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Die Demut Die Demut, das Fundament des Verhältnisses zu sich selbst

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Wertschätzen (lateinisch considerare) kommt von cum (mit) und sideris, dem Genitiv von sidus, was keinen isolierten Stern bezeichnet (stella, astrum), sondern eine Konstellation von Sternen. Um Wertschätzung handelt es sich, wenn man etwas oder jemanden mit derselben Aufmerksamkeit behandelt, mit der man die Position und die Höhe der Sterne untersucht.1 In der Umgangssprache wird dieses Wort in Höflichkeitsformeln benutzt und zeugt von der Achtung, die man einer „hochgeschätzten Person“ entgegenbringt. Das Präfix cum deutet eine Aufmerksamkeitsanstrengung an, durch die man sich der Benommenheit, französisch der sidération, entzieht, in der man in eine Art Schockstarre verfällt und nichts mehr unterscheidet, sondern negativen Einflüssen ausgesetzt ist. Es unterstreicht auch die Verbindung, die zwischen dem Verhältnis zu sich selbst und der Kenntnis dessen besteht, was sich über einem und um einen herum befindet. Von Wertschätzung zu sprechen bedeutet, dass unser Verhältnis zu den anderen und der Welt von unserem Verhältnis zu uns selber abhängt.

Bei Bernhard von Clairvaux ist die Entdeckung dessen, was über einem ist – was nicht die Sterne meint, sondern die göttliche Wahrheit – nur in der Kontemplation zugänglich, die beschrieben wird als die dritte Art von Wertschätzung.2 Die erste Etappe dieser „Erkenntnis gleicherweise der menschlichen und göttlichen Dinge, die die Wertschätzung liefert3“, ist die Demut. Diese ist kein Affekt, sondern die Anerkennung der Zerbrechlichkeit der körperlichen Verfasstheit und der Opazität, in der wir uns befinden. In der Tat können wir weder uns noch die Welt und die göttlichen Dinge ohne die Vermittlung unserer Sinne erkennen, die uns von dem, was uns berührt, unterrichten4. Die Rationalität, die den Menschen eigen ist, ist eine fleischliche Rationalität, verschieden von der der Engel oder, im zeitgenössischen Kontext gesprochen, von der der Computer. Die Demut ist die Erfahrung, die wir an uns selbst machen, insofern wir aus Fleisch (caro) gemacht sind und unser Element die Erde ist, woran das hebräische Wort adam (Mensch) erinnert, das von adamah, „Erde“ kommt, wobei der Begriff Demut, französisch „humilité“, seinerseits ausgehend von humus („Erde“, „Boden“) gebildet ist. Die Kenntnis unserer selbst, die die Wertschätzung begründet, ist nicht abstrakt; sie beruht auf unserer Stellung auf der Erde und konstituiert sich ausgehend von dieser fleischlichen Erfahrung, die auch die Erfahrung unserer Grenzen ist, also all dessen, was sich unserer Herrschaft und unserem Willen entzieht.

Der aufmerksame und wohlwollende Blick, den das Subjekt der Wertschätzung auf die Welt und auf die Wesen wirft, ist keiner von oben herab. Der Ausgangspunkt ist das Bewusstsein davon, „was du bist, wer du bist und wie du beschaffen bist“5. Die Selbsterkenntnis umfasst auch die soziale Identität, wie Bernhard von Clairvaux andeutet, wenn er sich mit seinem Werk, einem Päpstespiegel, an Papst Eugen III. wendet. Statt jedoch Ratschläge zu geben, die dem Hauptinteressenten erlauben, über die anderen zu herrschen oder die Macht zu behalten, ermahnt er ihn, die Wertschätzung zu praktizieren, was heißt, dass er nicht seine ganze Zeit mit der Führung der Geschäfte verbringen soll, die ihn der Gerechtigkeit zu entfremden und ihn von sich selbst und der Wahrheit abzubringen drohen, sondern dass er seine fleischliche Beschaffenheit bedenken soll. In der Tat ist die Aktion nichts ohne die Wertschätzung, die verlangt, dass man sich um sich selbst sorgt: „Wer gegen sich selbst böse ist, gegen wen ist der gut?“6 Wie bei Platon und Aristoteles muss der, der politische Verantwortung übernimmt, imstande sein, sich selbst zu regieren, aber anders als die griechischen Philosophen besteht Bernhard von Clairvaux auf der Demut, die den Papst an seine Stellung als Gezeugter erinnert: Bevor du den Bischof schätzest, der du geworden bist, schreibt er, bedenke, dass du „Mensch bist, denn als Mensch bist du geboren7“.

Die Wertschätzung wurzelt in der Demut, die das Subjekt aller gesellschaftlich vorgegebenen und an den Rang gebundenen Attribute entkleidet. Sie entblößt das Individuum und verbindet es mit allen anderen, indem sie es den anderen gleich macht und durch sein Fleisch an alle Wesen bindet, die geboren wurden und sterblich sind.8 Die Demut ist der Weg, der zur Selbsterkenntnis und zur Wahrheit führt, ist der Ort der Beobachtung, von dem ausgehend man ein Auge auf die Wahrheit haben kann.9 Diese befindet sich ganz oben auf der Leiter der Demut, die Bernhard von Clairvaux mit der Jakobsleiter vergleicht – sie hat also Stufen. Ist man in der Selbsterkenntnis und in der Betrachtung der Wahrheit fortgeschritten, dann befindet man sich auf der Leiter der Demut oben. Die Unwissenheit dagegen entspricht auf der Leiter der Demut der untersten Stufe und auf der Leiter des Hochmuts dem Gipfel, wobei der Hochmut wie ein Balken das Licht daran hindert, zu unseren Augen zu gelangen, weil er das Haupthindernis für die Herstellung eines gesunden Verhältnisses sowohl zu uns selbst wie zur Gerechtigkeit und zur Barmherzigkeit ist.10

Es handelt sich um eine schmerzhafte Erfahrung, und Bernhard von Clairvaux vergleicht sie mit einem bitteren Trank.11 Sie lehrt, dass die hybris und die Fehler, derer wir andere anklagen, sich auch bei uns finden. Wenn ich mein Herz erforsche, erkenne ich das Böse, dessen ich fähig bin und werde mir meiner Schwächen bewusst. Darum führt die Demut nicht dazu, sich für besser als die anderen zu halten, sondern sich für ihre Verantwortlichkeit verantwortlich zu fühlen.12 Die Kenntnis des Menschlichen, die die Wertschätzung durch diese Rückkehr zu sich selbst, die die Demut ist, spendet, bringt das Subjekt dazu, sich dem Bösen, das von Seinesgleichen verübt wird, nicht fremd zu fühlen – was nicht heißen soll, dass es dieses billigen und nicht bekämpfen wird.

Die Demut führt zum Mitleid mit den anderen. Wenn man sich seiner Schwächen und Fehler bewusst ist, betrachtet man die der anderen mit einer Sanftmut, die weder mit Gleichgültigkeit noch mit einer übertriebenen Nachsicht etwas zu tun hat: Sie betrifft vor allem die Weise, wie ich mich an den anderen wende. Untrennbar von der Demut, von der sie eine Frucht ist, charakterisiert die Sanftmut auch mein Verhältnis zu mir selbst und entreißt mich jener Form des Hochmuts, die der Selbsthass ist.13 Außerdem macht die Demut, mich „inmitten der Ehren zum Verächter der Ehren“;14 sie lehrt, nicht als Herr zu befehlen, sondern „als Knecht“ zu handeln,15 d.h. die Autorität, die uns anvertraut ist, muss als ein Dienst verstanden werden, der den anderen und der Gemeinschaft zu entrichten ist. Ohne Demut weiß das Individuum nicht, was ihm fehlt und missbraucht seine Macht; es ist in der Herrschaft.

Die Demut ist also nicht einfach eine Tugend, sie ist das Fundament aller Tugenden. Ohne sie ist es nicht möglich, das Maß zu erreichen und zu bewahren. Insofern ergänzt Bernhard von Clairvaux die antiken Ethiken, die die Eigenliebe anprangern, ohne die Bedeutung der Demut anzuerkennen. Denn die vier Kardinaltugenden, die Gerechtigkeit, die Klugheit, der Mut und die Mäßigkeit, die jeweils erlauben, das Maß zu suchen, es zu finden, es zu verteidigen und zu gebrauchen, sind ohne die Demut unwirksam.16 Diese bezeichnet das erste Moment und die Grundlage der Wertschätzung, denn sie reinigt Geist und Herz des Individuums. Sie ist es, die echte Sorge um sich selbst ermöglicht; nicht nur hindert sie das Subjekt daran, sich in den angestrebten Gütern zu irren, die Ehrbezeugungen der Wahrheit, den materiellen Besitz der Gerechtigkeit vorzuziehen, sondern darüber hinaus bereitet sie den Boden für den Erwerb der Gesamtheit der Tugenden und ihren richtigen Gebrauch. Und die Demut ist nicht bloß theoretisch: Sie ist eine existentielle Prüfung, in deren Verlauf das Individuum die Erfahrung seiner Grenzen macht und darunter leidet. Auch führt sie zur Nächstenliebe,17 während das bloße Erfassen der Wahrheit, solange ihr die Demut nicht vorangeht, nicht notwendig von Mitleid und Empathie begleitet ist.

Diese Rolle der Demut und diese Verbindung von Wahrheit und Nächstenliebe ist in der Wertschätzung wesentlich und unterscheidet diese von der Weise, wie die Vortrefflichkeit des Menschen in den antiken Lehren von der Moral aufgefasst wird. Anstatt die Tugenden für ein für alle Mal erworbene Seinsweisen zu halten, in dem Sinn, dass der Gerechte immer gerecht sein wird und sein Mut niemals zur Tollkühnheit wird, impliziert die Wertschätzung, den Sinn für das Maß zu wahren. Denn wenn die Gerechtigkeit gerecht sein soll, muss ihr die Mäßigkeit ihr Maß aufprägen. „Strebe nicht nach allzu großer Gerechtigkeit, so spricht der Weise.“18 Dieses Maß, das erlaubt, in der Weisheit die Nüchternheit anzustreben (sapere ad sobrietam19), ist das Wissen darum, was mir fehlt.20 Deshalb ist die Demut eine Methode, die das Individuum daran erinnert, dass es stets wachsam sein und seinen eigenen Fehlern ins Gesicht sehen muss. Die Wertschätzung zu besitzen, heißt zuerst, sich nicht selbst zu belügen.

Allerdings verlangt die Wertschätzung, die eine Weise ist, sich zu sich selbst und den anderen zu verhalten, neben der Demut eine richtige Einschätzung des eigenen Werts. Die Wertschätzung ist zugleich demütig und großmütig. In beiden Fällen geht es darum, sich selbst zu erkennen, aber die Demut entsteht aus der Anerkennung unserer Verfasstheit als gezeugte Wesen, aus der Konfrontation mit unserer Endlichkeit und dem Bewusstsein unserer Grenzen, während die Großmut auf dem gründet, was wir im Lauf der Zeit verwirklicht haben und worauf wir Wert legen. Die Demut geht der Großmut, die eine Tugend ist, voraus; sie bereitet das Subjekt darauf vor, eine richtige Einschätzung seiner selbst zu haben und darüber weder in Hochmut noch in Selbstverachtung zu verfallen.

Die Verbindung zwischen der Anerkennung unserer fleischlichen Verfasstheit und dem Mitleiden mit dem anderen, dessen Unglück uns berührt und der nicht mehr beneidet wird, und der Fähigkeit, die Schönheit der Dinge zu bewundern, findet sich im üblichen Gebrauch des Verbs „wertschätzen“ (considérer) wieder. Es geht darum, die Dinge und die Lebewesen zu betrachten, indem man ihnen Bedeutung zubilligt. Ein solcher Blick geht von einem selbst aus, aber dieses Selbst ist nicht das Ego, das seine Macht sichern und die Welt erobern will; vielmehr ist es sich seiner Zerbrechlichkeit und seiner Grenzen bewusst, und diese sind ihm nicht bloß Anlässe zum Klagen, denn sie öffnen es für den anderen, der – wie ein Wesen, das nicht transparent ist und sich der Macht entzieht – in seinem Geheimnis wahrgenommen wird.

In der Wertschätzung hängt der Wert, den ich anderen zuerkenne, nicht von meinem Blickpunkt ab. Jemandem Wert zuerkennen, einem menschlichen Wesen oder einem Tier, heißt anzuerkennen, dass es einen eigenen Wert hat, und seine Würde zu garantieren, heißt festzustellen, dass es nicht auf ein Ding oder ein bloßes Mittel reduziert werden darf und seine Existenz die Welt bereichert. Das Subjekt der Wertschätzung ermisst, was die anderen beitragen und spürt gegenüber der Welt ein Gefühl der Dankbarkeit. Man kann sagen, dass es sich nicht aus dem Auge verliert, in dem Sinn, dass es nicht mit den anderen oder mit der Natur verschmilzt und weiß, dass der Wert vom Menschlichen verliehen wird, dass er anthropogen ist. In jedem Fall gibt es zu, dass der Wert nicht anthropozentrisch ist, d.h. von seinen begrenzten und egoistischen Zwecken abhängt.

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