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Lob der Unruhe Die im Voraus beweinte Zukunft

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In einer 1961, also fünfzehn Jahre nach der Atomexplosion in Hiroshima, publizierten Geschichte zeigt Günther Anders, wie Noah auf der Suche nach Personen, die ihm helfen könnten, eine Arche zu bauen und gleichzeitig den Kaddisch zu rezitieren, durch die Stadt läuft. Er trägt Trauer um zahlreiche Verwandte, die aber noch leben oder noch gar nicht geboren sind. „Wenn ich hier vor euch stehe… so weil ein Auftrag an mich ergangen ist. Der Auftrag diesem Schlimmsten zuvorzukommen. Drehe die Zeit um, nimm den Schmerz schon heute vorweg, vergieße die Tränen im voraus!“35 Die beweinte Zukunft bezeugt die für die Ethik bestehende Notwendigkeit, die künftigen Generationen in ihre Rechnungen einzubeziehen. Auch wird die Unvermeidlichkeit der mit der Antizipation der Katastrophe assoziierten Affekte hervorgehoben, wie zum Beispiel der Kummer, aber vor allem die Angst, die eine Angst um die Welt ist, nicht bloß eine um sich selbst. Ohne diese Antizipation des Schlimmsten, durch die die Individuen sich des gewaltigen Risikos bewusst werden, das sie eingegangen sind, und ohne ein Bild, das zeigt, wie eine vernichtete Welt aussähe, würde niemand seine Gewohnheiten ändern.

Hätte nicht Noah den Mut aufgebracht, zu hadern, Komödie zu spielen, in Sack und Asche zu gehen … den Totensegen zu sprechen für die noch Lebenden und die noch nicht Geborenen … nicht nur die Arche wäre niemals gebaut worden, auch wir wären nicht da, seine Ur-ururenkel, und keiner von uns hätte je die Freude gehabt, die Schönheit der wieder ergrünten Natur zu bewundern.36

Während der Stoizismus seine Jünger den Abstand lehrt, ist es heute zwingend geboten, dass die Menschen die kollektive Dimension ihrer Existenz wahrnehmen und sich mit den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Generationen verbunden fühlen. Der nukleare Holocaust, den Noah in Günther Anders‘ Erzählung fürchtet, würde die Lebewesen daran hindern, geboren zu werden, und würde die gemeinsame Welt zerstören. Denn er repräsentiert die Möglichkeit der Auslöschung, nicht bloß das Risiko, Personen und sogar ganze Völker verschwinden zu sehen.37 Diese Gefahr macht die Menschheit zu einer einzigen und stürzt die Ethik gleich zweifach um: Sie macht aus den gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Generationen und der gemeinsamen Welt, will sagen auch aus dem natürlichen und kulturellen Erbe, Gegenstände unserer moralischen Wertschätzung, und sie macht den Rückgriff auf die Affekte, die in der stoischen Ethik als Hindernisse der Selbstbefreiung galten, unumgänglich. Eine Vermittlung durch die Imagination und die Fiktion ist sogar notwendig, wenn die Individuen das Maß der Schäden, die sie anderen zufügen können, einschätzen und zu verantwortlichem Handeln motiviert werden sollen.

In der Tat erstreckt sich unsere technologische Macht weit über die Gegenwart hinaus, und die Zahl der aktuellen und künftigen Opfer übertrifft alles, was wir uns vorstellen können. Besonders evident ist dies bei der Atombombe. Unsere Verantwortung geht über unsere Kapazitäten zur Identifikation mit den Opfern, die noch ungeboren sind oder deren Gesicht wir nicht sehen, hinaus. Unter anderem zerstören wir mit unserer Lebensweise die Ökosysteme, tragen zum Verschwinden bestimmter Arten bei, verschmutzen die Luft, die die anderen atmen, und fügen der Biosphäre gravierende Verletzungen zu, aber all diese verheerenden Schäden, von denen manche zu irreversiblen Verlusten führen, sind nicht immer unmittelbar sichtbar.

In der antiken Welt konnten die Individuen die Wirkung ihrer Handlungen und die Personen, denen sie Schaden zufügten, sehen. Heute wird die Struktur unserer Verantwortung von unseren Technologien und von der Globalisierung bestimmt. Die Produkte, die wir, wie die Pestizide, im Alltag oder in der Landwirtschaft verwenden, die Energieressourcen, die wir brauchen, um uns zu wärmen, die Lebensmittel, von denen wir uns ernähren, und die Kleider, die wir kaufen, sie alle haben ihre Auswirkung auf die Umwelt und auf die anderen, seien es Tiere oder Menschen. Sie tragen zur Erderwärmung bei, zur Erosion der Biodiversität, zur Schädigung der Luftqualität und zu den daraus folgenden Gesundheitsproblemen. Aber man kann nicht sagen, dass die Menschen diese Schäden absichtlich erzeugt hätten oder dass es ihr Ziel gewesen wäre, den anderen Böses zu tun. Zudem ist die Fabrikation der Produkte oft delokalisiert: Eine Jeans, die in Paris verkauft wird, kann in Pakistan in einer Fabrik ausgewaschen worden sein, die die in Frankreich gültigen Gesundheits- und Umweltnormen nicht respektiert, und ihr Reißverschluss kann aus einem Unternehmen stammen, das Kinder beschäftigt. Die Schäden, die wir anrichten, entspringen nicht direkt unserem Willen, sondern sind Kollateraleffekte unserer Handlungen. Auf indirekte Weise tragen wir zum Übel bei, und in dem Maß, wie wir Regierungen stützen, die ein System akzeptieren, das Standortverlagerungen und Subunternehmen fördert ohne Regeln zu schaffen, sind wir auch verantwortlich.38

Diese Struktur unserer Verantwortung, die an den aktuellen Kontext gebunden ist, bedeutet, dass eine Ethik, die auf die Perfektionierung des Subjekts, auf seine Seelenruhe und auf seine Fähigkeit, die Gegenwart hinzunehmen, ausgerichtet ist, nicht zielführend sein kann. Die Unruhe, die von der Angst ausgeht, „schuldlos schuldig“39 zu werden und ohne Absicht den anderen erhebliche Schäden zuzufügen, die Sorge, das Böse durch Unterlassung zu tun, weil wir die Gefahr nicht gesehen haben oder sie aus Mutlosigkeit nicht sehen wollten, die Angst, unser Platz an der Sonne könnte sich als Usurpation des Platzes eines anderen erweisen, sind Affekte, die unabdingbar sind, um zu einem Bewusstsein unserer Verantwortlichkeit zu gelangen. Diese Affekte sind negativ, in dem Sinn, dass sie schmerzhaft sind und auf unsere Zerbrechlichkeit verweisen, darauf, dass unser Leben und das der anderen bedroht ist, aber sie verpflichten uns, die Augen zu öffnen und zu handeln.

In unserer Zeit ist die Unruhe eine Tugend und die Ruhe egoistisch. Rationalität und Argumentation werden zuweilen benutzt, um das nicht zu Rechtfertigende zu rechtfertigen, wie man jedes Mal sehen kann, wenn die Regierungen, die Unternehmen und die Arbeitgeber beschwichtigende Argumente vorbringen – etwa in dem Sinn, dass die Atomreaktoren völlig unter Kontrolle seien, dass die Kinder, die am anderen Ende der Welt in den Textilfabriken arbeiten, dank dieser Arbeit zu essen hätten, dass die Tiere in der Massentierhaltung nicht leiden würden oder die Verbindung zwischen den massenweise über den Feldern versprühten Pflanzenschutzmitteln und der Explosion der Krebsrate nicht erwiesen sei.

Ethik der Wertschätzung

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