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Die Sorge um die Welt

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Die Tugendethiken machen aus dem Verhältnis zu sich selbst den Schlüssel für das Verhältnis zu den anderen und zur Welt. Die Frage ist, wie die Sorge um sich zu denken ist, wenn man dem Perfektionismus und sogar dem Egoismus entkommen will.

Bei Platon, im Ersten Alkibiades und in der Apologie des Sokrates, wird das für die lakedämonische Kultur emblematische Verhalten, dass man sich um sich sorgt, zu einem philosophischen Begriff. Die Sorge um sich (epimeleia heautou) ist an die berühmte Devise des „Erkenne dich selbst“ (gnôthi seauton) gebunden. Die Selbsterkenntnis hat nur Sinn, wenn man die wahre Bedeutung der Sorge um sich versteht und weiß, worum man sich sorgen muss. Sich um sich sorgen, heißt nicht, sich mit seinem Körper zu beschäftigen oder nach Ehren und Reichtümer zu streben, sondern sich um seine Seele zu kümmern. Man kann sich jedoch um das, was man nicht kennt, nicht sorgen, und man kann seine Seele nur erkennen, wenn man eine andere Seele betrachtet, so wie ein Auge sich nicht selbst sehen kann, außer wenn es sich in einem anderen Auge ansieht und seinen Reflex in der Pupille des anderen erblickt. Man muss also die Seele an der Stelle beobachten, wo die Tugend ist, will sagen man muss auf Weisheit und Gerechtigkeit achten, die die wahren Güter sind24. Sich um sich zu sorgen, heißt also, sich zu erkennen, indem man die Güter zu identifizieren weiß, die fähig sind, die Seele zu nähren.

Wie die medizinischen Metaphern, die man in diesen Texten findet, schon andeuten, ist die Sorge um sich nicht angeboren. Außerdem hat sie wenig zu tun mit dem Kult um die eigene Person oder mit dem Besitz materieller Güter, mit der Gesundheit und nicht einmal mit der Intelligenz, die blenden und der Eigenliebe schmeicheln kann. Der Hauptbeitrag Platons zur Ethik der Tugenden liegt in dem Ziel, das er der Sorge um sich zuweist: Das Individuum, das sich um seine Seele sorgt, strebt weder die Vollendung noch die Ruhe der Seele an, sondern die Gerechtigkeit. Die Sorge um sich ist nicht egoistisch, sondern der Sorge um andere untergeordnet. Der Unterschied zur stoischen Moral, die sich auf das Individuum, das berufen ist, sich von dem zu befreien, was es leiden lässt, konzentriert, ist schlagend und erklärt, welchen Sinn die Wertschätzung der Sorge um sich selbst gibt.

Für die Stoiker dient die Philosophie, die in der Moral kulminiert, dazu, die Seele zu heilen, indem man um sich herum eine „uneinnehmbare Festung“ errichtet, gegen die das Schicksal nichts vermag.25 Die innere Ruhe, der Wille, nicht mehr oder möglichst wenig zu leiden, erklärt, dass sie eine Technik entwickelt haben, die auf spirituellen Übungen und auf dem Erwerb eines logos beruht, der eine Rüstung ist, die dazu dient, die Individuen stärker zu machen.26 Die stoische Ethik ist eine Lebenskunst, ihr Ziel ist es, besser zu leben oder das Leiden zu vermeiden. Dieses Ziel ist persönlich, ja egoistisch: Man muss sich seiner Leidenschaften entledigen, nicht um fähig zu sein, die anderen zu regieren oder den Staat zu verbessern, sondern um zum „Athleten des Ereignisses“27 („athlèthes de l’événement“) zu werden. Indem es lernt, zu unterscheiden, was von ihm selbst abhängt und was nicht, hört das Individuum auf, der Spielball der äußeren Umstände zu sein.28 Es flottiert nicht mehr zwischen diversen Entschlüssen, es tritt heraus aus der von Seneca stultitia29 genannten Erregung und wird beständig. Alle diese Anstrengungen können ihm gelegentlich beim richtigen Umgang mit den anderen helfen, aber sie zielen zunächst darauf ab, es dem Zugriff des Leidens zu entziehen.

Die stoische Ethik ist eine Therapie, die darauf abzielt, die Person zur Herrin ihrer selbst zu machen, indem sie ihr hilft, Distanz zur Welt zu gewinnen. Die Abwesenheit von Leiden, die Gelassenheit und selbst die Freude verlaufen über den Rückzug.30 Die Stoiker lernen, die Wirklichkeit anzunehmen, aber es fehlt ihnen die Liebe zur Welt. Die Stelle, in der Seneca das Leben mit einer Reise in einer Stadt vergleicht, illustriert sehr gut den Nutzen, aber auch die Grenzen dieser Ethik:31 Wenn man sie überfliegen würde und so hoch wäre, dass man die Welt aus der Distanz betrachtet, dann stellt man fest, dass man unten selbst nur sehr wenig Platz einnimmt und nur sehr kurze Zeit da ist. Wenn man leben will, sagt Seneca, muss man versuchen zu genießen, was die Welt zu bieten hat, und zu vermeiden, allzu sehr unter den Übeln zu leiden, die sich unweigerlich einstellen werden. Die Kontemplation und das Studium der Natur sind nur eine Gelegenheit, sich seines Platzes im Universum bewusst zu werden und sich mit dem zu begnügen, was man hat. Nie verliert der Stoiker sich selbst aus dem Blick. „Ich jedenfalls beschäftige mich mit jenen wichtigeren Problemen und behandle, wodurch die Seele befriedet wird.“32 Wenn er den Blick über die Welt schweifen lässt, dann um besser zu verstehen, was ihn an eine Fülle von Determiniertheiten bindet. Von einer Anerkennung der fleischlichen Verfasstheit ist nicht die Rede. Es kommt im Gegenteil darauf an, „über alles, was widerfährt und geschieht, heraus[zuragen]“, denn die Tugend setzt voraus, dass man „nicht weiß, woher man kommt“33.

Dieses Verhältnis zur Welt, zu den anderen und zum eigenen Körper, sowie die Tatsache, dass die Ethik eine Technik ist, die unseren Widerstand gegen die Widrigkeiten des Schicksals stählt, steht der Wertschätzung entgegen. Wie diese richtet sich die stoische Moral zwar an alle, nicht nur an die, die sich politisch betätigen wollen, im Gegensatz zu dem, was Platon im Ersten Alkibiades sagt. Außerdem verlangt sie ein ständiges Training, denn man erwirbt die Weisheit nicht ein für allemal. Aber die Wertschätzung impliziert, dass man die Welt nicht als ein Mittel zu seinen Zwecken auffasst, als ein indifferentes Dekor oder einen Ort, den man zu besuchen oder zu verlassen sich entscheidet. Und die Selbsterkenntnis, auf der sie gründet, ist untrennbar von der Berücksichtigung unserer körperlichen und irdischen Verfasstheit, der Berücksichtigung dieses Tons (ostrakinon skeuos), aus dem wir gemacht sind. Denn das Ich empfängt seine Selbstheit nicht von sich selbst. Es muss sich zuerst als Menschen wertschätzen, als Wesen aus Fleisch und Blut, das von den äußeren Dingen affiziert wird.

Der Abstand zur Welt, den die Stoiker predigen, die den Schmerz (dolor) anerkennen, aber die aegritudo (den Kummer)34 zurückweisen, steht im Gegensatz zu dem Engagement, zu dem die Wertschätzung führt. Diese schließt die gelegentliche Notwendigkeit eines zumindest provisorischen Rückzugs nicht aus, aber der Rückzug darf weder ein Selbstzweck sein, noch geschehen, um sich selbst zu retten. Denn in der Wertschätzung ist die Sorge um sich zugleich eine Sorge um die anderen und um die Welt. Möglich ist das nur, weil die Demut dem Individuum ermöglicht hat, sich von sich selbst zu trennen, und es tiefgreifend verändert hat: Obwohl das Subjekt der Wertschätzung so wenig ein Held oder ein Heiliger ist wie der stoische Weise oder der aristotelische phronimos, muss es sich, anders als von den antiken Morallehren verlangt, seiner selbst entledigt haben, um sich reformieren zu können.

Wie in der antiken Morallehre ist das Verhältnis zu sich selbst der Ausgangspunkt des Verhältnisses zu den anderen, zum Staat und zur Natur, aber das Ziel der Selbsttransformation ist in der Ethik der Wertschätzung nicht die Ataraxie und die Selbstgenügsamkeit. Die negativen Emotionen, von denen die Stoiker sagen, man müsse sich von ihnen befreien, müssen akzeptiert und sogar durchlaufen werden. So sind die Sorge um sich selbst als Sorge für sich, der Gedanke, dass die Seelenruhe oder das Gleichgewicht (euthymia) das höchste Gut sei und man das moralische Leiden bekämpfen müsse, weil es das schon existierende Übel durch Affekte wie den Kummer, die Trauer oder die Entrüstung nur verdopple, drei Aspekte der stoischen Ethik, die in unserem Entwurf einer Tugendethik bestritten werden. Diese ist untrennbar von dem Wunsch, die Welt zu bewahren, ja sie wieder instand zu setzen. Das Wissen um die Möglichkeit, dass die Natur, die Institutionen und die Werke zerstört werden und die Lebewesen verschwinden, spielt auf der Ebene der Beziehungen zu den anderen und zur gemeinsamen Welt die Rolle, die die demütige Anerkennung meiner fleischlichen und endlichen Verfasstheit in meinem Verhältnis zu mir selbst spielt. In beiden Fällen wird sich das Individuum des humus bewusst, der Erde, die die Bedingung seiner Existenz und der der anderen ist, deren Zerbrechlichkeit es ebenfalls anerkennt.

Ethik der Wertschätzung

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