Читать книгу Ethik der Wertschätzung - Corine Pelluchon - Страница 22
Der Universalismus heute Die Ablehnung des Naturalismus
ОглавлениеFür Philippa Foot ist ein gutes menschliches Wesen ein gutes Exemplar seiner Gattung, das heißt es besitzt die Charakteristika, die ihm helfen, sich an die Lebensweise und an die Umwelt der Art, der es angehört, anzupassen.63 Sie greift den platonischen Vergleich auf zwischen der Tugend und dem Sehen, das die Funktion des Auges ist: So wie dieses Auge versagt, wenn es kein Sehen ermöglicht, so ist das Laster ein Geburtsfehler, eine Funktionsstörung. Die Tugend oder die Vortrefflichkeit dagegen ist das Leben gemäß einem natürlichen Gut. Dieser Naturalismus verkennt jedoch die Singularität jedes Einzelnen, die Alterität, die Tatsache, dass der andere nicht ein Exemplar einer Gattung, in diesem Fall der menschlichen ist, sondern dass er jede Gattung und jedes Konzept transzendiert, dass er, wie Levinas sagt, ein Antlitz hat. Der Naturalismus stellt ausgehend von einer Tatsache eine Norm auf und spricht sich darüber hinaus für eine normalisierende Sicht des Lebens aus, wobei er die Formbarkeit und die Auto-Normativität des Menschen verkennt. Dieses Denken zeigt Analogien zu dem, das dabei endet, das Nicht-Normale als Anomalie zu denken.
Wenn man, so zeigt Georges Canguilhem in Das Normale und das Pathologische, die Krankheit als Anomalie denkt und sich auf die Defizite konzentriert, unter denen eine Person leidet, versteht man jedoch nicht, dass das Pathologische nicht die Absenz von Normen ist, sondern eine „veränderte Lebensweise“ bezeichnet und eine „vorwärtstreibende Kraft“ sein kann.64 Die organischen Funktionsstörungen, wie Müdigkeit, ja sogar die mit der Krankheit einhergehenden Behinderungen, zwingen den Kranken, nach anderen Normen zu leben, was ihm aber, indem er tut, was für ihn Sinn hat, nicht die Möglichkeit nimmt, sich zu entfalten und zu existieren. Indem man also eine Norm, die immer ein von einer Gesellschaft zu einer bestimmten Epoche gefälltes Werturteil ist, mit einem Faktum verwechselt, erhebt man einen Durchschnitt zum Ideal. Man unterstellt, es gebe nur eine einzige Weise, gut zu leben oder bei guter Gesundheit zu sein, und jede Abweichung von dieser an der Naturbeobachtung, der Gewohnheit oder den sozialen Konventionen ausgerichteten Norm wird als anormal beurteilt, als ob man sie unbedingt korrigieren oder unterdrücken müsste.
Diese Verwechslung zwischen Norm und Faktum, die dazu neigt, die Normativität auf ein homogenes und starres Bild des Lebens zu gründen, findet sich auch in Philippa Foots Ethik der Tugenden. Sicherlich gibt es zwischen den von den Individuen gewählten Gütern und mithin zwischen den Lebensweisen, die also nicht denselben Wert haben, Unterschiede. Es gibt auch Situationen, die objektiv die Möglichkeiten des Individuums einschränken, wie es im Endstadium eines Krebses oder einer neurodegenerativen Pathologie der Fall ist. Es ist jedoch Sache eines jeden, die Grenzen festzulegen, jenseits derer das Leben keinen Sinn mehr hat. Die Ablehnung des Relativismus und die Idee, dass es Kriterien des Guten gibt, bedeutet nicht, dass es nur eine alleinige und einzige Weise zu leben und zu existieren gäbe. Schließlich ist auch der Vergleich zwischen Tugend und Gesundheit, Laster und Krankheit problematisch. Denn die Tugend, die ein moralisches Gut ist, gründet nicht auf der Biologie. Sie ist das Objekt einer moralischen Bewertung und drückt aus, was eine Person sich zu ehren entscheidet. Es handelt sich um eine Entscheidung, nicht um ein Faktum, das sich, selbst wenn es, wie im Fall des Gesundheitszustandes, sozial determiniert ist, auf die Beschreibung und die Beobachtung stützt.
Für Platon und Aristoteles bezeichnet die Tugend ein Gut, das ehrenwert, nicht bloß lobenswert oder gar für die Person profitabel ist.65 Während die Gesundheit ein erstrebenswertes Gut ist, also etwas, das man vernünftigerweise anstrebt, das aber auch für andere Güter nützlich sein kann, und die Intelligenz wiederum ein lobenswertes, das man bewundern kann, hat die Tugend einen Wert an sich und ist nicht abhängig davon, was sie den sie besitzenden Individuen verschafft. Sie ist also den anderen Gütern, die bloß relativ sind, überlegen. Aristoteles schließt daraus, dass das Glück eine vollendete Tugend und eine erfüllte Existenz verlangt: Die Güter, die das Glück ausmachen, sind vollendet und ehrenhaft. Es existiert also eine Objektivität des Guten. Jedenfalls darf die gute Handlung nicht abhängig von einer Natur oder einem Wesen des Menschen, das die Norm wäre, gedacht werden. Wenn die Tugend eine Erziehung, Vorbilder und Zeit verlangt, dann weil man sich im Guten leicht irren und dieses nicht aus der Beobachtung der Natur oder der menschlichen Psychologie ableiten kann. Wie wir anlässlich des Unterschieds zwischen der Ethik der Wertschätzung und den stoischen Morallehren gezeigt haben, ist die Tugend nicht einfach eine Seelenmedizin, mit deren Hilfe man Ruhe finden könnte. Sie verlangt ein Engagement zugunsten der Gerechtigkeit und der Welt, was der Tatsache, dass eine Form mentaler Hygiene notwendig ist, die das Individuum von gewissen Charakterzügen befreit, die die Entfaltung der Tugenden behindern, keinen Abbruch tut. So kann man, wenn man sagt, dass ein „moralischer Fehler wie ein natürlicher Fehler ist“, dass „der Lügner wie ein Wolf ist, der nicht mit seiner Meute jagen kann“, nicht verstehen, was Platon sagt, wenn er schreibt: Niemand ist willentlich böse. Der Naturalismus, der die Unmenschlichkeit des Menschen verbirgt, kann auch nicht erklären, warum das bösartige Individuum niemals glücklich ist. Weil es falschen Gütern huldigt, herrscht in seinem Inneren Unordnung, und es ist unfähig, mit sich selbst ins Reine zu kommen oder in einem gerechten Staat Frieden zu finden. Statt die Normativität auf den Begriff des natürlichen Guts zu gründen, hängen die Tugend oder ihr Fehlen von der Wahl ab, die wir treffen. Diese letztere zeigt, woran uns etwas liegt, genau wie unsere Emotionen unsere Wertungen oder unsere moralischen Urteile spiegeln – wie wir bemerken können, wenn wir auf ihre kognitive Dimension achten.66 Mit anderen Worten, diese Entscheidungen verweisen auf die Verantwortlichkeit eines jeden, auf seine Autonomie, und sie werden auch vor den anderen getroffen. Der von Ricœur benutzte Begriff attestation, der in Das Selbst als ein anderer die Verbindung zwischen *Bezeugung, *Zeuge und *Überzeugung hervorhebt,67 drückt besser als der Bezug auf die natürliche Wohltat und die Metapher des organischen Funktionierens aus, wovon in der Tugend die Rede ist. Also: Da die Tugend untrennbar ist vom Begriff der bewusst getroffenen Wahl und der Verantwortlichkeit eines jeden, wendet sich der Eudämonismus gegen den Naturalismus.