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Die Wertschätzung gegen den Nihilismus

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Die letzte Herausforderung betrifft die moralischen Anlagen und die Bürgertugenden, auf denen die wirkliche Ausübung der Demokratie beruht. Sie wirft auch das Problem des Nihilismus auf und verlangt die Untersuchung der Verbindung, die zwischen der gegenwärtigen Erfahrung der Entsubjektivierung und der Anfälligkeit der Individuen für die autoritären Formen der Macht, ja den Totalitarismus, besteht.

Die liberalen Demokratien, die auf dem Pluralismus gründen, will sagen auf die Annahme der moralischen Gleichheit der Individuen und die Toleranz, werden geschwächt, weil ihre Prinzipien von außen und von innen in Frage gestellt werden. Dieses Gesellschaftsmodell weckt heute weniger Enthusiasmus, weil die Zahl der Abgehängten dem Ziel der ökonomischen Prosperität, mit dem das demokratische Ideal verbunden ist, widerspricht und es aufgrund der sozialen Spaltung und der fehlenden Vertretung des Allgemeinwohls sein Prestige verloren hat. Außerdem haben die Bürger oft das Gefühl, ihrer Souveränität beraubt zu werden, was dazu führen kann, dass sie sich statt in der Öffentlichkeit nur noch im Privaten einbringen oder Protest und Reaktion zu den einzigen Modellen der Teilhabe am öffentlichen Leben erheben.

Die zeitgenössische politische Philosophie bietet nützliche Orientierungshilfen, um die repräsentativen Demokratien mit globalen und langfristigen Anliegen, die die Umwelt und die Sorge um die künftigen Generationen betreffen, vereinbar zu machen. Desgleichen haben im Laufe der letzten dreißig Jahre zahlreiche Arbeiten unsere Kenntnis der deliberativen Demokratie bereichert, einer Demokratie also, deren Legitimität nicht mehr ausschließlich an den großen Zusammenkünften im Rahmen von Wahlen hängt, sondern auch – noch vor dem Stattfinden kollektiver Beschlüsse – an der Organisation von Debatten, die den Bürgern ermöglichen, sich gemäß den Regeln der Argumentation miteinander auszutauschen.11 Der Wiederaufbau der Demokratie setzt also voraus, dass die Repräsentierten ihren Blickwinkel immer mehr erweitern, die Frage nach dem Gemeinwohl stellen und so öffentlichen Gebrauch von ihrer Vernunft machen. Was die Repräsentanten betrifft, so sind sie aufgefordert, das Spiel des Kuhhandels und der Versprechungen, das den Wahlkampf begleitet, aufzugeben und eine verantwortlichere und ganz allgemein respektvollere Haltung einzunehmen. Schließlich wollen die partizipativen Verfahren diejenigen Individuen, die durch ihre ökonomische, soziale und kulturelle Situation die meiste Zeit von den Entscheidungen ausgeschlossen sind, sichtbarer machen. Trotz dieser verschiedenen Beiträge muss jedoch eine relative Armut der Debatten konstatiert werden, in denen der Ruf nach dem Plebiszit und der Rückgriff auf Invektiven oft die Regel ist.

Man kann nicht sagen, dass es den Umwelt- und Tierethiken besser gelungen wäre, den Lauf der Geschichte zu ändern. Seit mehr als vierzig Jahren haben sie solide Argumente entwickelt, die zeigen, dass die Natur nicht nur einen instrumentalen Wert hat und die Ethik sich nicht auf die Beziehungen zwischen den heute lebenden Menschen beschränkt.12 Ihre theoretische Kreativität ist unbestreitbar, aber in der Praxis hat sich nicht wirklich etwas geändert. Diese Kluft zeugt davon, wie schwer es der Philosophie fällt, eine initiative Kraft und nicht nur eine kritische Begleitung zu sein. Sie zeugt von einem teilweisen Scheitern, das daher rührt, dass die Moral und das politische Denken von jeder Frage nach dem guten Leben, jeder Frage danach, was einem Menschen erlaubt, nicht nur zu überleben und seine Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sich auch zu entfalten, abgeschnitten ist.

Das Ende der Geschichtsphilosophien, die der individuellen Existenz Dichte verliehen, hat eine ideologische Leere hinterlassen, die nichts hat ausfüllen können. Das Handeln unserer Vorfahren spielte sich auf zwei Ebenen ab; es hatte für sie einen konkreten Sinn, aber es transzendierte auch die Gegenwart: Gott oder die Geschichte würden über sie urteilen. Dagegen sind die unmittelbare Befriedigung und das materielle Wohl in unserer Zeit oft die einzigen Ziele der Menschen. Diese Situation hat den gesamten öffentlichen Raum dem Markt und dem Ökonomismus überlassen: Die Individuen haben keinen anderen Horizont mehr als den Konsum, und nach und nach verlieren sie jedes Gefühl dafür, was sie mit den anderen verbindet. Dass eine solche Existenz nur eine individuelle Dimension hat und dass das Geld und das Streben nach Prestige als höchste Güter gelten, erklärt großenteils die verbreiteten Gefühle von Frustration und das Fehlen von sozialer Harmonie.

So hat sich der Kapitalismus als einzig mögliches System zu einem Zeitpunkt durchgesetzt, da das universalistische Ideal der Aufklärung – durch die beiden Weltkriege und die Kolonisierung bereits in Frage gestellt – keine zweifelsfreie Referenz mehr sein konnte. Der Humanismus war nicht mehr nur Synonym für Frieden und individuelle Emanzipation, sondern auch für Speziesismus und sogar für Phallogozentrismus.13 Wenn der Universalismus nicht tot ist, wie man stillschweigend annimmt, wenn man vom guten Leben und nicht nur von Gerechtigkeit spricht, und wenn der Humanismus noch eine Zukunft hat, dann kann es sich nur um einen kontextgebundenen Universalismus und um einen erneuerten Humanismus handeln, der das Ziel hat, den Primat der Politik über die Ökonomie wieder durchzusetzen und den Individuen bei der Entwicklung der Ressourcen zu helfen, die für einen Übergang zu einem ökologisch vertretbaren und gerechteren Entwicklungsmodell nötig sind. Es gibt jedoch zahlreiche Hindernisse für diese Erneuerung. Eine der Hauptschwierigkeiten liegt in der enthemmten Form von Nihilismus, die unserer Zeit eigen ist. Nicht nur besteht die Gefahr, dass die Menschen auf sozialer und ökonomischer Ebene zugrunde gerichtet werden, sondern sie können auch aufgrund ihrer moralischen und spirituellen Misere unfähig werden, sich der Herrschaft zu entziehen, ob sie nun zu denen gehören, die die anderen ausbeuten, oder zu denen, die ausgebeutet werden.

Hannah Arendt hat mit Nachdruck auf der zugleich sozialen, politischen und anthropologischen Dimension der Verlassenheit (loneliness) insistiert, die nicht nur die Einsamkeit, sondern auch die Tatsache bezeichnet, dass sich das Individuum nur noch als Produktiv- und Konsumkraft wahrnimmt und alles verloren hat, was es an der gemeinsamen Welt teilhaben lässt.14 Die Verlassenheit bedroht die Massendemokratien; die unter ihr leidenden Individuen sind besonders empfänglich für autoritäre Politikformen, die den Menschen entwürdigen und die gemeinsame Welt zerstören.15 Doch wird die Entsubjektivierung, die viele unserer Zeitgenossen erfahren, von einem unbedingten Durchsetzungswillen und von Kontrollobsessionen begleitet. Wie das Subjekt der Verlassenheit spürt das Individuum nur die individuelle Dimension seiner Existenz, aber sein Verhalten verrät die Furcht vor der Schädigung des Körpers, die Schwierigkeit, die eigene und die fremde Verletzbarkeit zu akzeptieren, die Furcht vor der Alterität und ihre Verleugnung und schließlich die Versuchung, das genetische Erbe der Menschheit und der anderen Lebewesen zu kontrollieren. Dieser Wille zur Kontrolle und diese Furcht vor der Alterität und dem Körper charakterisieren bei vielen Menschen heute das Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen und zur Technologie.

Der Nihilismus, schrieb Leo Strauss, ist eine unartikulierte Revolte: Er bezeichnet „den Wunsch, die gegenwärtige Welt und ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu vernichten, einen Wunsch, der von keiner klaren Vorstellung dessen begleitet wird, was man an ihre Stelle setzen soll“. Aber die zeitgenössische Form des Nihilismus kommt nicht, wie im Deutschland der dreißiger Jahre, aus dem Abscheu vor einem „Kulturbolschewismus“16, in dem an die Stelle von Heroismus und Opferbereitschaft die Zerstreuungen getreten sind. Die Individuen unserer Tage sind überwiegend Materialisten, selbst die, die den Westen hassen und sich in religiösen Extremismus flüchten. Das Problem des gegenwärtigen Nihilismus ist die Unfähigkeit, aus sich herauszutreten und das Bedürfnis, seine Kontrolle auf alles auszudehnen, besonders auf den eigenen Körper und den der anderen. Darum wird dieses Bedürfnis nach Herrschaft vor allem gegenüber verwundbaren Personen und Tieren ausgeübt.

Unsere Zeit ist eine, in der die Gewalt gegen das Lebendige keine Hemmung mehr kennt, weil die Alterität, die Verwundbarkeit, die Unvorhersehbarkeit und mit der Sterblichkeit alles Lebendigen unsere eigene Sterblichkeit selbst Gegenstand unserer Furcht, ja unseres Hasses sind. Doch ist dieses Zeitalter auch das des Lebendigen. Die Sorge um das Lebendige entsteht in einem Augenblick, da die Umweltkrise, die Gewalt gegen ganze Gruppen von Menschen und die schrecklichen Lebens- und Sterbensbedingungen, die den Tieren aufgezwungen werden, niemandem mehr entgehen können. Sie entsteht zeitgleich mit der Tatsache, dass in einem Klima allgemeiner Gewalttätigkeit mehr und mehr Individuen der Meinung sind, dass die Anerkennung der Heterogenität der Lebens- und Kulturformen der Schlüssel für ein besseres, ja für ein gutes Leben ist.

Leo Strauss sagte über die jungen deutschen Nihilisten, die später dem Nazismus anhingen, dass es ihnen an Lehrern alten Stils fehlte, die fähig gewesen wären, ihnen das Positive ihrer Revolte gegen die überkommene Kultur der Aufklärung zu zeigen. Man hätte ihnen helfen müssen, diese Revolte in ein konstruktives Projekt umzuwandeln. Auch wir brauchen eine Philosophie, die unserer Ablehnung eines Entwicklungsmodells, das uns enthumanisiert, uns ständig gegen unseren Nächsten stellt, die Umwelt und das soziale Netz zerstört und den Tieren unerhörte Leiden zufügt, eine artikulierte Form gibt. Diese Philosophie kann nicht die Wiederaufnahme alter moralischer Werte sein. Denn Werte sind lediglich Subjektivierungen, und wenn sie defensiv vertreten werden, erscheint ihre Schwäche in vollem Licht. Unsere Hypothese ist, dass eine Ethik der Tugenden, die auf einer ersten Philosophie beruht und eine moralische Disposition entwickelt, die die Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit, des Eigenwerts der anderen Lebewesen und der anderen Kulturen fördert, uns vom Nihilismus zum Zeitalter des Lebendigen und zur Wertschätzung gelangen lassen kann. Der Inhalt dieser Ethik der Wertschätzung und ihre Definition werden nach und nach im Verlauf dieses Werks deutlich werden, aber wir können jetzt schon sagen, dass ihr Hauptziel darin besteht, die Theorie mit der Praxis zu vereinen und dass sie die Matrix mehrerer Tugenden ist. Sie verbindet das Verhältnis zu sich selbst, das Verhältnis zu den anderen, die Umwelt, die Tierethik und die Politik miteinander.

Ethik der Wertschätzung

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