Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 11

5.

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Der Reporter entschied sich für das pulsierende Auge des Taifuns, die mit Touristen vollgestopfte Stadt. Es schien ihm die sicherste Möglichkeit, um unterzutauchen. Zwar boten auch die romantischen Dörfer im ländlichen Umkreis so manchen Unterschlupf, doch er befürchtete, hier so schutzlos und auffällig zu sein wie zwei leuchtende Rebhühner bei der herrschaftlichen Treibjagd.

Sein preiswertes, schmuckloses Apartment in der historischen Altstadt sah nicht besonders groß, dafür aber umso unaufgeräumter aus: Küche, Bad, ein Zimmer mit Schlafsofa und ein nicht gerade einladendes Doppelbett. Der Kühlschrank war leer, es roch nach Junggeselle – und das alles im vierten Stock. Kein Aufzug, fast hundert zum Keuchen animierende Treppenstufen und nur ein winziger Balkon, der jedoch mit einem traumhaften Ausblick entschädigte: collagenartig angeordnete rote Dächer aus teils verwitterten Ziegeln, deren helle und dunkle Stellen im glitzernden Licht der Sonne ein kontrastreiches Farbspiel aufführten, gaben einer großartigen, schöpferischen Architektur den gebührenden Schutz vor den launischen Kräften der Natur.

Hier fanden sich Bars und Restaurants, bis zum letzten Platz angefüllt mit unersättlichen Urlaubern. Dazwischen immer wieder kleine Manufakturen, in denen handwerkliche Meister gralsgleich die vom Aussterben bedrohten Traditionen der alten Künste bewahrten: Restauratoren, Silberschmiede und Papierschöpfer. Schuhmacher, die elegante Maßschuhe aus weichem, anschmiegsamem Leder fertigten. Geigenbauer, die Violinen mit Lackessenzen aus bestgehüteten Rezepturen streichelten, um die Krönung klanglicher Vollendung zu erwirken. Oder es werkelte an anderer Stelle eine Cappellaia, eine Hutmacherin, die selbst entworfene Schmuckstücke einer entzückten weiblichen Kundschaft feilbot: modische Strohhüte mit bunten Schleifen und breiten Krempen; klassische Hüte, mal feminin elegant, mal frech verspielt mit glitzernden Pailletten und geheimnisvollen Schleiern; Glockenformen, modisch chic im Retrostil der 20er-Jahre eines fast schon vergessenen Zeitalters oder extravagant große Kunstwerke aus schwarzem Seidentaft mit aufgebogenem, weit schwingendem Rand und glamourösen Federkreationen.

Die Frau, von ihrem Retter liebevoll Rosenwolke genannt, schlief bis in die späte Mittagszeit des nächsten Tages. Längst war das Gewitter, das sich in den vorherigen Abendstunden mit elementarer Wucht und einem heftigen Temperatursturz entladen hatte, wieder dem gewohnt hochsommerlichen Wetter gewichen. Fürsorglich, wenn auch nicht ganz uneigennützig, hatte der Reporter für seinen aus Unbill befreiten Engel in einer der zahlreichen Modeboutiquen rasch etwas zum Anziehen erworben: einen blauen Jeansrock und ein unauffälliges T-Shirt mit typisch touristischen Aufdrucken. Dies musste fürs Erste reichen. Er hoffte, die ausgewählten Größen würden passen, konnte aber auch den Wunsch nicht verhehlen, sein Augenmaß möge sich knapp verschätzt haben.

»Danke«, die Frau sah den fremden Mann aus dunkelbraunen Augen müde an. Sie griff nach der frischen Kleidung und der kühlenden Heilsalbe – von ihrem ritterlichen Helden ebenfalls in einem Anflug von rührender Besorgtheit bereitgelegt – und verschwand wortlos im Bad. Des Wassers heiß dampfende Reinheit würde schnell helfen, den ganzen Schmutz der furchtbaren Erlebnisse abzuwaschen und klare Gedanken zu fassen, um dann entschlossen die mysteriösen und gefährlichen Machenschaften, die sich hinter jener zauberhaften Zeichnung aus Vaters Bibliothek verbargen, zu durchforschen. Nein, Jammern gehörte ebenso wenig zu ihrem Repertoire wie Zaudern. Denn sie war eine neugierige, beherzte Kämpferin, die das Leben genoss, Grenzen austestete, ohne grenzenlos zu sein, und Ideale verfolgte, ohne in hoffnungslosen Idealismus zu verfallen. Denn sie spürte die Erdung im Mutterboden ihrer Väter, der über Millionen von Jahren die Saat der urgewaltigen Herausforderungen eines immerwährenden Kampfes von Fruchtbarkeit und lebensfeindlicher Dürre in sich trug. Ein stetiger Überlebenskampf, prägend und bestimmend für die eigenen Gene.

»Ich habe Hunger«, stellte die Frau mit entwaffnender Offenheit fest, als sie frisch geduscht aus der Badezimmertür trat. »Hast du etwas Essbares im Kühlschrank?«

»Äh … normalerweise ist der … fast immer leer«, bekannte der Reporter ein wenig stotternd. Mit offenem Mund und aus geweiteten Pupillen, die totale Verblüffung ausdrückten, glotzte er die weibliche Erscheinung an, als hätten seine Augen noch nie eine wunderschöne Frau gesehen. Denn erst jetzt, im Lichte des harten Kontrasts, wurde ihm vollends deutlich, wie sehr die schwarze Madonna des Leids, von ihm erst gestern abgelichtet für die Ewigkeit und dann auf Schultern getragen und ins schattige Gras gelegt, etwas so Einzigartiges, Besonderes und Inniges verkörperte. Es dauerte knappe zwei Sekunden, dann regierte bei ihm wieder der Verstand über die aufgekeimten Emotionen: »Aber heute habe ich den Kühlschrank ein wenig aufgefüllt. Nimm dir, was du willst«, seine Stimme konnte jetzt beruhigt gönnerhaft klingen.

Gierig biss die Frau in ein Stück gut gewürzte Salami, dem mehrere Käsehappen folgten. Allmählich kehrten die Lebensgeister zurück. »Bist du Fotograf, ein Knipser?«, fragte sie mit einem amüsierten Lächeln, während sie die scheinbar achtlos im Zimmer umherliegenden fotografischen Utensilien betrachte. »So einer, der immerzu Tausende von Bildern schießt?«

»Mir blieb noch keine Zeit zum Aufräumen.« Hastig verstaute der Mann Ladegerät und Anschlusskabel, Objektive, Speicherchips und ein Stativ in einer großen blaugrauen Tasche. »Ich bin nicht auf Besuch eingerichtet, schon gar nicht einen so bildhübschen.« Er grinste, freute sich über den in Erfüllung gegangen Wunsch und grämte sich nicht über die Plumpheit des Kompliments. Ein besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. »Und was die vielen Utensilien betrifft … ja, ich knipse«, antwortete er süffisant. »Aber nicht einfach so zum Spaß. Ich bin Profifotograf. Meine Fotos sind immer kleine Kunstwerke, wie gemalt … Eben ausdrucksstarke Bilder zu besonderen Geschichten mit plaudernden Fotos von neuen, unverbrauchten Gesichtern. Denn für ausgefallene Storys mit den dazu passenden Bildern zahlt die Regenbogenpresse gutes Geld.«

»Also ein Paparazzo«, stellte die Frau mit einem entwaffnend unschuldigen Engelslächeln fest, während sie ihre Rundungen in der ein wenig zu engen Kleidung formvollendet in Stellung brachte. »Und da hattest du mich im Visier?«

»Du hast es gemerkt?« Der Fotograf konnte eine gewisse Enttäuschung in der Stimme nicht verbergen. Er mochte es nicht, wenn das gejagte Wild mit dem Jäger spielte, auch wenn er zugeben musste, dass ihm die grazil-weiblichen Bewegungen seiner Beute gefielen. Obwohl die Studentin ein wenig abfällig vom Knipsen sprach und seine fotografischen Kunstfertigkeiten augenscheinlich nicht richtig zu würdigen wusste, verschmerzte er die Bemerkungen. Unwillkürlich dachte er an die atemberaubenden, in dem alten Landhaus geschossen Fotos. Aber es war zu früh, der Frau hiervon zu erzählen – wenn überhaupt.

»Ist doch egal. Knipser, du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet«, die Frau sah ihn für den zarten Hauch eines kurzen Augenblicks mit einer sanften Intimität aus den Tiefen ihrer Seele an, bei dem auch jegliches Metall zerflossen wäre. »Weiß Gott, was die sonst mit mir gemacht hätten.«

»Vermutlich nichts Angenehmes«, vermerkte er mit einer Mischung aus dahingeschmolzenem Rittertum und sachlicher Nüchternheit. »Und für mich gäbe es keine einzigartige Rosenwolke mehr, die ich ablichten kann.«

»Rosenwolke?«, fragte die Frau, dabei den besitzergreifenden Unterton der männlichen Worte bewusst überhörend.

»Ja, so habe ich dich genannt, als du wie im Koma in meinen Armen lagst«, erklärte der Knipser schmunzelnd, um dann noch zu ergänzen: »Es ist nur ein Wortspiel: eine von mir erdachte Zusammensetzung aus der Königin der Blumen, Tausendschön und doch voller Dornen, und den Sommerwolken, mal luftig und hell, mal gewittrig und düster.« Er grinste, während er das glühende Rot seiner Ohren spürte.

»Gefällt mir«, antwortete Rosenwolke, fügte dann aber noch schnell hinzu: »Ich meine das mit dem Namen. Vermutlich bist du aus allen Wolken gefallen, als du mich das erste Mal gesehen hast.« Sie lachte kokett. Ihre Augen leuchteten voller Dankbarkeit und im Herzen züngelte bereits ein Feuer, viel heller und intensiver, als sie es jetzt schon zeigen wollte. »Hast du Fotos von mir gemacht?«

»Nein«, log er dreist. »Du warst ja auf einmal wie vom Erdboden verschluckt.« Schnell wechselte er das Thema: »Warum haben dich die Kerle entführt? Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir uns ein paar Gedanken machen«, sagte er mit sorgenvoller Miene. »Die Verbrecher werden bestimmt nicht so schnell aufgeben. Wollten die Männer vielleicht Lösegeld erpressen?«

»Nein, bei mir ist nichts zu holen«, stellte Rosenwolke wahrheitsgemäß fest.

»Aber vielleicht bei deinen Eltern?«, hakte der Knipser fragend nach. »Studierst du? Vielleicht Kunstgeschichte?« Er schmunzelte.

»Meine Eltern können wir aus dem Spiel lassen. Sie wohnen in einem kleinen Anwesen auf dem Land und haben nur Geld für das Nötigste.« Sie verheimlichte die Wahrheit. Aus Vorsicht – und aus Angst. Es ging ihr zu schnell, noch wollte sie dem Knipser nicht wirklich vertrauen. »Ich habe an der Facoltá di Lettere e Filosofia fünf Jahre Philosophie studiert«, beantwortete sie die zweite Frage. »Und nach weiteren drei Jahren dort auch promoviert. Jetzt arbeite ich als Dozentin an der Universität und momentan sind Semesterferien.« Ein leicht süffisantes und mit Stolz vermischtes Lächeln umspielte ihren süßen Mund.

Das Selbstbewusstsein in Rosenwolkes Stimme fiel auch dem Knipser auf. »Oh je, eine intelligente Schönheit, eine Dottoressa, das kann ja heiter werden«, seine Worte paarten offene Bewunderung mit machohafter Abfälligkeit.

»Ich kann ja gehen, wenn es dir nicht passt«, erwiderte Rosenwolke beleidigt und wendete sich ein wenig von dem Mann ab, ohne es aber wirklich zu wollen. Denn die Angst, mit einem Mal alleine zu sein, lähmte jeden Antrieb: Die Angst vor verwirrenden Gedanken und den Verletzungen der Seele – nein, sie brauchte jetzt die starke Schulter eines Mannes. Aber sie würde es ihm nicht zeigen. Noch nicht.

»Wo willst du denn hin? Wohnst du hier in der Stadt?«, fragte der Knipser ganz praktisch und scheinbar gleichgültig.

»Ja, in einem winzigen Apartment, zwar ziemlich in die Jahre gekommen, aber ganz nah bei der Fakultät.«

»Ich denke, die Entführer suchen uns«, stellte der Knipser sachlich fest. »Und deine Adresse werden sie bald herausgefunden haben, wahrscheinlich kennen die Verbrecher sogar schon die Hausnummer. Aber was wollten die Kerle nun wirklich von dir? Wofür der ganze Zirkus mit der Ziege?« Er schaute Rosenwolke eindringlich aus meeresblauen Augen an. »Und ehrlich gesagt, das andere … hm …« Er zögerte. Es war ihm unangenehm. »Ich meine … das Körperliche hätten die Schweine auch einfacher haben können, oder?«

»Du glaubst, ich hätte mich freiwillig flach gelegt?«, erwiderte Rosenwolke voller Entrüstung. Ihr Busen bewegte sich bedrohlich auf und ab. »Eher hätte ich denen die Eier abgebissen.«

Der Knipser lachte aus vollem Hals. Rosenwolkes deftige Sprache gefiel ihm, auch wenn diese nicht unbedingt in sein Weltbild von einem engelsgleichen Wesen passte. Er stellte sich lebhaft vor, wie … wurde dann aber in seinen amüsanten Gedankengängen unterbrochen.

»Lach nur«, fauchte Rosenwolke. »Denen werde ich es zeigen, den stinkenden Schweinepriestern.« Ihre braunen Augen funkelten vor wilder, gnadenloser Entschlossenheit. »Und dann nennen sie sich auch noch Männer Gottes.«

»Die Kerle waren Priester?«, fragte der Knipser ungläubig. »Woher willst du denn das so genau wissen … bei der Vermummung?« Seine Stirn warf sich in Falten.

»Der kleinere der beiden Männer trug ein Priesterkreuz um den Hals«, antwortete Rosenwolke selbstsicher. »Ich würde es wiedererkennen – und das abscheulich süß riechende Parfum seines Kumpans.« Sie schüttelte sich, wollte noch nachträglich den aufkeimenden Ekel abwerfen. »Und, ach ja, das Pentagramm«, fügte sie hinzu.

»Was für ein Pentagramm?«, wollte der Knipser neugierig wissen.

»Einer der Männer, der größere, trug eine Tätowierung in der rechten Hand, einen fünfzackigen, dunklen Stern. Was immer der auch zu bedeuten hat.«

»Aber die haben das Ganze doch nicht zum Spaß veranstaltet?« Der Knipser schaute Rosenwolke ungläubig an, diesmal aber noch eindringlicher und näher als vorher.

Rosenwolke war überrascht, wie lange sie den Blick des Mannes duldete. Der Knipser gefiel ihr. Sie konnte sich vorstellen, ihm zu vertrauen, voll und ganz. Sein jungenhaft helles Lachen, der verschmitzte Blick und die strahlend blauen Augen begannen sie zu erobern. Deshalb entschloss sie sich, dem Mann die Wahrheit zu sagen. Zumindest so weit es ging: »Die Entführer wollten die Zeichnung, die ich in der Bibliothek gefunden habe.«

»Was für eine Zeichnung? Du hast sie in der Nationalbibliothek gefunden?«, hakte der Knipser gespannt nach, dabei sein heimlich beobachtetes Wissen anwendend.

»Ja.« Wieder verbog Rosenwolke die Wahrheit. Für ihre Eltern, zu deren Sicherheit. »Es ist eine alte Zeichnung mit einem mysteriösen Spruch, so als spräche das Orakel von Delphi.«

»Hast du die Zeichnung dabei?« Der Knipser blickte die Frau erwartungsvoll an.

»Nein, bist du verrückt, natürlich nicht. Sie ist in der Bibliothek und dort sicher verwahrt in einem Buch.« Rosenwolke benutzte einen kleinen, wohlüberlegten Schwindel.

»Aber wieso wussten die Männer davon?« Dem Knipser kam die ganze Sache allmählich unheimlich vor. »Wem hast du von deinem Fund erzählt?«

»Nur meinem Professor, dem Dekan der Fakultät. Er kennt Gott und die Welt und hat ein Faible für mittelalterliche Kunstgeschichte. Ich habe ihm die Zeichnung letzte Woche gezeigt. Aber nur flüchtig, er musste schnell weg. Wir wollen uns wieder treffen.« Rosenwolke schaute sich unruhig in dem Apartment um, bis ihre Augen auf einen kleinen roten Wecker fielen, der auf dem Nachttisch stand. »Wie viel Uhr haben wir?«, fragte sie entgeistert – ihr war völlig entgangen, dass sie die ganze Nacht und den halben Tag tief und fest geschlafen hatte. »In einer Stunde bin ich im Büro des Dekans verabredet. Jetzt müssen wir uns aber sputen.« Sie schaute vom Balkon des Apartments hinunter auf die belebte Straße. »Zum Glück wohnst du ja sehr zentral, Knipser. Von hier aus ist es nur eine gute Viertelstunde zu Fuß.«

»Mit gesunden Füßen«, erlaubte er anzumerken, »aber deine sind immer noch ziemlich zerschunden.«

»Das geht schon. Wenn ich barfuß gehe, spüre ich fast nichts mehr von den Verletzungen«, sagte Rosenwolke tapfer und biss die Zähne zusammen. Sie konnte kämpfen, sie wollte kämpfen – und sie wollte sich rächen. »Außerdem liegt Barfußlaufen in meinen Genen.«

Im lebhaften Gewoge der scheinbar wahllos zusammengewürfelten Touristenströme erreichten Rosenwolke und der Knipser unerkannt die Piazza. Zwei junge Menschen, sonnengebräunt, in modischen T-Shirts. Sie barfuß, feenhafter Inbegriff sommerlicher Sinnlichkeit, er leger mit Kamera und aufgeschlagenem Stadtplan – ein zauberhaftes Bild purer Lebenslust und doch so alltäglich in der Stadt der edlen Künste, dass niemand ihm Beachtung schenkte.

Wie jeden Tag um diese Zeit war die Piazza vollgestopft mit parkenden Autos. Der kleine Platz erinnerte namentlich an einen der bedeutendsten heimischen Ingenieure, Großmeister seiner Zunft und Erbauer der kolossalen Kuppel des Doms. Das zweigeschossige, von immergrünen Olivenbäumen umgebene Universitätsgebäude mit hübschen weißen Sprossenfenstern, beiderseits eingerahmt von langen, lindgrünen Klappläden und einem mit roten Ziegeln eingedeckten Dach, vermittelte in seiner steinernen Bauweise die Seelenruhe der Jahrhunderte. Umgeben von längst der Erneuerung bedürftigen Häuserzeilen, deren morbider Charme sich hier und da in kleinen, schmiedeeisernen Balkonen und Laternen, verwaschenen Fensterläden oder auf den Simsen turnenden Blumentöpfen mit herrlich violett blühenden Hortensien ausdrückte, bildete das ehrwürdige Gebäude einen wunderbaren Kontrast zu bedrohlich nahen, erdrückend trostlosen Bausünden geschichtsloser Betonfassaden, deren gläserne Gesichtslosigkeit sich durch unisono herabgelassene Jalousien nur noch verstärkte. Und das Viertel atmete, atmete im Dunst der Abgase, im hellen Licht der wärmenden Sonne, im satten Grün der Bäume, im emsigen Treiben der hier lebenden Menschen, im alltäglichen Gang der Zeit.

Aber heute war es anders als sonst: die vielen Leute auf der Piazza, gestikulierend und lamentierend, die Absperrungen am Portal zur Facoltá, das vielfüßige Aufgebot an Carabinieri, der große schwarze Wagen, bedrohlich, unheimlich, mit einem Kreuz auf dem umgebauten Dach.

»Was ist denn hier passiert, Knipser?«, fragte Rosenwolke völlig entgeistert, während sie unwillkürlich nach der Hand des Reporters griff.

»Offensichtlich nichts Gutes. Lass uns versuchen etwas näher heranzukommen.« Der Knipser erwiderte das Händeln der Frau mit sanftem Druck und zog sie sachte mit sich durch die Menge.

Vor ihnen stand ein älterer Mann, schneeweiße Haare, leicht gebückte Haltung, Zigarillo, hölzerner Spazierstock mit Silbergriff. Er wusste offensichtlich bestens Bescheid, weswegen auch unentwegt neugierige Fragen der gaffenden Mitmenschen auf ihn einprasselten.

»Warum ist denn hier abgesperrt?«, versuchte der Knipser eine kurze Atempause des Alten auszunutzen.

»Weil …«, der Mann drehte den Kopf in Richtung Ansprache und sagte leise, sich aber völlig sicher fühlend, dass man nur ihn meinen konnte, »… der Professor in seinem Büro erschossen wurde.«

»Der Dekan?« Die Philosophin hoffte inständig, er würde mit Nein antworten.

»Ja.«

»Warum? Wieso nur?«, schrie Rosenwolke. Sie verstand die Welt nicht mehr. »Wer macht so etwas?« Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie spürte, wie sich der Boden unter ihren nackten Füßen abgrundtief zu öffnen begann.

»Es gibt nur Gerüchte«, antworte der alte Mann ruhig, während er genüsslich an dem Zigarillo zog. »Angeblich ein Racheakt, manche wollen etwas erfahren haben von amourösen Frauengeschichten, andere haben wohl zwei Verdächtige mit schwarzen Helmen auf einem Motorrad gesehen.« Der Alte hielt einen kurzen Moment inne, um dann mit deutlich leiserer Stimme und vorgehaltener Hand fortzufahren: »Und wissen Sie, was mysteriös ist?«, er deutete den beiden Neugierigen mit einer kurzen Handbewegung an, dass sie sich zu ihm herunterbeugen mögen. »Die Sekretärin des Professors kam schreiend aus dem Haus, als sei der Leibhaftige persönlich hinter ihr her.« Der Mann kicherte, kam dann aber ohne weitere Umschweife zum Kern: »Sie faselte etwas von einer Zeichnung, die der Mörder gesucht, der Professor aber nicht gehabt habe.«

»Es wird höchste Zeit, dass wir verschwinden, Rosenwolke«, raunte der Knipser seiner Begleiterin ins Ohr. »Mir wird das hier zu unheimlich.«

»Aber …« Rosenwolke vergaß, in welcher Gefahr sie sich befanden. Noch behielt ihre Neugier die Oberhand.

»Kein Widerwort«, entgegnete der Knipser entschlossen. »Siehst du nicht den Zusammenhang? Erst du und jetzt der Professor. Und das alles nur wegen einer alten Zeichnung.« Der Knipser nahm Rosenwolke fest an die Hand.

»Ja, schon«, Rosenwolke versuchte erst gar nicht, zu widersprechen. Der Knipser hatte recht und sie war dankbar, dass er sich sorgte.

»Ich fliege morgen gegen Mittag in die Metropole der Haute Couture. Dort habe ich übers Wochenende einen neuen Job zu erledigen. Es sollen ein paar schicke Modefotos voll von sündhaftem Luxus und unerschwinglicher Extravaganz sein.« Der Knipser lachte herzerfrischend. »Komm einfach mit und wir klären das Ganze aus der Ferne«, schlug er vor. »Hier ist es zu gefährlich. Ich buche dir einen Flug. Was meinst du? Oder willst du lieber zu deinen Eltern?«

»Nein!« Ein leiser Aufschrei entwich der weiblichen Kehle. Nur nicht die Eltern in Gefahr bringen, dachte Rosenwolke. Schnell verbesserte sie sich: »Äh, ja. Ich fliege mit.« Was konnte schon passieren? Besser den gewieften Reporter an deiner Seite, als hier alleine auf der Flucht vor unbekannten Häschern, sagte die innere Stimme und Rosenwolke gefiel der Händedruck des Mannes.

Jetzt galt es, entschlossen zu handeln. »Ich müsste noch ein paar Sachen aus meiner Wohnung holen, ist hier gleich um die Ecke«, warf sie daher mit nachdrücklichem Tonfall ein – verschweigend, dass sie von dort auch die behutsam aufbewahrte, geheimnisvolle Zeichnung mitnehmen wollte.

»Gefährlich«, gab der Knipser zu bedenken. »Die Entführer könnten dir auflauern.«

»Glaub ich kaum, bei der vielen Polizei hier«, erwiderte Rosenwolke kämpferisch. »Die Gefahr, den Carabinieri aufzufallen oder denen bei einer Straßensperre in die Hände zu fallen, ist doch viel zu groß.«

»Na schön«, gab er sich der weiblichen Intuition geschlagen. »Lass uns aber schnell machen und wieder in mein Apartment abhauen. Dort sind wir sicher, die Adresse kennt keiner. Und dann musst du mir unbedingt mehr über diese rätselhafte Zeichnung erzählen.«

Als die Sonne begann, sich vor der hereinbrechenden Nacht zu verneigen, hörte der Reporter gebannt zu, als Rosenwolke ihm von dem auf Pergamentpapier gezeichneten, durch den festen Einband eines Folianten vor Verschmutzung, Knicken und Rissen geschützten Bildnis erzählte: von geschwungenen Bewegungen langer Blätter; von blühenden, üppigen Pflanzen und von Bäumen mit großen, weitverzweigten, teils verschlungen Ästen, die in eine mächtige Krone aus vollem Laubwerk mündeten. Von einem märchenhaften Garten, in dem die Morgensonne verwunschene Schatten warf, von plätschernden Wasserspielen und von einer inmitten der wundersamen Landschaft stehenden, zweistöckigen Brücke. Dies alles mit meisterlicher Feder so bewundernswert lebendig, so einladend nah gezeichnet, die Wirkungen von Licht und Schatten so trefflich aufs Papier gebannt, als ginge man selbst in der Natur spazieren: Die romantisch wilde Seele des Gartens offenbarte sich dem Betrachter in vollster Schönheit; es duftete nach feuchter Erde und dem Grün der Gräser.

Noch bevor der Knipser sich eigene Gedanken machen konnte, berichtete ihm Rosenwolke vom Treffen mit dem Dekan: Diesem waren die am Rand der kostbaren Zeichnung vermerkten Schriftzüge sofort aufgefallen und obwohl zunächst unleserlich ausschauend, gelang es ihm, den in Spiegelschrift verfassten Text rasch zu entziffern. Ja, der Professor hielt es sogar für möglich, das Teilstück eines Rätsels gefunden zu haben, womöglich eine orakelhafte Spur zur Weltformel, zum ewigen Leben, zum Heiligen Gral – sagenumwoben und geheimnisvoll; eine Legende, durch Jahrhunderte überliefert, von Generation zu Generation – widersprüchlich, verschwörerisch, magisch. Und während Rosenwolke so erzählte, blitzte aus ihren Augen die Leidenschaft für das Unbekannte, das Mystische. Mit weich klingender Stimme und den Knipser fest im Blick, trug sie die rätselhafte Formulierung des vom Dekan entschlüsselten Textes wortgetreu vor: »Trinitas vereinigt sich mit der ewigen Schönheit. Diese enthält die Formel für das menschliche Leben in der ewigen göttlichen Ordnung.«

Der Knipser schlief auf der Couch, Rosenwolke in seinem Bett. Nur zu gerne hätte sie sich in starke männliche Arme gelegt, den Kopf an eine breite Schulter angelehnt, Wärme und Nähe gespürt. Nur zu gerne hätte sie die Erschütterungen der Seele, die intime Atmosphäre des gemeinsam Erlebten mit dem Knipser geteilt. Denn jetzt, als nach den dramatischen, ihr Leben bedrohenden Ereignissen und dem ruhelosen Trubel der letzten Stunden alle Last abfiel, das Bewusstsein mit schonungsloser Offenheit die Gefahr, in der sie sich befand, zelebrierte und sie ihr zittriges Herz vor Aufregung wild pochen hörte, da dürstete es sie nach dem unsichtbaren Band tiefer Sinnlichkeit. Sie sehnte sich nach feinfühligen Fingern, deren streichelnde Berührungen unendliche Ruhe verhießen, nach weichen Lippen, denen eine wohlig dunkle Stimme entwich. Aber es war noch zu früh. Konnte sie dem Knipser vertrauen? Ganz und gar?

Am nächsten Tag flogen sie gemeinsam in die Hauptstadt der Mode.

Rosenwolke und die Formel der Welt

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