Читать книгу Ethik der Wertschätzung - Corine Pelluchon - Страница 20
Der Eudämonismus oder die Tiefe des Glücks Was heißt es, seine Seele zu ehren?
ОглавлениеDer Übergang von der Sorge um sich zum Ehren der Seele, der der Gegenstand des fünften Buches von Platons Gesetzen ist, erlaubt eine Neuinterpretation des Begriffs der Pflichten gegen sich selbst, die konsubstantiell mit der Ethik der Tugenden ist. In der Tat impliziert die Wertschätzung wie in den antiken Philosophien, dass die Moral sich nicht nur auf unsere Beziehungen zu den anderen bezieht, sondern, weil sie einen Transformationsprozess des Subjekts bezeichnet, auch auf unser Verhältnis zu uns selbst. Der Begriff der Pflichten gegen sich selbst wirft allerdings zahlreiche Probleme auf. Er setzt einen metaphysischen Hintergrund voraus, der ihn fragil macht: Von Pflicht können wir nur sprechen unter Bezugnahme auf einen Gesetzgeber-Gott.47 Außerdem beinhaltet die Pflicht die Idee einer Dualität zwischen Vernunft und Gefühl, die in der von der Wertschätzung gemeinten Konstellation der Tugenden nicht präsent ist. Die Weise, wie Platon davon spricht, seine Seele zu ehren, indem man sich für gewisse Güter entscheidet, die uns leiten und uns darüber hinaus veranlassen, uns um die anderen und um die Welt zu sorgen, transformiert jedoch den Begriff der Pflicht gegenüber sich selbst und überwindet diese Schwierigkeiten.
Wenn man die Wahrheit und die Gerechtigkeit hochhält, Güter, von denen keiner wünschen kann, dass sie das Privileg weniger bleiben, kann man nicht neidisch sein, schreibt Platon. Vom lateinischen invidia kommend, ist der Neid, französisch envie, eine Weise, auf den anderen zu blicken und sich mit ihm zu vergleichen; er deutet an, dass man ausspäht, was der andere tut. Der durch den Erfolg eines Anderen erregte Groll kommt daher, dass man, ohne es zuzugeben, den Wert des anderen anerkennt und nach dem strebt, was er hat. Man muss verstehen, dass es die Liebe zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit ist, die erklärt, dass wir mit uns selbst und mit den anderen in Frieden leben. Dagegen schmeichelt die Suche nach Vergnügungen, nach Geld und nach Ehren unserer Eigenliebe und lässt uns die anderen beneiden. Immer ist es das Verhältnis zu sich selbst, das das Verhältnis zu den anderen begründet, und dieses Verhältnis zu sich selbst ist zunächst daran gebunden, dass man vor allem die Wahrheit und die Gerechtigkeit liebt.
Anders als die egoistische Sorge um sich oder das Streben nach Vollkommenheit, das von der Eigenliebe motiviert sein kann, eliminiert die durch die Liebe zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit motivierte Tugend von vornherein die traurigen Leidenschaften, wie den Neid, die Undankbarkeit, das Gefühl, zu kurz gekommen oder nicht genug anerkannt zu sein. Die Neigung, „die Schuld für seine jeweiligen Fehler und für die meisten und größten Übel nicht in sich selbst, sondern in anderen [zu suchen]“, macht der Großmut Platz.48 Wir befinden uns nicht in einer Moral der Pflicht, in der man gegen die Unordnung seiner Leidenschaften kämpfen muss, vielmehr ist es die Entscheidung für ein echtes Gut, die unser Verhältnis zu uns selbst und zu den anderen transformiert.
Die Sorge um die Welt ist der Horizont dieser Liebe zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit. Nicht nur begeht der, der nach ihr sucht, kein Unrecht, sondern er ist auch imstande, sich um das Unrecht zu kümmern, das von Seinesgleichen begangen worden sein kann.49 Wer seine Seele ehrt, hat auch den Wunsch, die moralischen Qualitäten, die er besitzt, weiterzugeben: Er bemüht sich, „dem Besseren nach[zustreben], dagegen das Schlechtere, aber der Besserung Fähige eben in diesen Zustand, nämlich den möglichst besten [zu bringen]“50. Er hat die richtige Auffassung von sich selbst und von seinem Platz in der Welt und ist bereit, diejenigen, die tugendhafter sind als er, anzuerkennen und zu bewundern, denn wenn er die Wahrheit und die Gerechtigkeit liebt, dient er einer Sache, die größer ist als er. Mit anderen Worten, er ist großmütig.
Die Großmut ist eine Tugend, die sich sowohl dem Hochmut als auch der falschen Bescheidenheit widersetzt. Sie beruht nicht auf der Anerkennung, die man genießt, noch auf der Ehre, wie in der homerischen Moral, sondern auf dem Verhältnis, das das Subjekt zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit unterhält. Diese Auffassung der Großmut ist es, die die Ethik der Wertschätzung von Platon übernimmt. Es handelt sich nicht einfach um einen psychologischen Zug, sondern um eine Seinsweise, die das Individuum sich den anderen öffnen lässt, weil seine Devise nicht der Einbehalt ist, sondern die Weitergabe. Das großmütige Individuum weiß, dass es „seinen Kindern […] ein reiches Maß von Scham- und Ehrgefühl hinterlassen [soll], nicht von Gold“51. Diese Idee nimmt in der Wertschätzung, wenn es um die Frage der künftigen Generationen und der gemeinsamen Welt geht, einen tieferen Sinn an, aber schon hier muss die Verbindung hervorgehoben werden, die zwischen den unterschiedlichen Affekten besteht, die von der Liebe zur Gerechtigkeit hervorgerufen werden, die das Ehren der Seele mit der Sorge um die Welt verbindet.
Indem er die Tugend dadurch definiert, dass man seine Seele ehrt, indem man die Wahrheit und die Gerechtigkeit hochhält, gibt Platon dem Begriff der Pflichten gegen sich selbst Konsistenz. Er zeigt, dass die Pflichten gegen andere in einem gerechten Verhältnis zu sich selbst wurzeln, das seinerseits von der Wahl der echten Güter abhängt. Das tugendhafte Individuum liebt nicht seine Individualität, sondern ein Gut, das unabhängig von ihm ist und dessen allgemeine Verbreitung es wünschen würde. Der Begriff der Pflichten gegenüber sich selbst ist also sinnvoll von dem Augenblick an, da man versteht, dass nicht das eigene Ego im Vordergrund steht, sondern die Menschheit als solche oder die Tugenden, die ein Mensch verkörpern kann. Er verlangt nicht, dass man sich wie bei Kant auf die Dualität eines Subjekts bezieht, das ein sinnliches und egoistisches Individuum ist und zugleich eine sittliche Person, die einer Zweckgemeinschaft angehört. Indem er die Pflichten gegen sich selbst den Pflichten gegen den anderen nachbildet, begründet Kant eine anspruchsvolle Moral: Er verdammt bestimmte Körperverwendungen, die er für menschenunwürdig hält, und den Selbstmord, der zeige, dass der, der seinen Tagen ein Ende setzt, die Person in sich nicht respektiert und auch imstande wäre, jemand anderen zu töten, auch wenn das nicht erwiesen ist. Darum sollte man statt von den Pflichten gegen sich selbst besser vom Ehren der Seele sprechen. Was ein Individuum ausmacht und seinen Charakter bildet, sind die Güter, denen es eine Vorzugsstellung in seinem Leben einräumt und die es strukturieren. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit gehören zur Menschheit; wenn es sie ehrt, dient das Individuum einer universalen Sache und tritt hinter ihr zurück, was seiner Existenz eine Dichte gibt, die kein anderes Gut ihr geben könnte.
Zwei Beispiele lassen besser verstehen, in welchem Sinn das Ehren der Seele die Sorge um sich mit der Sorge um die Welt verbindet und die Wertschätzung begründet. Abraham Lincoln trat für die Abschaffung der Sklaverei ein und diente damit einer Sache, die er als Sache der Menschheit auffasste. Er hat die Sklaverei nicht aus persönlichem Ehrgeiz bekämpft, sondern weil die Ausbeutung der Schwarzen illegitim und mit der in der Unabhängigkeitserklärung proklamierten Gleichheit der Menschen und der Moral unvereinbar war. Und jeder, der die von Robert Badinter am 28. September 1981 vor der Nationalversammlung gehaltene Rede gehört hat, versteht, dass er, wenn er die Abschaffung der Todesstrafe verlangt, nicht berühmt werden will, sondern sich bemüht, die richtigen Worte zu finden, um die politischen Repräsentanten zu überzeugen. Er wird zum Wortführer einer Wahrheit, von der er sagt, dass sie im Edelsten wurzelt, was unsere Tradition enthält. Wie Abraham Lincoln stellt er seine ganze Intelligenz und seine ganze Eloquenz in den Dienst einer Wahrheit, die jeder nachfühlen kann, vorausgesetzt, dass er gewillt ist, einen universalen Blickpunkt einzunehmen und die Gerechtigkeit hochzuhalten, statt der Versuchung der Rache und des Hasses zu erliegen.
Es gibt also eine moralische und intellektuelle Einheit der Tugend: Man braucht die Tugenden des Charakters, um zur Weisheit zu gelangen, und umgekehrt ist diese notwendig zum Erwerb der Tugenden des Charakters.52 Die Liebe zur Wahrheit transformiert die Person in ihrer Gesamtheit, in ihrem Verhalten, ihren Gedanken, ihren Emotionen und ihren Affekten. Der Intellektualismus Platons, also die Idee, wonach die Intelligenz oder das Schauen des Wahren und Gerechten den Charakter der Individuen definiert, ist in diesem Sinn zu interpretieren. Und sobald man verstanden hat, dass die Liebe zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit das Verhältnis des Individuums zu sich selbst ändert, indem sie es unfähig zur Eigenliebe, zum Neid und zur Missgunst macht und ihm den Mut gibt, im Sinn der Tugend zu handeln, versteht man, dass Platon schreiben konnte: „Niemand ist willentlich böse.“
Offenkundig kann jedoch das Böse auch absichtlich getan werden. Die Person, die sich der Ungerechtigkeit schuldig macht, ihren Nächsten beraubt oder verrät, weiß durchaus, dass sie schlecht handelt, und im Allgemeinen ist ihr Handeln wohlüberlegt und geplant. Wenn er sagt, dass keiner „willentlich böse“ ist, meint Platon, dass das böse Individuum sich im Gut täuscht.53 Es wäre falsch, diese These für naiv zu halten, denn sie bedeutet, dass man, wenn man Güter wie das Geld, den Ruhm oder die Lüste des Körpers liebt, weder wirklich gerecht sein noch dauerhaft und unter allen Umständen das Gute tun kann. Wer die Wahrheit und die Gerechtigkeit nicht liebt, ist nicht gut und tut das Gute nur zufällig. Er ist für seine Taten verantwortlich, insofern er sich bewusst ist, dem anderen zu schaden, wenn er schlecht handelt, aber er ist auch zu bedauern, denn sein Verhalten erklärt sich durch seine Unkenntnis der wahren Güter. Ständig fragt er sich, was die anderen von ihm denken, und lebt, anders als das Subjekt der Wertschätzung, in Aufregung. Eine gerechte Handlung führt er nicht aus Liebe zur Gerechtigkeit aus, sondern weil sein Erfolg bei den anderen seiner Eigenliebe schmeichelt. Ein solcher Mensch ist nicht vertrauenswürdig: Er wird ungerechte Taten verüben, wenn er dadurch seine Macht oder seinen Reichtum steigern kann. Niemals zufrieden mit dem, was es bekommt, oder in der Meinung, dass die anderen allzu begütert sind, wird er diese ihres Besitzes zu berauben versuchen und die Personen von Wert fliehen, sei es, weil er sie nicht erkennt, sei es weil er sie fürchtet.
Man wird das Porträt des Tyrannen erkannt haben.54 Dieser ist der Spiegel einer Gesellschaft, die falsche Güter wertschätzt und für die höchsten Funktionen des Staates dominante Personen auswählt. In einem solchen Kontext suchen alle den Ruhm und nehmen Anstoß am Erfolg des anderen, niemand handelt im Zeichen eines Ideals von Gerechtigkeit mit jener Standhaftigkeit und jenem guten Willen, von dem Platon in Verbindung mit dem Philosophen spricht.55 Außerdem ist die Vortrefflichkeit, d.h. die moralische und intellektuelle Einheit, die sich im Mut, der Klugheit, der Großmut, der Milde und allen anderen in der Nikomachischen Ethik beschriebenen seelischen und geistigen Tugenden manifestiert, unentbehrlich, um einen Staat weise zu regieren. Diese Vortrefflichkeit schließt weder den Schmerz noch die Verwundbarkeit aus, wie man an Abraham Lincoln sieht, der ein Leben voller Prüfungen führte und an Depressionen litt.
Die Tugend ist unvereinbar mit der Verhärtung des Herzens, die mit dem Bedürfnis nach Herrschaft einhergeht und die Lebewesen unfähig zum Mitleid macht. Darüber hinaus ist die Abwesenheit von Unruhe im technologischen und ökologischen Kontext von heute ein Zeichen moralischer Indifferenz. Die Tugend reicht nicht aus, das Glück zu verschaffen, das auch von äußeren Ursachen abhängt. Dennoch spürt eine Person, die ein gutes Leben führt, ein Gefühl der Erfüllung und versinkt deshalb, wenn sie von schmerzlichen Ereignissen getroffen wird, nicht endgültig im Kummer. So verwirklicht ein tugendhaftes Wesen die Allianz zwischen dem Guten und dem Glück, die man Eudämonismus nennt.