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Menschliche Natur und Condition humaine
ОглавлениеDer Rückgriff auf den Begriff der menschlichen Natur ist die andere Schwäche der aristotelisch inspirierten Tugendethiken. Es ist legitim, wenn man der aristotelischen Ethik vorwirft, die Verwundbarkeit und die zugleich biologische, affektive und soziale Interdependenz der Menschen nicht genügend in Rechnung zu stellen.68 Zur besseren Charakterisierung der der Wertschätzung eigenen Konstellation der Tugenden muss man vom Körper und unserer Abhängigkeit von den materiellen Bedingungen der Existenz ausgehen, wobei ein solcher Ausgangspunkt und das von ihm implizierte menschlich-tierische Kontinuum weder die Rede von einer menschlichen Natur, noch die Übernahme der fundamentalistischen Problematik rechtfertigt, die für das naturalistische und essentialistische Konzept der Moral charakteristisch ist.69
Der Begriff der Verwundbarkeit hat eine kritische Funktion, insofern er dazu führt, das Ideal der Selbstgenügsamkeit, worauf sich der Begriff der Autonomie oft beschränkt, durch eine Konzeption zu ersetzen, die der Interdependenz mehr Raum lässt und die Körperlichkeit des Subjekts ernst nimmt. Das bedeutet weder, dass die Natur die Moral begründet, noch dass man eine Philosophie der Existenz, die die Condition humaine zum Gegenstand hat, mit einer essentialistischen Doktrin verwechseln sollte. Die Phänomenologie der Nicht-Konstitution, die für die Philosophie der Körperlichkeit, auf die wir uns stützen,70 charakteristisch ist, beschreibt Phänomene, die dem Bewusstsein insofern entgehen, als dieses sich als nicht-sinngebend erweist – sei es weil es die Phänomene, die es betreffen, wie die Müdigkeit, den Schmerz oder den Tod, nicht beherrscht, sei es, weil deren Inhalt über unsere Vorstellung und die der anderen hinausgeht. Und auch wenn wir die Körperlichkeit des Subjekts denken, meinen wir wirklich alles, wovon wir leben und was auch unser Leben nährt. Die Strukturen der Existenz, die sich aus diesen Beschreibungen ableiten, lassen die Bedeutung der Passivität, der Lust, der Räumlichkeit und der Geburt sichtbar werden, die die Intersubjektivität im Herzen des Subjekts entstehen lässt. Die Subjektivität und die Sozialität werden dann anders gedacht als in den Philosophien der Freiheit.
Wenn man die Existenz im Licht der Rezeptivität und nicht bloß in dem des Projekts begreift und zeigt, dass das Subjekt, sobald es isst oder den Raum einnimmt, immer schon in Bezug zu den anderen, den früheren, gegenwärtigen und künftigen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen steht, erfasst man die Condition humaine auf neue Weise. Das Subjekt ist nicht nur durch seine Freiheit, sondern auch durch seine Verantwortung definiert. Und der Körper ist der Ausgangspunkt seines Bezugs zur Welt. Schließlich wird der Mensch nicht als ein Individuum gedacht, das von den anderen und vom geographischen und sozialen Milieu, in dem es lebt, abgeschnitten wäre, sondern seine Existenz hat eine Dichte, die an seine Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt gebunden ist, der gemeinsamen Welt, die ihn bei seiner Geburt aufnimmt und seinen individuellen Tod überlebt. Wenn man diese Strukturen der Existenz zur Kenntnis nimmt, wird klar, dass die modernen und zeitgenössischen westlichen Philosophien, die vor allem Philosophien der Freiheit sind, sich auf die individuelle Dimension der Existenz konzentrieren und die Ethik und die Politik auf die Beziehungen zwischen den gegenwärtigen menschlichen Wesen beschränken.
Eine Philosophie der Existenz, die die Condition humaine ausgehend von Beschreibungen universaler Phänomene wie dem Tod, dem Hunger, der Geburt, der Räumlichkeit, dem Schmerz, der Lust, dem Schlaf und der Atmung erklärt, ist niemals essentialistisch, selbst wenn sie wichtige ethische und politische Implikationen hat. Das fleischliche und relationale Subjekt, das sie in den Vordergrund rückt, verlangt, dass die Zwecke des Politischen nicht auf die Sicherheit und die Reduktion unfairer Ungleichheiten beschränkt bleiben und aus dem Schutz der Biosphäre, der Sorge um die Lebensbedingungen der künftigen Generationen und der Tiere neue Staatspflichten erwachsen.71 Die Strukturen der Existenz oder Existenzialien bieten universalisierbare Orientierungen. Es handelt sich jedoch weder um Metaphysik im Sinne Martin Heideggers, will sagen um einen Diskurs, der die menschliche Natur definieren will, noch um einen Versuch, ausgehend von einer essentialistischen Konzeption eine moralische und politische Ordnung zu gründen. Es soll nicht behauptet werden, dass Normen auf biologischen Fakten beruhen, sondern es geht darum, der abstrakten und desinkarnierten Konzeption des Individuums, die den gegenwärtigen moralischen und politischen Theorien zugrunde liegt, eine Konzeption des in seiner Körperlichkeit gedachten Subjekts entgegenzusetzen. Diese Verankerung der Ethik in einer Philosophie der Existenz unterscheidet sich vom naturalistischen Sophismus, den die analytischen Philosophen und Georges Canguilhem angeprangert haben. Sie bedeutet auch, dass die moralische und politische Philosophie sich nicht auf eine Weltsicht oder auf Werte beschränkt, die nichts weiter sind als Subjektivierungen, die einzig vom Blickpunkt der Individuen, ihren Vorlieben und Abneigungen, abhängen.72
Weil sie die Hauptzüge ihres Moralkonzepts mit ihm teilt, schreibt sich die Ethik der Wertschätzung in das platonisch und aristotelisch inspirierte Erbe der Ethik der Tugenden ein, was sie von den zeitgenössischen, die Rückkehr zu Aristoteles propagierenden Philosophien trennt, ist die Ablehnung des Perfektionismus und des Naturalismus. Diese doppelte Ablehnung erklärt auch, dass sie nicht von einer metaphysischen Konzeption des Menschen und der Welt, von einer Kosmologie, einer Teleologie oder gar einer starren Vorstellung von einem gelungenen Leben abhängig ist, sondern sich auf eine Philosophie der Existenz stützt, die ein reflektiertes Gleichgewicht zwischen Universalismus und Historizität vertritt. Die Ethik der Wertschätzung liefert keine Rezepte für ein gutes Leben, ist sie doch per definitionem untrennbar von der Anerkennung des intrinsischen Wertes der Lebewesen, von der Achtung ihrer Alterität und der Anerkennung der Diversität der Lebensformen und Kulturen. Und der Schlüssel des Verhältnisses zu den anderen und der Sorge um die Welt ist die Subjektivität, nicht die Tradition.
1 Claude-Marie-Gattel, Dictionnaire universel de la langue française, vol. 1, Paris, Nabu Press, 2012, p. 412.
2 Bernhard von Clairvaux, De consideratione V,4 in Sämtliche Werke lat./dt. hrsg. v. Gerhard Winkler 10 Bände, Innsbruck, Tyrolia, 1990–1999. De consideratione in Band 1, 1990, p. 611–841.
3 Ibid. I, 8: „divinarum pariter et humanarum rerum scientiam confert consideratio“.
4 Rémi Brague, „L’anthropologie de l’humilité“, in Rémi Brague (ed.), Saint Bernard et la philosophie, Paris PUF, „Théologiques“, 1993, p. 129–152.
5 Bernhard von Clairvaux, De consideratione II, 7.
6 Ibid. I, 6.
7 Ibid.II, 17.
8 Ibid. II, 18. Hiob 1, 21.
9 Bernard von Clairvaux, Stufen der Demut und des Stolzes I,2 in Sämtliche Werke, Band II, 1992.
11 Bernhard von Clairvaux, Predigt 23 über das Hohelied, in Sämtliche Werke lat./dt. hrsg v. Gerhard Winkler Innsbruck, Tyrolia, Band V 1995. Bevor sie die Kontemplation der Wahrheit erreicht, die der Gipfel der Wertschätzung ist, passiert die Seele drei Vorratskammern. Die erste ist die Kammer der Gewürze, die der Erfahrung der Demut entspricht; die Seele trinkt diesen bitteren Trank und lernt die Disziplin, die „die natürliche Kraft rechter Sitten […] hervor[lockt]“. Die erste Kammer führt in die zweite, die die der Düfte (oder Salböle) ist, in der „[sich] in diensteifriger Bereitschaft die willkommene Sanftmut einer willigen und gleichsam angeborenen affectio [regt]“ (Band V, p. 333). Schließlich kommt die Seele in die dritte Kammer, die die des Weins und der Gnade ist, die dem, der Autorität über die anderen hat, erlaubt, sich ihrer zu bedienen, aber zugleich den Ruhm zu verachten. Für Bernhard von Clairvaux gibt es ohne Demut keine Barmherzigkeit, die es möglich macht, seinen Nächsten zu lieben, in Frieden in einem Staatswesen zu leben und, wenn man Autorität über die anderen empfangen hat, diese nicht zu missbrauchen, sondern das Gute für die anderen und die Gemeinschaft anzustreben.
12 Ibid. Selbst in der dritten Kammer kommt das Individuum nicht wirklich zur Ruhe, denn es fühlt sich von dem Übel betroffen, unter dem die anderen leiden und dessen sie schuldig sind, schreibt Bernhard von Clairvaux.
13 Bernhard von Clairvaux, Stufen der Demut und des Stolzes I, 1. Er zitiert Matthäus 11, 29: „Lernet von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig.“
14 Bernhard von Clairvaux, De consideratione II, 8.
15 Ibid. III, 2.
16 Ibid. I, 11.
17 Id., Stufen der Demut und des Stolzes III, 6.
18 Id., De consideratione I, 10. Bernhard zitiert das Buch Kohelet 7, 16.
19 Römerbrief 12,3: „Non plus quam oportet sapere, sed sapere ad sobrietam.“
20 Siehe Bernhard von Clairvaux, Predigt 23 über das Hohelied.
21 In diesem Fall gilt die Kritik Emmanuel Kants in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
22 Holmes Rolston III, „Environmental Ethics: Half the Truth but Dangerous as a Whole“, in Ronald Sandler und Philip Cafaro (ed.), Environmental Virtue Ethics, p. 61–78.
23 Vladimir Jankélévitch, Traité des vertus, t. 2, Les vertus et l’amour, Paris, Flammarion, „Champs Essais“, 1986, p. 191.
24 Platon, Erster Alkibiades, 132c–133a.
25 Seneca Epistulae morales ad Lucilium Lat./dt., Stuttgart, Reclam, 1987ff. Buch X, Brief 82, 5. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen VIII, 48.
26 Seneca, Briefe an Lucilius, XVII/XVIII, Brief 108, 35.
27 Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France, 1973–1984, übers. v. Ulrike Bokelmann, Suhrkamp, Frankfurt, 2009, p. 396; der von Pelluchon zitierte Terminus des frz. Originals kommt hier nicht vor: „Der antike Ringer stellt sich den Ereignissen, dem Widerfahrenden“.
28 Epiktet, Gespräche, Buch II, XXXI, 21–22.
29 Seneca, Briefe an Lucilius, V, 52, 1–2.
30 Ibid. III, 23, 3–6.
31 Seneca, Consolatio ad Marciam, XVIII.
32 Briefe an Lucilius, VII, 65, 15.
33 Ibid., 66, 6 und siehe 65, 20.
34 Cicero, Tusculanae disputationes, III, XI–XIII. Die aegritudo bezeichnet den Zustand der Niedergeschlagenheit, die Überwältigung durch den Schmerz. Siehe auch Seneca, Consolatio ad Marciam, XIX.
35 Günther Anders, „Die beweinte Zukunft“, in Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen, München, Beck, 1981, p. 8.
36 Ibid., p. 10.
37 Jonathan Schell, Das Schicksal der Erde, übers. v. H. Kober, Gütersloh, Bertelsmann, 1982, p. 208.
38 Iris Marion Young, Responsibility for Justice, Oxford, Oxford University Press, 2011, p. 52, 90, 97, 105, 107.
39 Günther Anders, „Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel mit Claude Eatherly“, in: Günther Anders, Hiroshima ist überall, München, Beck, 1982, p. 207.
40 Ibid., p. 194. Vorwort von Bertrand Russell.
41 „Der Mann auf der Brücke“, in Günther Anders, Hiroshima ist überall, p. 18–22, 55s.
42 Ibid., p. 9, 123.
43 Ibid., p. 3.
44 Ibid., p. XV.
45 Ibid., p. 327.
46 Ibid., p. 327.
47 Gertrude Elizabeth M. Anscombe, „Die Moralphilosphie der Moderne“.
48 Platon, Gesetze, V, 726b. Platon Gesetze übers. und erl. v. Otto Apelt, 2 Bde, Leipzig, Meiner 1945 (=1916), Band I, p. 144s..
49 Ibid., 73od.
50 Ibid., 728c (= Band 1, p. 146).
51 Ibid., 729b. In der von Pelluchon zitierten frz. Übersetzung ist von einem „sens profond du respect“ die Rede (A. d. Ü.).
52 Platon, Gorgias, 507a–c.
53 Id., Gesetze, V, 731.
54 Ibid., 728b–c. Siehe auch Xenophon, Hieron oder Traktat über die Tyrannis, V, 1–2, in Leo Strauss, Über Tyrannis, Neuwied, Luchterhand, p. 19.
55 Platon, Gorgias, 487a. Siehe auch Geseze, V, 730.
56 Aristoteles, Nikomachische Ethik, I, 13, 1102a 5.
57 Philippa Foot, Die Natur des Guten, p. 112–114.
58 Ibid., p. 115, 116ss., 129s.
59 Aristoteles, Nikomachische Ethik, X, 3, 1174a 1–3.
60 Helmut Gollwitzer, Käthe Kuhn und Reinhold Schneider (ed.), Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933–1945, München, Kaiser 1954; zit. von Philippa Foot, Die Natur des Guten, p. 126.
61 Ibid., p. 130.
62 Ibid., p. 125.
63 Ibid., p. 53, 56s., 60s., 63s., 69, 74s.
64 Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Berlin, August, 1974, p. 57, 139, 155.
65 Platon, Gesetze, V, 726a, und Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 12, 1101b 10–1102a.
66 Die Emotionen spielen für die Erziehung bei Platon eine fundamentale Rolle, wie Olivier Renaut zeigt, Platon, la médiation des émotions. L‘Éducation du thymos dans les Dialogues, Paris, Vrin, 2014.
67 Paul Ricœur, Das Selbst als ein anderer, übers. v. J. Greisch, bearb. v. Th. Bedorf und B. Schaaff, Paderborn, Fink, 2005, p. 348s., 421 und 428.
68 Diese Kritik übt Alasdair MacIntyre, Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need Virtues, Chicago, Open Court, 1999. Dt. Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, Hamburg, Rotbuch, 2001. Martha C. Nussbaum ermöglicht eine Nuancierung, indem sie die Bedeutung des Begriffs daimon in der aristotelischen Ethik hervorhebt. Siehe The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge, Cambridge University Press, 2001.
69 Das ist der Einwand, der sich gegen Alasdair MacIntyre erheben lässt. Obwohl er es für unmöglich hält, einen nirgends verorteten Standpunkt einzunehmen und behauptet, sich um die Traditionen, die die Quellen der Moralität sind und an denen Kritik erlaubt ist (Der Verlust der Tugend, Frankfurt, Suhrkamp, 1995), nicht zu kümmern, verficht er in Dependent Rational Animals, p. 8, 60, wo er die Referenz auf den Körper bei Merleau-Ponty in den von ihm vertretenen Thomismus integriert, den Standpunkt der Natur.
70 Diese Philosophie der Körperlichkeit wird entwickelt in Éléments pour une éthique de la vulnérabilité und in Les Nourritures. Philosophie du corps politique.
71 Siehe den zweiten Teil von Les Nourritures. Philosophie du corps politique, Kap. 1.
72 Ibid., p. 247.