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Warum eine Ethik der Tugenden?

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Es ist das individuelle Bewusstsein, in dem sich das Schicksal der Gesellschaft entscheidet.1 Die wunderbarsten Institutionen sind nur nutzlose Relikte, wenn die, die sie bewahren sollen, ihren Geist nicht respektieren und unfähig sind, sie den Umständen anzupassen. Umgekehrt fällt es den Bürgern ohne eine Erziehung, die ihnen hilft, ihren kritischen Geist und ihre Urteilskraft zu entwickeln, und ohne die Hilfe der Gesetze schwer, in ihrem persönlichen Leben Orientierung zu finden, geeignete Vertreter zu wählen und auf ihre Regierungen einen weisen Druck auszuüben, um sie auf einen Weg zu bringen, der zu Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit führt.

Diese von Platon so manches Mal hervorgehobene Reziprozität zwischen den Individuen und den politischen Regimen, diese Zirkularität der Gesetze, die uns formen, dabei aber angewiesen sind auf „Sitten“, „Gebräuche“ und die „Meinung“ […], in denen die eigentliche Verfassung des Staates [liegt]“2, verweist auf eine Schwierigkeit, die der Gesellschaftsvertrag aufwirft3. Wenn die Prinzipien und die Zwecke der Politik erst einmal formuliert worden sind, stellt sich die Frage, was die Individuen dazu bewegen kann, die Anstrengungen auf sich zu nehmen, die nötig sind, um zum Gemeinwohl beizutragen: Die politische Theorie muss also durch die Moral ergänzt werden. Nur: Welche Moral kann im Menschen den Sinn für die Pflicht wecken und ihm doch zugleich erlauben, sich selbst zu verwirklichen? Wie kann er das allgemeine Wohl in sein persönliches integrieren, statt ständig zwischen Glück und Pflicht zerrissen zu werden? Welche moralischen Veranlagungen werden von den Bürgern erwartet, wenn sie Freude daran haben sollen, das Gute zu tun, maßvoll zu bleiben, die Zusammenarbeit an die Stelle des Misstrauens treten zu lassen und gemeinsam daran zu arbeiten, ihren Nachkommen eine bewohnbare Welt zu hinterlassen?

Die Ethik der Wertschätzung versucht auf alle diese Fragen eine Antwort zu finden. Mit ihrer Frage nach dem guten Leben und der Verbindung von Moral und Politik steht sie in der Tradition der auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Tugendethiken, obwohl ihr Kontext und die Philosophie, auf der sie beruht, sie von der antiken Moral und auch von den zeitgenössischen neoaristotelischen Ethiken unterscheidet. Statt die Prinzipien festzulegen, die unsere Entscheidungen leiten oder jeweils mit den absehbaren Konsequenzen unserer Taten in Einklang bringen sollen, setzt der vorliegende Entwurf einer Moral den Akzent auf die Personen, auf das, was sie sind und was sie handeln lässt.

Bevor man von Verboten und Imperativen, von Pflichten und Verpflichtungen, von Gut und Böse spricht, muss man danach fragen, auf welche Weisen wir moralische Akteure sein können.4 Denn auch die größten Gesetze und die edelsten Prinzipien haben nur dann Sinn, wenn sie von den Individuen, auf die sie sich beziehen, anerkannt werden. Sie müssen auch in ihrem spezifischen Kontext interpretiert und in die Praxis umgesetzt werden. Gewiss liefern die deontologischen Verhaltenskodizes und das Recht Orientierungen für unser Handeln, aber niemand wird ein guter Arzt oder ein guter Richter, indem er diese Texte auswendig lernt. Daneben kann auch der Nutzen, kann die Maximierung des kollektiven Wohlstands als Kriterium dienen, wenn man wissen will, wie knappe Güter verteilt werden sollen.5 Und weil keiner a priori weiß, wie man handeln soll, ist es notwendig, auch die Folgen in Betracht zu ziehen, die eine Entscheidung für eine Gesellschaft, für ihre Institutionen und auch für die moralischen Veranlagungen, die zu ihrem guten Funktionieren erforderlich sind, haben kann. Diese pragmatische Herangehensweise, bei der man sich nicht an eine starre Konzeption von Gut und Böse klammern darf, erlaubt so, manches Dilemma zu entscheiden, indem man unter verschiedenen, in der Theorie gleichwertigen Lösungen diejenige wählt, die am besten an die Situation angepasst ist.6 Freilich dienen diese Normen vor allem dazu, unsere Entscheidungen rational zu rechtfertigen; sie bilden nicht unsere zentralen Handlungsmotivationen.

Diese beruhen vielmehr auf einer komplexen Gesamtheit von Vorstellungen, Gefühlen und Charakterzügen. Wenn sie eine gewisse Festigkeit, eine erworbene Haltung bezeichnen (hexis) und nicht nur einen vorübergehenden Zustand oder eine Leidenschaft, wenn sie auf einer durchdachten Wahl beruhen und bei ihrer Ausübung durch das Individuum von dem Gefühl der Erfüllung begleitet sind, nennt man sie Tugenden.7 Wer sie besitzt, verhält sich bei jeder Gelegenheit mutig, besonnen oder maßvoll, ohne dass zwischen dem Sein und dem Sein-Sollen, dem Denken und dem Handeln ein Widerspruch bestünde. So ist eine ehrenhafte Person nicht die, die am häufigsten ehrenhafte Taten vollbringt, sondern die, die sie infolge einer wohlüberlegten Wahl vollbringt, und weil ihr diese Disposition zu einer zweiten Natur oder einem habitus geworden ist. Die Tugenden setzen die fortschreitende Entwicklung von Fähigkeiten voraus, die die Gesamtheit der Vorstellungen eines Menschen betreffen, seine Affekte und seine Weise, sich selbst und die Welt wahrzunehmen.

Die Ethik der Tugenden, die in diesem Buch vorgestellt wird, versucht die Seinsweisen zu bestimmen, die gefördert werden müssen, wenn die Individuen ein gutes Leben führen und die Achtung vor den anderen, Menschen und Nicht-Menschen, als Bestandteil der Achtung vor sich selbst empfinden sollen. Sie stützt sich nicht ausschließlich auf rationale Argumentation, sondern räumt auch der Affektivität, dem Körper und dem Unbewussten einen wichtigen Platz ein. Die Ethik der Wertschätzung ist eine Seinsweise, die im Laufe eines Prozesses der Selbstveränderung erworben wird; wir werden seine Etappen aufzeigen und zugleich analysieren, was sich ihm in den Weg stellen kann. Damit soll nicht gesagt werden, dass Normen entbehrlich sind, sondern es kommt darauf an, zu verstehen, wie sie von den Individuen verinnerlicht werden können, damit diese einen inneren Zugang zu ihnen haben und sich affektiv ebenso wie intellektuell von ihnen verpflichtet fühlen. Wenn man sich dem Dualismus zwischen Vernunft und Emotion, Geist und Körper, Individuum und Gesellschaft nicht entzieht, wird man nie verstehen können, warum es den Menschen so schwerfällt, in Übereinstimmung mit ihren Prinzipien und Werten zu handeln.

Anzugeben ist also, welche Seinsweisen wie gefördert werden müssen, wenn das ovidische Paradox, das das Scheitern der meisten moralischen und politischen Theorien feststellt, überwunden werden soll:8 Ich sehe das Gute, ich stimme ihm zu, aber ich tue das Schlechte. Unumgänglich ist es auch, die psychologischen Mechanismen zu untersuchen, die erklären, dass sich die Personen in der Verweigerung abkapseln und sich daran gewöhnen, Vernunft und Gefühl zu trennen, wenn man ihre Widerstände gegen Veränderungen verstehen will. Die Ethik der Wertschätzung wendet sich also nicht gegen die deontologischen und konsequentialistischen Morallehren, sondern ergänzt sie. Ihr Ziel ist, die Lücke zwischen Theorie und Praxis, Denken und Handeln zu schließen, eine Lücke, die angesichts der Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind, zum Hauptproblem der Moral und der Politik geworden ist.

Ethik der Wertschätzung

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