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Die Ethik an eine Philosophie der Körperlichkeit binden

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Das Ziel der Ethik der Wertschätzung besteht darin, Theorie und Praxis, Vernunft und Affekt in einem Kontext zu versöhnen, der derjenige der pluralistischen, multikulturellen und mit überstarken technologischen Mitteln ausgestatteten Demokratie ist. Wie kann man eine Konzeption des guten Lebens vertreten, die eine universelle Dimension hat und zugleich die Verschiedenheit der Lebensweisen und der Kulturen respektiert? Welche Tugenden eignen sich für den gegenwärtigen Kontext, der durch globale Erwärmung, Gewalt an Menschen und Tieren und Fragilität der liberalen Demokratien charakterisiert ist?

Es gibt bewundernswerte Traktate über die Tugend, von der Nikomachischen Ethik über die Werke der Stoiker bis zum Traité des vertus von Jankélévitch, aber diese Texte berücksichtigen nicht das Verhältnis zu den künftigen Generationen, zur Natur und zu den Tieren. Sie begrenzen das Feld der Ethik und der Politik auf das Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen menschlichen Wesen. Die aristotelische Ethik wiederum ist untrennbar von einer Kosmologie und einer Teleologie; jedes Wesen, einschließlich des Menschen, hat eine Natur, der es folgen muss, um sie von der Potenz zum Akt übergehen zu lassen. Der Naturalismus der Nikomachischen Ethik und der meisten neoaristotelischen Tugendethiken versteht die Vortrefflichkeit eines Wesens nach dem Modell eines Organs, das perfekt seine Funktion erfüllt, wobei das Laster eine einem Geburtsfehler vergleichbare Störung ist.17 Der metaphysische Hintergrund dieser alten Ethiken nimmt zwar den von ihnen ausgesprochenen moralischen Vorschriften nicht alle Gültigkeit, aber er beruht auf Vorstellungen, die das moderne und zeitgenössische Wissen in Frage gestellt hat.

Der Naturalismus, der die Ethik auf als „natürlich“ geltende Normen gründet, wirft zahlreiche Probleme auf. Er trifft auf die Kritik von Hume, der empfiehlt, das Sollen und das Sein nicht zu verwechseln und die Norm nicht aus einem Faktum abzuleiten. Desgleichen zeugt er von einer normalisierenden und homogenen Konzeption des Lebens, die unvereinbar ist mit einer Berücksichtigung der Alterität, der Positivität von Unterschieden und der Heterogenität der Normen. Wie kann man sich in die Tradition dieses aristotelischen Konzepts von Moral stellen, ohne dabei in die Falle des Naturalismus zu tappen? Wie soll man eine Ethik der Tugenden schaffen, vom guten Leben sprechen und verallgemeinerbare Orientierungen zum richtigen Handeln anbieten, wenn der Kontext dieser moralischen und politischen Fragestellung das Ende der Metaphysik ist, verstanden als Diskurs, der das Wesen des Menschen verkündet?

Schließlich trennen uns unsere Technologien von der Welt eines Seneca und eines Aristoteles. Die Macht, die sie uns in die Hand geben, ist nicht mehr vergleichbar mit der, über die die Menschen in der Antike oder noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügten. Die Technik hat die Weise, wie wir über unsere Verantwortlichkeit denken, die sich jetzt auch auf die Natur und die künftigen Generationen erstreckt, grundlegend verändert. Sie bietet den Individuen neue Möglichkeiten und nährt den Wunsch, die gewöhnlich den Menschen gesetzten Grenzen zu überschreiten. Das Zusammenwirken der Nanotechnologien, der Biotechnologien, der Informatik und der Kognitionswissenschaften, die die Transhumanisten als das Versprechen eines neuen, vergrößerten, von Krankheiten, ja vom Tod befreiten Menschen ansehen, aber auch die rein technischen Antworten auf die Erderwärmung, wie das Geo-Engineering, stellen eine Herausforderung an die Ethik und an die Politik dar. Wir sind davon überzeugt, dass die aktuelle Tendenz zum Übermaß nicht von Gesetzen, sondern nur von einer Ethik der Tugenden aufgehalten werden kann, einer Ethik, die imstande ist, der transhumanistischen Ideologie Einhalt zu gebieten, vorausgesetzt, dass sie sich nicht auf eine generelle Forderung nach Mäßigung beschränkt, sondern auf einer Philosophie der Körperlichkeit und der Endlichkeit beruht.

Die Ethik der Wertschätzung ist an eine Philosophie des Subjekts gebunden, die sich nicht auf eine Wesenheit des Menschen bezieht, sondern ihren Ausgangspunkt in dem in seiner Körperlichkeit gedachten Subjekt sieht.18 Sie verweist auf dessen Verletzbarkeit oder Passivität und rückt die Dimension der Lust, die mit dem Leben verbunden ist, ebenso wie den stets relationalen Charakter des Subjekts in den Vordergrund. Immer stehen wir, sobald wir essen, atmen oder arbeiten, in Beziehung mit anderen Wesen, menschlichen oder nicht-menschlichen, gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen. Eine solche Philosophie der Körperlichkeit, deren Zweige die Ethik der Verwundbarkeit und die Phänomenologie der Nahrung sind, ist von den alten Teleologien ebenso weit entfernt wie von den holistischen Konzeptionen, die für die öko-zentristischen Ethiken charakteristisch sind, und den mehr oder weniger atomistischen Philosophien des Subjekts, die den gegenwärtigen moralischen oder politischen Theorien, seien sie deontologisch oder konsequentialistisch, zugrunde liegen. Die Strukturen der Existenz und die Hauptzüge dieser Philosophie, insbesondere die Verwundbarkeit, die Endlichkeit, die Geburt, die Lust und der Geschmack, dienen dazu, die Ethik der Wertschätzung zu begründen, und werfen ein Licht auf die Tugenden, die sie definieren.

Die andere Besonderheit der Ethik der Wertschätzung betrifft das Verhältnis zwischen den zwischenmenschlichen und staatsbürgerlichen und den umweltbezogenen Tugenden. Müssen die moralischen Dispositionen, die uns dabei helfen können, ökologisch verantwortlich zu handeln, mit den Tieren gerechter umzugehen und in einer pluralistischen Demokratie die Technologien vernünftig einzusetzen, nach dem Vorbild der Dispositionen gedacht werden, die für das Verhältnis zum Selbst und zu den anderen menschlichen Wesen sinnvoll sind? Oder müssen wir neue Tugenden finden, die für den Gebrauch, den wir von der Natur und den anderen Lebewesen machen, geeignet sind? Muss man Tugenden vorschlagen, die Aristoteles und Jankélévitch nicht analysiert haben, oder die traditionellen Tugenden auf neuartige Weise interpretieren, etwa, wenn man von der Mäßigung, die die Mäßigung in den Begierden meint, in einem Kontext spricht, der von der Deregulierung der Biosphäre gekennzeichnet ist?

Statt von einer Ethik der umweltbezogenen Tugenden zu sprechen, in der diese als ein Gebiet für sich verstanden werden, will dieses Buch eine allgemeine Ethik erarbeiten, die die zwischen dem Verhältnis zu sich selbst, dem Verhältnis zu den anderen menschlichen oder nicht-menschlichen Lebewesen und dem Verhältnis zur Natur bestehende Verbindung sichtbar macht.19 Die Ethik der Wertschätzung verbindet die intersubjektiven, die umweltbezogenen und die bürgerlichen Tugenden miteinander, wobei sie gleichermaßen ihre Einheit wie ihre Verschiedenheit hervorhebt. So soll gezeigt werden, dass eine tugendhafte Person, die die Wertschätzung praktiziert, sich durch eine Seinsweise auszeichnet, die durch Respekt vor der Natur, vor den anderen Lebewesen und Bürgersinn gekennzeichnet ist. Die Wertschätzung beinhaltet, dass man die Sorge um die anderen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen ebenso wie die Liebe zur Welt und zur Natur in die Sorge um sich selbst integriert, ohne dass, wie so oft in den mit den Tugendethiken verbundenen perfektionistischen Theorien, die Suche nach der eigenen Vollkommenheit das Motiv des Handelns wäre. Von Wertschätzung zu sprechen heißt, wie bei Bernhard von Clairvaux, dass der Schlüssel aller Tugenden im Verhältnis zu sich selbst liegt. Dieser Vorrang des Verhältnisses zu sich selbst vor dem zu den anderen, der Natur und dem Staat, bezeugt die Wichtigkeit einer moralphilosophischen Tradition, die die Ethik nicht als eine normative Disziplin, sondern als einen Prozess der Selbsttransformation versteht. Auch wenn sie sich auf eine Philosophie des in seiner Körperlichkeit gedachten relationalen Subjekts stützt, will sich die Ethik der Wertschätzung auf signifikante Weise von den antiken Moralvorstellungen unterscheiden.

Bei Aristoteles ist das Lob der Seelengröße von der Berücksichtigung des Körpers, der Umwelt und des daimon oder des Glücks, will sagen äußerer Güter, begleitet. Die Alten betonen auch die Tugenden der Freundschaft. Allerdings sind für sie die Zerbrechlichkeit, die Abhängigkeit von jemand anderem und das Empfinden von Mitleid Zeichen von Schwäche. Die Ethik der Wertschätzung ist dagegen von dieser Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit untrennbar. Diese ist zwar das Zeichen unserer Zerbrechlichkeit, aber auch das, was uns befähigt, uns von dem Schicksal der anderen betroffen zu fühlen, ja an ihrer Stelle zu leiden. Die Frage ist, wie dieses Leiden in Verantwortlichkeit umgesetzt werden kann, und welche Motive jemanden dazu bringen können, sein Bestes zu tun, um die Lebensbedingungen der anderen Lebewesen zu verbessern. Und schließlich gründet die Wertschätzung auf der Demut, sie ist also auch vom christlichen Erbe inspiriert.

Ethik der Wertschätzung

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