Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 9

3.

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Langsam wachte die junge Wissenschaftlerin aus der Betäubung auf. Ihr Kopf brummte wie ein Schwarm Bienen, der augenblicklich einen Honig saugenden Nebenbuhler angreifen wollte. Das Erinnerungsvermögen dämmerte vor sich hin. Studiosi? Nicht auszuschließen. Zwar verwöhnten diese sie hin und wieder mit übermütigen Schelmereien – zumal als attraktive Dozentin von Mitte zwanzig – doch dieser Streich ging jetzt deutlich zu weit – realitätsnahes Fernsehen hin oder her.

»Mist«, murmelte sie ärgerlich, »ich kann mich nur noch entsinnen, dass mich etwas in dieses verdammte Auto gezogen hat.« Unbequem auf dem Boden liegend, spürte sie unter sich das harte, rubbelige Blech des Wagens. »Zumindest eine Decke hätten die Idioten reinlegen können«, fluchte sie laut. Alle Knochen meldeten sich in der Einsatzzentrale des Gehirns wehleidig zu Wort. Sie hegte den schlimmen Verdacht, massenhaft mit schmerzenden und zu alledem noch hässlich blaurot unterlaufenen Blutergüssen übersät zu sein. Tintenklecksartige Flecken, die wie eine Mischung aus ungewollt verschüttetem schwarzbraunem Kaffee und tiefrotem Wein wirkten. Nun ist gut, dachte die Frau unwirsch. Jetzt einfach aufstehen und dem Spuk ein Ende machen. Leichter gesagt als getan, denn erst jetzt bemerkte sie die Fesseln an ihren auf dem Rücken eng zusammengebundenen Händen. Die Gelenke schmerzten. Auch an den fest zusammengezurrten Füßen schnitten die groben Schnüre scharf in die empfindlich dünnen Hautpartien. Sie kam sich vor wie ein handliches Paket, fertig zum Versand. Nur, wohin sollte die Reise gehen? Eine erste, winzig kleine Anmutung von Angst versammelte sich in der Magengrube.

»Seid ihr bekloppt«, fluchte sie erneut, mehr und mehr die zurückkehrenden Lebensgeister spürend. »Macht mich sofort los, es ist genug. Ich habe keine Lust mehr auf eure dämlichen Spielchen.« Sie schrie, inzwischen außer sich vor Zorn. Der dunkle Teint des Gesichts wandelte sich zur brennend roten Glut. Die Augen kämpften sich durch die Dunkelheit, aber nur ein paar kleine Ritzen in den rostigen Blechen des Lieferwagens gewährten vereinzelten, schwachen Lichtstrahlen den Eintritt in das Innere des Gefängnisses.

Sie sah und hörte niemanden. Sie glaubte allein zu sein. Doch sie irrte. Als ihre Sinne die schemenhafte Bewegung bemerkten, die von einem unförmigen Etwas in der hinteren Ecke des Wagens ausging, erschrak die Frau zu Tode. Das Bewusstsein rotierte, die Nebennieren schütteten – der Natur gehorchend – Adrenalin in Hülle und Fülle aus. Sie hörte ihr Herz rasen. »Was soll das? Wer bist du? Was willst du?« Ihre Fragen erfolgten mit brüchiger Stimme im angstvollen Stakkato; laut, lauter, immer lauter – denn die unheimliche Gestalt bewegte sich direkt auf sie zu. Jetzt kroch geballte Angst aus der Magengegend hoch, immer dichter werdend, höher und höher kletternd, bis sie der Frau die Kehle zuschnürte, die Glieder der Gefangenen wie Eis erstarrten – und plötzlich blickten ihre dunkelbraunen Augen in einen hell blendenden und sich fortwährend bewegenden Lichtkegel, vermutlich aus einer Taschenlampe. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das weiße Licht wanderte an ihrem Körper entlang. Unverschämt ausgiebig hielt es sich an ihren Brüsten auf. Viel zu lange. Die Frau begann zu zittern. Was sie in den diffus an den Wänden des Wagens zurückgeworfenen Lichtstrahlen zu sehen meinte, sah aus wie eine dunkel gekleidete, mit einer Wollmütze vermummte Gestalt, die sich breitbeinig vor ihr aufbaute. Nach Größe und Körperbau zu urteilen, wohl ein Mann, überlegte die Gefangene kurz, indes sie die offensichtlichen Schwierigkeiten der Kreatur beobachtete, das Gleichgewicht zu halten. Betrunken? Nein, dem heftigen Schlingern nach zu urteilen, bewegte sich der Lieferwagen auf kurvenreicher Strecke einfach viel zu schnell fort.

»Wo fahren wir hin?«, brüllte die Frau, allen Mut zusammennehmend. »Machen Sie mich sofort los, sonst …«

»Was sonst, kleines Fräulein, willst du mir drohen?«, antwortete das unbekannte Wesen barsch.

Ein Mann , schoss es der Frau durch den Kopf. Eindeutig eine dunkle Männerstimme. Aber so gut ihre Ohren auch hörten, den Augen blieb dennoch das hämische Grinsen unter der dreckigen, abgewetzten Vermummung des Fremden verborgen.

Als die dämonische Gestalt den Lichtkegel wieder auf das Gesicht der Gefangenen richtete, versuchte die Frau hektisch der gebündelten Leuchtkraft zu entkommen, bewegte sich wie ein Aal hin und her. Vielleicht gelingt es mir, überlegte sie fieberhaft, die Fesseln zu lockern und freizukommen; mit dem Vermummten werde ich dann schon fertig. Die Körperfunktionen der Philosophin arbeiteten jetzt im Fluchtmodus. Aber je mehr sie sich regte, umso schmerzhafter verspürte sie das Gefesseltsein an Händen und Füssen. Ihre zarte, solche Belastungen nicht gewohnte Haut, wies bereits erste blutige Druckstellen auf. Sie biss die Zähne zusammen. In Schönheit sterben wollte sie nicht – dann lieber kämpfen.

»Bleib still liegen, du blöde Tusse, oder ich knall dir eine.« Der unbekannte Mann beugte sich ein wenig zu seinem Opfer herunter, um den Sitz der Fesseln zu kontrollieren. Die stinkende Wollmütze befand sich nun ganz nah am Gesicht der Frau. Im Halbdunkel sah sie böse Augen, die durch zwei Sehschlitze stechend und begierig auf ihren Körper herabblickten. Das Scheusal roch nach billigem Schnaps. Spielerisch glitt die Lampe durch seine Finger, der Lichtkegel irrte wild umher. Was die Frau nun sah, ließ sie erschauern. Um den Hals des Mannes baumelte ein goldenes Priesterkreuz. Für einen winzigen Augenblick konnte sie die Konturen des gekreuzigten Christus im Ausschnitt eines offenen, weißen Hemdes erkennen. Mein Gott, was ist hier nur los? , fragte sich voller Unglauben ihr Verstand, so als wolle er des Rätsels Lösung von höherer Warte aus erzwingen.

Abrupt hielt der Wagen an. »Wir sind da. Jetzt keine Zicken!« Die Anweisung des Vermummten erfolgte kurz und knapp.

Erst einmal draußen nachsehen, wo wir überhaupt sind , überlegte die Frau mutig. Ich muss nur geduldig auf eine geeignete Möglichkeit zur Flucht warten.

Aber es kam anders. Rabiat und völlig unerwartet zog der Mann mit dem Priesterkreuz der Frau einen Jutesack über den Kopf. Feine Staubkörner und gröbere Faserteilchen verfingen sich in ihren langen schwarzen Haaren und rieselten das Gesicht hinunter. Sie musste husten, die Augen begannen zu brennen. Dann klopfte der Mann dreimal an die Ladetür des Lieferwagens. Blechern klang das vereinbarte Zeichen. Von außen wurde die Tür geöffnet.

»Jetzt raus mit dir.« Der vermummte Mann zerrte die gefesselte Frau am Arm hoch und stieß sie brutal nach vorne. An der Ladekante trat sie ins Leere und fiel nach vorne – geradewegs in zwei große, fest zupackende Hände. Die Finger der zweiten Gestalt bohrten sich fest in das zarte Fleisch der Frau. Sie schrie vor Schmerz. Augenblicklich wurde ihr Körper zum plumpen Mehlsack, kopfüber und wortlos getragen auf breiten, wohl männlichen Schultern. Sie versuchte sich zu bewegen, doch Angst und Schmerz lähmten die Muskeln. In dieser unbequemen Lage ausharrend versammelte sich alles Blut nach und nach im Kopf, der jeden Augenblick zu platzen drohte. Der Körper gehorchte nicht mehr. Sie verlor das Bewusstsein.

Die Gestalt entledigte sich der Last mit einem gekonnten Überschwung. Die Frau knallte auf die Platte eines bereitstehenden Tisches. Dann nahm man ihr den Sack ab. Nun wieder hellwach blinzelte die Gefangene mit den Augen und versuchte hektisch, das Umfeld ihrer misslichen Lage aufzunehmen: Die unverputzten, roten Ziegelsteine wiesen auf ein altes Landhaus hin. Die Luft schmeckte modrig und stickig, offensichtlich wohnten hier schon lange keine Leute mehr. Der Raum erschien nicht sehr groß, nur kärglich mit dem Nötigsten eingerichtet. Keine Bilder an den Wänden, ein paar alte Holzstühle standen neben dem Tisch. Sie sah einen Mann. Auch er benutzte eine schäbige, schmutzig-braune Wollmütze, um das Gesicht zu vermummen. Aber er schien deutlich kräftiger und größer als der Mann im Laderaum.

Anarchisch abstruse Gedanken durchzuckten den Kopf der Philosophin; es kam ihr vor, als läge sie auf einem Operationstisch. Ihre Organe, jung und gesund, würden sicherlich einen hohen Preis auf dem Schwarzmarkt erzielen – konnte man doch immer wieder Berichte über Menschen lesen, die ausgeweidet und einfach liegen gelassen wurden. Eine Horrorvorstellung. Sie zitterte wie Espenlaub. Die beiden Entführer sehen aber nicht aus wie Mediziner, widersprach der Verstand den ersten Befürchtungen. Oder würden die Experten vielleicht noch kommen? Unsinn. Die Frau verwarf den Gedanken. Das passte alles nicht zusammen, schließlich war man hier nicht in der Wildnis. Aber was dann? Lösegeld von den Eltern? Vielleicht.Aber es gibt wohlhabendere Familien in der Umgebung, überlegte sie, und die beiden Kerle machen den Eindruck, sich in den Örtlichkeiten gut auszukennen. Blieb letztlich nur eine Absicht … Schon allein der Gedanke daran ließ sie erneut erschauern und ihr Inneres bebte vor Entsetzen, während sie sich ausmalte, was die beiden Grobiane mit ihr anstellen könnten. Wenn auch der andere Mann zu den Pfaffen gehört, dann gibt es keine Chance, deren Geilheit Einhalt zu gebieten, wisperte ihre Seele. »Macht es euch Spaß, über wehrlose Frauen herzufallen, bloß weil ihr sonst keine abbekommt?«, schrie sie hysterisch, schrie sich die Angst aus der Lunge: »Ihr seid Schweine! Schweine! Elende Schweine!«

»Halt's Maul«, die Pranke des Größeren, offensichtlich der Rädelsführer, klatschte laut auf ihre rechte Wange.

Sie schrie wieder, diesmal vor Schmerz. Panik kroch hoch.

»Ich mach es dir jetzt gemütlicher«, säuselte der Grobian scheinheilig, während er die Fesseln an den Händen löste. Für einen kurzen Augenblick überkam die Frau ein Anflug von Erleichterung. Sie spürte die Entlastung in den Schultergelenken, spürte, wie das Blut wieder durch die Adern in die tauben Fingerspitzen floss. Kurz massierte sie ihre Arme, so als wolle sie jede einzelne Zelle beruhigen und die wiedergewonnene Normalität verkünden. Dann traute sie sich aufzurichten, doch der Mann stieß sie wieder zurück.

»Liegen bleiben, ich will es dir doch bequem machen.« Er lachte höhnisch. Der Peiniger nahm das linke Handgelenk der Frau, knotete eine Schnur darum, zog den Arm seines Opfers über den Kopf nach hinten und band die Fessel am unteren Tischbein fest. Dann wiederholte die Tortur mit der rechten Hand der Gefangenen. Gefühlskalt, ohne mit der Wimper zu zucken.

Bequem ist anders , dachte die Frau mit einem letzten Schuss Galgenhumor. Für einen kurzen Moment genoss sie es, nicht mehr auf ihren zusammengebundenen, am Rücken verrenkten Händen zu liegen. Bloß jetzt nicht die Nerven verlieren, mahnte ihr Verstand und versuchte, den hämmernden Puls nach unten zu fahren. Als aber der Peiniger die Fesseln an den nackten Füßen der Frau löste, dann den Körper auf der Tischplatte vorzog, bis die Pobacken am Rande des Holztisches lagen und die bloß liegenden, dunklen Schenkel mit seinen starken Armen nach außen drückte, wusste die Frau, was ihr bevorstand. Sie versuchte sich zu wehren, befahl allen Muskeln höchste Gegenwehr, doch sie kämpfte umsonst. Den wie Schraubstöcke wirkenden Händen des Vermummten konnte sie nicht das Geringste entgegensetzen. Am Rande ihres Gesichtsfeldes meinte sie, auf der Innenseite seiner rechten Handfläche eine Tätowierung zu erkennen: ein Pentagramm, einen fünfzackigen Stern, der sich deutlich von der hellen Haut abhob. Aber das unverschämte Grinsen des Mannes unter der ihn abschirmenden Mütze blieb ihr erneut verborgen.

Sie begann zu weinen. »Brauchst du es so? Kannst du nur so kommen?« In der mit schluchzender Stimme herausgepressten, aber nach keiner Antwort verlangenden Frage der gepeinigten Frau schwang panische Angst. Angst, die aus allen Poren tropfte. Schweißnasse Angst, die man riechen und an den zu unförmigen Nestern verklebten Haaren sogar sehen konnte. Aber sie würde sich wehren, bis zuletzt, mit maßloser Wut.

»Wo denkst du hin? Wir sind Ehrenmänner. Wir vergewaltigen keine Frauen.« Die Antwort des Mannes klang völlig unwirklich.

»Ach so?«, fragte sie zurück und setzte schrill nach: »Ja, ich vergaß, ihr treibt es lieber mit kleinen Jungs, die sind gefügiger.« Den ironischen Beigeschmack der Stimme sehr wohl bemerkend, klatschte der Mann die hohle Hand erneut auf die Wange der Gefangenen, diesmal links. Sie schrie auf. Laut. Noch lauter als zuvor. »Was wollt ihr dann, ihr Schweine?«

»Wo ist die Zeichnung?«

Die einfache, nur aus vier Wörtern bestehende Frage, traf die Frau völlig unerwartet und viel härter als die vorherigen Schläge – als sause ein gusseiserner Dampfhammer mit voller Wucht hernieder. Sie war völlig perplex. »Was für eine Zeichnung? Seid ihr verrückt? Ihr veranstaltet den ganzen Zinnober hier nur wegen einer Zeichnung? Ich weiß nichts davon«, log sie tapfer.

»Wo ist die Zeichnung?« Der Tonfall des Mannes wurde gefährlich ungeduldig. »Du weißt genau, was ich meine, tu nicht so dumm, die Zeichnung mit der Formel des Lebens.«

Die Philosophin versuchte krampfhaft, die in einem verschwommen Brei wabernden Gedanken zu ordnen. Ahnungen, Vermutungen, Befürchtungen durchzuckten ihr Denken wie Nadelstiche: Wieso wussten die Männer von der Zeichnung? Und was wollten die Kerle damit anfangen? Verkaufen, weil wertvoll? Handelten die Vermummten auf eigene Rechnung oder als gedungene Schergen? Und wenn ja, für wen? Egal, sie würde ihre Entdeckung niemals hergeben, unter keinen Umständen – der Schatz gehörte ihr.

»Ich weiß von keiner Zeichnung«, behauptete sie frech, allen verzweifelten Mut zusammennehmend. »Leck mich doch, du Schwein«, entfuhr es ihr. Doch es dauerte nur wenige Augenblicke, dann merkte die Doktorin der Philosophie, dass Mut zur falschen Zeit ein manchmal verhängnisvoller Fehler sein kann.

»Das haben wir gleich. Du Schlampe hast es nicht anders gewollt.« Mit einer geschickten, kraftvollen Drehbewegung warf der Mann die Gefangene auf den Bauch. Sie knallte mit dem Kinn und dem rechten Ellbogen auf die Tischplatte, ihr Becken stieß genau auf die Kante. Verdammt, noch mehr blaue Flecken, dachte sie lakonisch, ehe sie mit schmerzverzehrtem, fratzenhaftem Gesicht erneut laut aufschrie. Die Knöpfe ihrer stark verdreckten, vormals schneeweißen Bluse hatten bereits das Weite gesucht und boten keinen Halt mehr. Der dunkelrote Rock, an mehreren Stellen gerissen, sah schäbig aus. Die Arme überkreuz lang ausgestreckt und gefesselt, gab die gequälte Frau ein elendes Bild ab. Der Mann zog sie sich passend zurecht. Die Schnüre an den Händen spannten immer mehr, die nackten Beine hingen an der Kante des eisenharten Tisches herunter, gerade soweit, dass die Zehenspitzen den Fußboden berühren konnten. Die Frau versuchte zu treten, irgendeinen Gegenstand zu treffen – vergeblich.

»Hey, hilf mir mal.« Der Anführer winkte mit einer auffordernden Handbewegung zu seinem sich bisher im Hintergrund haltenden Kumpan: »Binde den Fuß am Tischbein fest, aber so, dass man die Sohle sehen kann«, er zeigte auf die rechte Tischseite, während er sich selbst am linken Fuß der Frau zu schaffen machte. »Nun, mein Täubchen, jetzt werden wir deinen Wunsch erfüllen«, sagte er genüsslich. »Denn Lecken ist unsere Spezialität.«

Die Frau konnte nicht sehen, wie der Mann die Mütze vom Kopf zog und sich mit der Hand durch die fettigen, verschwitzten Haare fuhr. Festgezurrt wie auf der Schlachtbank, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, versuchte sie verzweifelt bei Bewusstsein zu bleiben.

»Hol sie.« Wieder gab der größere der beiden Männer den kurzen Befehl.

Für ein paar Sekunden herrschte gespenstische Ruhe, dann vernahm die Frau geschäftige Schritte – offensichtlich verließen die Entführer den Raum. Sie lag nun völlig wehrlos auf dem Foltertisch. Ihre missliche Position ließ nur geringe Drehungen des Kopfes zu. Keiner konnte sie hören. Niemand würde ihr helfen. Tränen flossen über ihr Gesicht, erst wenige, dann immer mehr. Ein kleiner See des Elends bildete sich auf dem Tisch und versank langsam in den Jahresadern des alten Holzes. Nur noch ein letzter Funke Stolz züngelte in ihr. Aber auch dieser Funke drohte zu erlöschen, wie die Flamme einer abgebrannten Kerze. Dann sah sie schemenhaft aus durchnässten Augenwinkeln, den Kopf leicht zur Seite geneigt, wie der größere der beiden Männer zurückkehrte. Er hielt etwas in der Hand, aber sie konnte es nicht erkennen. Sekunden später spürte sie, wie der Mann eine leicht klebrige Paste auf ihren hellen Fußsohlen verstrich, erst links dann rechts. Es kitzelte ein wenig, wirkte für den Augenblick sogar beruhigend – zeigte es doch, dass sie noch lebte, dass Sinne und Reflexe noch funktionierten. Dann roch sie das billige Parfüm des Peinigers. Es stinkt nach Nuttenparfüm, dachte sie abschätzig. An deinem süßlichen Geruch werde ich dich wiedererkennen … Dann hörte sie das laute Meckern einer Ziege.

»Komm her, Pepino, du alter Bock.« Der größere der beiden Männer schnalzte mit der Zunge, während er den stattlichen, schwarz und weiß gefleckten Ziegenbock an der Leine bis vor die Füße des hilflosen Opfers zog. »So ist's brav, hier ist deine Leckerei.« Liebevoll tätschelte der Mann über das zottelige Fell der Ziege.

Mit vorsichtiger Neugier näherte sich das mit zwei imposanten Hörnern ausgestattete Tier den rosig schimmernden Fußsohlen. Ungeduldig meckernd schnupperte der Ziegenbock mit seiner feinen, dunkelgrauen Nase zaghaft an den Füßen der Frau. Begierig begann das Tier mit langer, flinker Zunge, das angefeuchtete Salz hastig von den Fußsohlen zu lecken.

Die gefesselte Frau zuckte wie elektrisiert, als sie die feuchte Zunge, rau wie Schleifpapier, an der empfindlichen Haut spürten. Es kitzelte. Der Körper antwortete reflexartig mit einem unfreiwilligen Lachen. Aber der Ziegenbock leckte unbeirrt weiter. Das Lachen der Frau wurde heftiger, lauter, fast wie Freudenschreie in Erwartung höchster körperlicher Genüsse. Sie jauchzte, das Kleinhirn schüttete wild Endorphine, drogengleiche Glückshormone aus – so wie es die unbewusste Steuerung immer tat, wenn sich seine Herrin im erregend erotischen Spiel hemmungslos ihren Trieben und Gefühlen hingab. Ganz kurz empfand die Frau ein angenehmes Wohlgefallen. Aber dennoch, sie mochte keine wehrlosen, sadistischen Fesselspiele.

Der alte Bock leckte genüsslich weiter. Sein Opfer quietschte vor Lachen. Aber mehr und mehr verstärkte sich das Lachen zu einem unnatürlichen Wiehern und Gackern. Das kitzlige, jetzt quälende Gefühl an den zarten Füßen wurde schier unerträglich. Die Frau kreischte, versuchte sich aufzubäumen, die Füße wegzuziehen. Vergeblich. Die Arme nach hinten gespannt, die Fesseln straff, schnitten sich die Schnüre umso schärfer ins Fleisch, je mehr sie sich wehrte. Blitzartige Reflexe, bis ins innerste Mark gehend, durchzuckten den wehrlosen Körper wie Peitschenhiebe. Die Muskeln schmerzten, Atemnot stellte sich ein. Die Überreizung war kaum noch auszuhalten. »Aufhören, hört auf, ich kann nicht mehr«, flehte die geschundene Frau mit gebrochener Stimme und wild hechelnd.

»Wir kommen deinen Wünschen gerne nach, Herzchen, das weißt du doch.« Der Scherge ruckte am Halsband der Ziege, zog sie fort.

Die Füße der Frau, der ganzer Körper empfanden es als einzigartige Wohltat, nichts mehr zu spüren. Ganz leicht entspannten sich die Muskeln. Wider die Vernunft überkam die Frau ein Gefühl von Dankbarkeit. Lange hätte sie die Tortur nicht mehr ausgehalten.

»Wo ist die Zeichnung?«, fauchte der Entführer ungeduldig. Er stellte die Frage noch unmissverständlicher als zuvor.

Die Doktorin keuchte. Hektisch jagten mal halb bewusstlose, mal glasklare Gedanken hin und her, unsicher schwankend zwischen Preisgabe und Verteidigung des Schatzes, entdeckt in der Bibliothek des Vaters. Nein, ihre Eltern, die sie als kleines Kind adoptierten, dem Hunger, den grausamen Wirren des Bürgerkrieges und den Unbillen des elendigen Flüchtlingslagers entrissen, durfte sie unter keinen Umständen hineinziehen. Sie verdankte ihnen so viel. Sie liebte Vater und Mutter – und deshalb wollte sie kämpfen, bis der letzte Atemzug entwich, so wie es ihre Ahnen in Tausenden von Jahren taten – im lebensfeindlichsten Umfeld, Jahr um Jahr, Tag um Tag.

Die Frau unterdrückte die Tränen, widerstand der Versuchung, sich dem Leid zu ergeben. Das Gehirn leistete Schwerstarbeit. Doch so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte, sie fand keine Lösung aus der ausweglosen, wahrlich kitzligen Situation. Denn was konnte noch helfen? Ein rettender Zufall? Wie lange sie die Tortur mit dem Ziegenbock wohl noch ertragen würde? Unmöglich einzuschätzen. Vielleicht fügte sich ja das Glück und dem Bock schmeckte das Salz bald nicht mehr. Irgendwann musste das Tier doch genug haben. Alle Kräfte zusammennehmend sagte sie stolz: »Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Dann musst du weiter leiden.« Der Mann verzog spöttisch die Mundwinkel. »Wir gehen inzwischen nach nebenan, Squadra Azzurra. Du weißt schon, Männersache. Und wenn es dir wieder einfällt, das mit der Zeichnung, und du genug Vergnügen hattest, rufst du einfach. Wir kommen dann und erlösen dich.« Fast zärtlich strich er über die vom Schweiß klebrigen Haare der Frau, ließ seine Finger mit sanftem Druck über deren Rücken gleiten, an dem der durchnässte Stoff der Bluse wie eine zweite Haut pappte. »Wir sind doch keine Unmenschen.« Mit einer ruckartigen Kopfbewegung versuchte die schweißnasse Frau, die Hand des Peinigers wie eine lästige Schmeißfliege abzuschütteln. Doch der Mann reagierte nur mit einem anzüglichen Grinsen. »Pepino wird dich weiter bedienen, solange du möchtest. Ich beneide dich, Chérie. Die größten Glücksmomente stehen dir noch bevor. Warte nur, bis allmählich die Haut vom vielen Lecken wund und durchgescheuert ist, dann wird es erst richtig scharf.« Aus den Worten des Mannes sprach blanker, sadistischer Hohn. Er nahm den Ziegenbock bei den Hörnern und zerrte ihn wieder zu den Füßen der Frau, band die Leine um ein Tischbein und verschwand mit seinem Helfer, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, im Zimmer nebenan.

»Fahrt zur Hölle, ihr Schweine«, brüllte die Frau den Kerlen aus vollem Halse hinterher – doch die tauben Ohren der Schergen blockten die Flüche ab, als seien sie winzige, sachte dahingleitende Federn. Unterdessen wurde das kitzlige Gefühl an den weiblichen Fußsohlen immer unerträglicher und Pepino machte keine Anstalten, von dem Salz abzulassen. Der Bock leckte gierig weiter, als habe er seit Ewigkeiten keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Lange würde die Frau das schier unerträgliche Gefühl nicht mehr aushalten. Sie schrie. Wilde, undefinierbare Laute, ein Gemisch aus Angst, Pein und Wollust verließen ihre Lippen. Dann betete die Philosophin zum Himmel: »Oh mio Dio, lieber Gott, bitte lass mich ohnmächtig werden.« Sie verspürte einen fürchterlichen Durst, denn die stickige Luft lag wie Blei in der Lunge. Und sie fürchtete, den Verstand zu verlieren, vollkommen irrezuwerden, überwältigt von einer Reizfülle, die Körper und Verstand nicht mehr verarbeiten konnten. Bedeutete jeder einzelne stimulierende Zauber für sich genommen das vollkommene, sinnliche Glücksgefühl, so beinhalteten alle zusammen am Ende nur das Schlimmste: den tödlichen Krampf, den Atemstillstand. Aber sie wollte sich nicht totlachen. – Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Rosenwolke und die Formel der Welt

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