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Eine Abhandlung über die Methode

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Diesem Itinerar, das die von den Philosophen der Antike und vom Christentum, aber auch von einigen modernen Denkern beschrittenen Wege benutzt, folgen wir in den ersten beiden Kapiteln, die unter dem Titel „Genese der Wertschätzung“ den ersten Teil dieses Werks bilden. Was muss man von diesem Erbe bewahren und was aufgeben, wenn die Ethik der Wertschätzung sich weder auf die Kosmologie der Alten, noch auf den Glauben des Mittelalters stützt und ihr Kriterium wie bei den Modernen die Subjektivität ist, nicht die Tradition? Welcher Individuationsprozess ist in der Wertschätzung, die die Erfahrung des Unermesslichen, des „Inkommensurablen“ impliziert, im Spiel?

Wenn wir Letzteres mit der gemeinsamen Welt gleichsetzen und wenn wir die Ethik der Wertschätzung an eine Philosophie der Körperlichkeit anlehnen, dann wird ihr Gegenstand deutlicher, und ihre Eigenart gegenüber den antiken Morallehren und den gegenwärtigen neuaristotelischen Ethiken erscheint in vollem Licht. Der Begriff der Wertschätzung emanzipiert sich von seinem bernhardinischen Ursprung und nimmt eine zeitgenössische Bedeutung an, wenn er nicht eine Aufstiegsbewegung zu Gott, sondern eine Vertiefung des Subjekts beschreibt, die über die Erforschung des Fühlens und über das tiefe Verständnis dessen verläuft, was es an die anderen Lebewesen und die Gesamtheit der Generationen bindet. Der zweite Teil, „Praktiken der Wertschätzung“, umfasst das dritte Kapitel, das über das Verhältnis zum Tod und über die Verwundbarkeit handelt, und das vierte Kapitel, das eine Politik der Wertschätzung entwickelt, indem es zeigt, welche philosophische Bedeutung der Geburt, der Arbeit und der Anerkennung in dem Subjektivierungsprozess zukommt, der zu einer Emanzipation der Individuen führen kann. Es geht darum, die Bedingungen des Zusammenlebens zu untersuchen, das die Bürger an der kollektiven Aufgabe der Bewahrung oder Rekonstruktion der Demokratie teilnehmen lässt.

Im letzten Teil, „Wege der Wertschätzung“, geht es um die Frage, wie die Wertschätzung im aktuellen Kontext möglich ist und welche Hindernisse die Individuen überwinden müssen. Beginnend mit einer Untersuchung der irrationalen und unbewussten Triebfedern unserer destruktiven Verhaltensweisen, behandelt das fünfte Kapitel, wie eine Erziehung aussehen könnte, die die Triebe, aber auch die Rolle der moralischen Vorstellungskraft berücksichtigt, während das sechste Kapitel die Verbindung untersucht, die zwischen dem moralischen Unterscheidungsvermögen und dem Geschmack besteht, und zeigt, in welchem Sinn die Wertschätzung zugleich eine Ethik und eine Ästhetik ist.

Leo Strauss glaubte, dass einzig die Rückkehr zur antiken politischen Philosophie, die das Regieren über die Menschen nicht von jeder Frage nach dem guten Leben trennte, die Demokratie bewahren könnte, deren Fragilität Nazismus und Kommunismus gezeigt hatten und die vom Schwinden jedes gemeinsamen Horizonts weiter geschwächt wurde. In diesem Werk stellen wir die Hypothese auf, dass der Übergang zu einer Welt, die den Menschen, den Tieren und der Natur Achtung zollt, eine neue Ethik der Tugenden verlangt. Sie soll als Stütze unserer in Les Nourritures vorgestellten politischen Theorie dienen. Die Frage ist, welche politischen Theorien der Vergangenheit uns weiterhelfen können und in welchem Maße es ihnen gelingt, die Fragen zu beantworten, die die unseren sind. Desgleichen sind die Tugenden zu benennen, die wir benötigen, um die Schwierigkeiten unserer Zeit intellektuell und existentiell anzugehen und die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überwinden, die nicht nur das relative Scheitern der gegenwärtigen moralischen und politischen Philosophien beweist, sondern auch die Rationalität in Misskredit bringt. Welche Ethik und welche Politik können dem Ideal der Emanzipation des Subjekts und der sozialen Gerechtigkeit, das das der Aufklärung ist, in einem Kontext wieder Glaubwürdigkeit verschaffen, in dem der Mensch nicht mehr als ein von den anderen Lebewesen und der Natur isoliertes Reich innerhalb eines Reichs zu denken ist?

Das sind die Fragen, die dieses Buch inspiriert haben. Es stellt sich dar als eine Art Abhandlung über die Methode, die für diejenigen bestimmt ist, die meinen, „daß wir an der äußeren Welt [nichts] verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Inneren gebessert haben“20.

1 Paul Ricoeur, Das Willentliche und das Unwillentliche, Paderborn, Fink, 2016, p. 156.

2 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart, Reclam, 2017, p. 60.

3 Der Gesellschaftsvertrag, von dem die Rede ist, ist der im zweiten Teil von Les Nourritures. Philosophie du corps politique, Paris, Seuil, „L’Ordre philosophique“, 2015, behandelte.

4 Gertrude Elizabeth M. Anscombe, „Die Moralphilosophie der Moderne“ (= „Modern Moral Philosophy“), in Aufsätze, hrsg. und übers. von Katharina Nieswandt und Ulf Hlobil, Berlin, Suhrkamp, 2014, p. 142–170.

5 Der Begründer des Utilitarismus, der heute eine breite Strömung ist, ist Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1789. Dt.: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung, Saldenburg, Verl. Senging, 2013.

6 William James, Pragmatism. A new Name for some old Ways of Thinking, 1907. Dt.: Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, Darmstadt, wbg, 2001. John Dewey, The Public and its Problems, 1927. Dt.: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Berlin u.a., Philo, 2001.

7 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Hamburg, Meiner, 1985, II, 4, 5, 6, 9; III, 4; V, 10, 1135b8–11; VII, 1152a30–33.

8 Ovid, Metamorphosen, Lat./dt., Stuttgart, Reclam, 2016, 7, 7, 20.

9 Corine Pelluchon, Manifeste animaliste. Politiser la cause animale, Paris, Alma, 2017.

10 Leon Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, California, Stanford University Press, 1957. Dt.: Theorie der kognitiven Dissonanz, Bern, Huber, 1978.

11 Corine Pelluchon, Les Nourritures, Kap. 1 und 2.

12 Die Umweltethiken, die am meisten dazu beigetragen haben, die Kategorien der Ethik durch eine Anwendung auf die Natur zu erneuern, gehen auf die Erben Aldo Leopolds zurück, des Autors des berühmten A Sand County Almanac: And Sketches Here and There, Oxford University Press, 1949. Dt.: Am Anfang war die Erde. Plädoyer zur Umwelt-Ethik, München, Beck, 1992. Siehe auch die Autoren, die versammelt und übersetzt sind in Éthique de l‘environnement. Nature, valeur, respect, hrsg. v. Hicham-Stéphane Afeissa, Paris, Vrin, 2007. Einen vollständigen Überblick liefert Gérald Hess, Éthiques de la nature, Paris, PUF, 2013. Zur Tierethik verweise ich auf La Philosophie animale, Différence, responsabilité et communauté, hrsg. v. Hicham-Stéphane Afeissa und Jean-Baptiste Jeangène Vilmer, Paris, Vrin, 2010.

13 Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie II, übers. v. E. Moldenhauer, H.-H. Ritter und T. König, Frankfurt, Suhrkamp 1975. Jacques Derrida, „Il faut bien manger ou le calcul du sujet“, Points de suspension, Paris, Galilée, 1992, p. 294.

14 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1956 III. Totale Bewegung und totale Herrschaft, p. 750 und 722. Siehe auch Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, München, Piper, 1994, p. 278.

15 Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München, Stuttgart, Kohlhammer, 1960, p. 58.

16 Leo Strauss, „German Nihilism“ (https://archive.org/stream/LeoStraussGermanNihilismIntegral1941) ©interpretation (konsultiert am 21.2.2019).

17 Philippa Foot, Die Natur des Guten, übers. v. Michael Reuter, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, p. 44–58.

18 Dieses Werk ist die Fortsetzung von Les Nourritures. Philosophie du corps politique und steht in der Kontinuität von Éléments pour une éthique de la vulnérabilité. Les hommes, les animaux, la nature, Paris, Cerf, 2011 und L’Autonomie brisée Bioéthique et philosophie, Paris, PUF, 2009, 2014. Diese drei Bücher bilden die Philosophie der Körperlichkeit und des relationalen Subjekts, die das Fundament der Ethik der Wertschätzung ist.

19 Diese beiden Verfahren teilen die wenigen Autoren, die eine Ethik der umweltbezogenen Tugenden erarbeitet haben, wie Rosalind Hursthouse, Thomas E. Hill Jr., und Ronald Sandler. Siehe Rosalind Hursthouse, „Environmental Virtue Ethics“, in Rebecca L. Walker und Philip J. Ivanhoe (ed.), Environmental Ethics, Oxford, Oxford University Press, 2007, p. 155–172; Thomas E. Hill Jr., „Ideas in Human Excellence and Preserving Natural Environments“, in Ronald Sandler und Philip Cafaro, Environmental Virtue Ethics, Lanham, MD, Rowman & Littlefield Publishers Inc., 2005, p. 47–59, und Ronald Sandler, Character and Environment. A Virtue-Oriented Approach to Environmental Ethics, New York, Columbia University Press, 2007. Zu einer Gesamtdarstellung siehe Jean-Yves Goffi, „L’éthique des vertus et l’environnement“, Multitudes, 2009/1, Nr. 36, p. 163–169.

20 Etty Hillesum, Das denkende Herz der Baracke, Freiburg/Heidelberg, Kerle, 1983, p. 98.

Ethik der Wertschätzung

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