück verwandelt – dazu noch in ein fettes Miststück.

Thorborg legt prüfend die Hände um ihre Oberschenkel.

So eng war die Hose im letzten Quartal noch nicht, wochenlang nur noch Cheat Days ohne Sport einzulegen, musste ja Spuren hinterlassen. Sie ist dabei, zu einer dieser aufgedunsenen Personen zu mutieren, die sie heimlich verachtet hat. Sie dachte immer, diese Leute würden sich nur hängen lassen.

Mit Schröder hätten sie die Sache vielleicht noch rumreißen können. Aber der musste ja mal wieder seinen Alte-weiße-Männer-Scheiß absondern, von wegen Anna-Lena sei zu jung. Er hatte ja schon einige bizarre Vorträge gehalten, aber das war definitiv der bizarrste.

Thorborgs Mundwinkel zucken kurz nach oben.

Es war einfach naiv anzunehmen, Schröder würde sich ändern.

Warum sollte er, sein Leben funktioniert ja auch so, zumindest für ihn. Und seinem Aussehen schadet es anscheinend auch nicht. Komplett ohne Ambitionen unterwegs zu sein, bedeutet eben auch: keine Sorgen, kein Verschleiß. Bis auf ein paar graue Haare mehr an den Schläfen war er völlig unverändert. Okay, seine Verschrobenheit hat sich vielleicht ein bisschen verschärft – sie musste zehn Minuten lang raten, warum sein neues Kennzeichen auf DR529 endet.

Natürlich ist er immer noch total verliebt in sie, das konnte man an jedem seiner Blicke ablesen. Das hätte ohnehin nur Probleme gegeben, wenn sie wieder im gleichen Büro sitzen.

Thorborg stemmt sich hoch und tippt auf das kleine Display an der Wand, mit dem sich die Jalousien steuern lassen. Unter leisem Wimmern beginnen die Lamellen sich zu drehen und den Blick über die nächtliche Stadt zu verdunkeln.

Schröder hat’s gut, der macht sich nie Sorgen. Beneidenswert.

Plötzlich zuckt Thorborgs Hand zurück zur Jalousien-Steuerung, das Wimmern verstummt.

Etwas stimmt nicht, sie kann bloß nicht sagen, was.

Doch, sie kann es sagen!

Bevor sich die Jalousien komplett geschlossen hatten, war da ein Schatten unterhalb ihres Bürofensters, als ob sich jemand gegen die Hauswand drücken würde. Wer immer es war, er musste allein unterwegs sein. Unter den Laternen am Ufer hatte sich nämlich nichts bewegt, nicht mal ein Hund.

Obwohl der Vermieter sie ausdrücklich darauf hingewiesen hat, das nicht zu tun, schiebt Thorborg zwei Lamellen mit der Hand auseinander, um erneut einen Blick auf die Uferpromenade zu werfen.

Es ist doch niemand da. Sie hat sich geirrt.

Thorborg lässt die Jalousien wieder zugleiten, verstaut sorgfältig ihren Laptop in der schwarzen Coccinelle-Tasche und schaltet das Schreibtischlicht aus.

Vielleicht ist es besser, dass Schröder Nein gesagt hat.

Systemabsturz

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