Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 15

9.

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Das große Liebesfest konnte beginnen. Die altehrwürdige Dorfkirche zeigte sich so üppig geschmückt, wie noch nie zuvor. Die Holzbänke zierten Rosensträußchen aus zartem Rosa, umspielt von frühlingshaft duftendem Schleierkraut mit kleinen weißen Blüten, wie Schneeflocken vom Himmel gefallen. Wunderschöne Lilien mit pfeilförmigen, von Amor erschaffenen Blättern, standen majestätisch um das Allerheiligste. Verwandte, Freunde, die ganze große Festgemeinde füllten das in eine Kathedrale der Liebe verwandelte Gotteshaus bis zum letzten Platz. Ganz vorne und etwas unbequem auf einem eigens bereitgestellten, kleineren Bänkchen saß das junge Paar.

Die Braut, wie eine wahre Prinzessin, in einem atemberaubenden, schulterfreien, schneeweißen Kleid mit schmalem Schnitt, der die Harmonie südländischer Kurven perfekt in Szene setzte und einer zauberhaften Sünde gleichend über das bodenlange Rockteil harmonisch in eine zart fließende Schleppe mündete. Daneben die jugendliche Silhouette des künftigen Gemahls, umschmeichelt von der schlanken Eleganz des schwarzen, dezent glänzenden Hochzeitsanzugs, am Revers seidenbesetzt und formschön abgerundet mit silbergrauer Weste. Ein elegant gebundener Plastron beeindruckte mit einer zu ihm passenden Pochette, kunstvoll gefaltet und aus feinstem Satin. Beide gestalteten sich Ton in Ton mit dem weichen Rosa der königlichen Rosen, die den Brautstrauß der Princesa zierten. Hinter dem Paar wartete die erwartungsfroh versammelte Festgesellschaft, das tief ausgeschnittene und mit transparenter, hauchzarter Spitze besetzte Rückenteil der Braut im Blick.

Die junge Prinzessin schaute unruhig auf den barocken, mit vier großen Holzmarmorsäulen eingefassten Hochaltar am Ende des Kirchenschiffes, so als suche sie etwas in der Ferne. Aber ihre dunkelbraunen Augen fanden nur zwei vergoldete Engelsfiguren, streiften kurz die am Rande stehenden mittelalterlichen Statuen zweier Apostel, um dann auf den vergoldeten Schnitzereien des alten Hochaltarbildes zu verweilen. Unmerklich für alle anderen erschrak das Herz der jungen Frau, als es über der Kreuzigung Christi die eingekerbte Inschrift las: Es ist vollbracht. Und genau in diesem Moment begannen die drei Stahlglocken des erst jüngst mühevoll restaurierten Glockenstuhls, in mystischen Tönen ungeduldig und einfordernd zu läuten.

»Wo er nur bleibt?«, flüsterte die Braut ihrem Liebsten mit sanftem Hauch ins Ohr.

»Er wird schon kommen, mach dir keine Sorgen.« Für den Augenblick beschäftigte den Bräutigam nur das aufregende Korsagenoberteil der geliebten Princesa, dessen Spitzeneinsatz tiefe Einblicke in von Gott geschenkte Weiblichkeit gewährte und erotische Fantasien beflügelte. Obschon der Bräutigam wusste, dass sich solch unkeusche und sündhafte Gedanken in einem Gotteshaus nicht ziemten, so besaß er dennoch nicht die Willenskraft, die verlockenden Bilder in seinem Kopf wie Seifenblasen zerplatzen zu lassen. Und erst recht konnte ihn das durch steinernes Mauerwerk kühl gehaltene Kircheninnere nicht davon abhalten, die wohlige Wärme der Bilder in vollen Zügen zu genießen: Weiche Lippen hauchten erste zärtliche Küsse, ganz sachte berührte die Zungenspitze gefühlvoll deren Hals, fuhr Schlangenlinien, sanft wie eine Feder, auf und ab. Sein dürstender Mund knabberte an samtiger Haut und erforschte ein wunderschönes Dekolleté. Sie war bereit. Sie spürte seinen süßen Atem. Die Flammen züngelten. Brandbeschleunigern gleich drangen seine Küsse begierig zum Ziel der lustvollen Leidenschaft und umkreisten tiefbraune Vorhöfe mit hauchzarter Regung. Ganz langsam begann die Princesa, sich wonnig zu winden. Mehr und mehr begehrte sie die sinnlichen Lippen des Gemahls, die den aufblühenden Knospen ihrer Lust ein wohliges Nest boten. Sie brannte lichterloh, Wollust durchströmte den aufgewühlten Leib als des Liebsten Zunge keck die goldene Mitte streichelte – nur noch wenig entfernt vom Eldorado der Weiblichkeit. Jetzt würde der angetraute Mann sie zum Gipfel der Leidenschaft treiben, jetzt die Krönung ihres zügellosen Verlangens vollenden …

Doch jäh rissen schlimme Wehrufe den Bräutigam aus seinen verführerischen Träumen: »Tot, tot, er ist tot! Barmherziger hilf uns. Der Teufel hat ihn geholt! Tot, tot!« Schrill und hysterisch schallten die apokalyptischen Schreie der aus einem Nebenraum herausstürzenden Pfarrhelferin durch das kleine, friedliche Rund der Dorfkirche.

Wo sich eben noch der Widerhall von vielen flüsternden Stimmen anhäufte, wo auf der rückseitigen, durch zwei eichene Säulen gestützten Empore ein musikalisch wenig begnadeter Organist sakrale Melodien aus den sechs Registern einer bereits betagten Orgel herausquälte, herrschte mit einem Mal Totenstille, alle freudigen Erwartungen von Harmonie und Glückseligkeit jäh beendend. Und doch: kein Mitleid. Nein, mit wem auch? Wusste doch keiner, um was es ging. Nur Enttäuschung über die gestohlene Feier und das entgangene Fest. Und mittendrin ein völlig verstörtes Brautpaar, regungslos und unfähig Worte zu finden. Die Princesa ein Meer von Tränen vergießend, das sich unaufhaltsam einen Weg über die jetzt verwaschene Schminke des versteinerten Gesichts zu bahnen suchte. Der Mann aufs Brutalste zurückgeholt aus den sehnsüchtigen Träumereien und Köstlichkeiten einer wunderbaren Hochzeitsnacht in die harte Realität des Irdischen.

»Mein Name ist …« Die Worte des äußerst gut gekleideten Mannes aus einer der vorderen Bankreihen gingen im allgemeinen Tumult unter. Beherzt trat er nach vorne. Mit seinem mediterranen, noch keine fünfzig Jahre alten Charme und den schwarzen, mit ein wenig Gel nach hinten gekämmten Haaren, konnte der attraktive Mann den Südländer nicht verleugnen. Die rechte Hand wie ein nicht zu übersehendes Stoppschild nach oben gehalten, versuchte er die zur unberechenbaren Meute gewordene Hochzeitsgesellschaft zu beruhigen. »Ich bin Comisario de la Policía und der Onkel der Braut. Bitte bleiben Sie alle auf ihren Plätzen, bitte bleiben Sie ruhig. Ich werde alles klären.«

Er kannte solche Situationen. Als Comisario erlebte er tagein tagaus weitaus Schlimmeres, wenn das Verbrechen wieder erbarmungslos zuschlug: In Hinterhöfen exekutierte Drogendealer verfeindeter Clans, aber auch feige Morde im Verborgenen, in der dunklen Welt der Hochfinanz oder ganz einfache Erpressungen, die auch schon einmal mit dem brutalen Tod eines uneinsichtigen Wirtes enden konnten. Zurück blieben immer blutige Tatorte sowie Wut und Trauer, hemmungslos weinende Angehörige und die ungläubigen, glutvollen Augen kleiner Kinder.

»Ich möchte Ihnen helfen. Bitte sagen Sie mir, was passiert ist. Wo ist der Tote?« Mit leichtem Akzent sprach der Comisario in ruhigem Ton auf die vor Angst wie Espenlaub zitternde Frau ein. Deutlich älter als er, fiel es dem Comisario leicht, sie behutsam in den Arm zu nehmen. »Bitte sagen Sie mir, was Sie gesehen haben«, bat er die Frau. Sanft strich er über ihre braunen Haare, die im Nacken zu einem schlichten aber stilvollen Chignon, dem klassischsten aller Knoten, gebundenen waren.

»Ich habe im Pfarrhaus nach ihm gesehen. Wir warten doch alle auf ihn. Er ist nie unpünktlich. Er ist ein guter Mensch, aber die Teufelin ist sein Verderben. Ich habe es gewusst«, sprudelte es aus der Frau heraus, während der Comisario ihre Hand hielt. »Er liegt tot im Bett. Der Teufel hat ihn geholt.«

Der Comisario wusste genug. Er griff in die rechte Jackentasche und zog sein Mobiltelefon heraus. Er zögerte. Fünf bis zehn Minuten, nicht mehr, das musste reichen, um sich rasch ein Bild zu machen. Erst dann würde er den Polizeinotruf wählen. Die örtlichen Kollegen kämen sicherlich in Windeseile vor Ort, würden alles absperren und keinem Unbefugten mehr Zutritt gewähren. Auch nicht einem Comisario. Aber schon von Berufswegen zwickte ihn die Neugierde. Und die besonderen Umstände der zerstörten Hochzeitsidylle sowie sein über die vielen Jahre entwickelter Instinkt sagten ihm auch, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Er würde vorsichtig sein.

»Kümmern Sie sich um die Frau«, bat er höflich aber bestimmt einen neben ihm stehenden, gaffenden Hochzeitsgast. Während er dann zum Kirchenausgang lief, rief er seinem durch die Menge drängenden jüngeren Bruder eilig winkend zu: »Komm mit, wir gehen rüber ins Pfarrhaus. Unsere Nichte kommt schon alleine zurecht, sie wird es verkraften. Die Hochzeit holen wir nach.« Noch einmal winkte er ungeduldig. »Komm jetzt.« Und breitbeinig vor den beiden schmiedeeisernen Türen des Kirchenportals stehend befahl er den Gästen mit fester Stimme: »Ihr bleibt alle hier, ist das klar? Seht nach dem Hochzeitspaar.« Sein Tonfall klang unmissverständlich. Er duldete keinen Widerspruch. Die Hochzeitsgesellschaft kannte ihn.

Über einen kleinen Kiesweg, gesäumt von sorgsam gepflegten Blumenbeeten, gelangten der Comisario und sein Bruder mit nur wenigen Schritten zum Pfarrhaus. Die hellblauen Klappläden, jeweils links und rechts um die neu gestrichenen weißen Sprossenfenster, strahlten eine warme, romantische Freundlichkeit aus. Nichts deutete auf ein Verbrechen hin. Die hölzerne Eingangstür mit dem schon ein wenig patinierten Türklopfer stand offen.

»Rühr nichts an«, raunte der Comisario seinem Bruder zu. »Wir wollen keine Spuren verwischen.« Eiligst hasteten sie durch die unteren Räume: Küche, Arbeitszimmer, das Wohnzimmer mit dem offenen Steinkamin. Dieser war kalt, für die Sommermonate nicht ungewöhnlich. Dann hetzten die beiden Männer die alte Spindeltreppe aus dunklem Eichenholz hinauf, ohne einen Blick auf das wunderschön gedrechselte Geländer zu werfen. Sie kamen in die obere Diele, die den Weg zu vier weiteren Räumen wies. Drei Türen zeigten sich verschlossen, eine stand halb offen. Sofort nahm der Comisario den leicht säuerlichen Geruch wahr. Er kannte den Duft von noch nicht geernteten Mandeln aus den Plantagen im Süden seiner Heimat, wo entbittertes, giftfreies Mandelöl zur Aromatisierung von Likören und Süßwaren hergestellt wurde. Aber noch etwas verwunderte ihn: der aufreizende Duft, der neben dem Mandelgeruch noch in der Luft flirrte. Wie ein ungeduldiger Jagdhund nahm seine feine Nase Witterung auf: Jasmin, schwer und betörend. Ungewöhnlich für einen Priester, fuhr es dem Comisario durch den Kopf. Und im selben Moment sah er die nur notdürftig mit einem Laken bedeckte Männergestalt auf der Schlafstatt liegen.

»Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber der ist mausetot«, entfuhr es dem Bruder. »Keine Anzeichen von Gewaltanwendung. Herzinfarkt oder so, komm lass uns gehen.« Er drehte sich um in Richtung Tür.

»Quatsch, du Hasenfuß. So wie der da liegt … ich weiß nicht.« Der Comisario trat näher ans Bett. »Sieht aus, als hätte er Atemnot gehabt.«

»Sag ich doch, Herzinfarkt.«

»Aber warum liegt er wie ein Maikäfer auf dem Rücken?«, fragte sich der Comisario laut. Er hob das verknitterte Laken mit spitzen Fingern an. »Ach du Scheiße, der ist ja vollkommen nackt«, entfuhr es ihm.

»Hat die Frau nicht was von einer Teufelin gequatscht? Vielleicht hat er sich zu Tode gevögelt.« Sein Bruder konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

»Ich glaube eher umgekehrt«, warf der Comisario ein.

»Wie meinst du?«, fragte der Bruder völlig verdutzt.

»Ich meine …«, fuhr der Comisario fort, »… womöglich hat sie ihn zu Tode gevögelt.«

»Wie kommst du denn darauf? Also doch Herzinfarkt?«

»Hör endlich auf damit.« Der Comisario wurde allmählich ungehalten. Noch einmal hob er das zerwühlte Betttuch vorsichtig hoch. »Schau, sein welkes Prachtstück: hellrote Schleimhautblutungen. Und dann der Bittermandelgeruch. Ich kenne das. Er wurde vergiftet. Zyankali.«

»Ich rieche nichts.«

»Kein Wunder, die meisten Menschen sind überhaupt nicht in der Lage, die tödliche Gefährlichkeit des Gifts wahrzunehmen. Du gehörst offensichtlich dazu, Bruderherz.«

»Und wie, bitte schön, soll das gegangen sein?« Der jüngere schaute ungläubig. »Du meinst, die Teufelin hat ihm so einfach den Schniedel vergiftet und deshalb ist er jetzt tot?« Er grinste.

»Ja, höchstwahrscheinlich hat die Schleimhaut das Gift aufgesaugt. Oder besser gesagt, sie muss es ihm einmassiert haben, in sehr konzentrierter Form.«

»Und du glaubst, der hat das freiwillig mit sich machen lassen, ohne Zeter und Mordio zu schreien? Ich sehe außer dem zerwühlten Laken keine Spuren eines Kampfes. Die beiden haben ordentlich Spaß gehabt.« Erneut konnte sich der Jüngere ein Grinsen nicht verkneifen. Allmählich amüsierte ihn der Vorfall. Herzversagen beim sündigen Liebesspiel. Konnte es einen schöneren Tod geben?

»Mensch Bruder, liest du keine Boulevardpresse? Mit zwei, drei geschickt angewendeten Tropfen können impotente Männer ihre Frauen zum Höhepunkt stimulieren. Das Problem ist nur … zu viel davon führt garantiert zu einem höchst orgastischen Tod, wie hier wohl geschehen.« Der Ältere sah die Fragezeichen auf der in Falten gelegten Stirn des Bruders. »Komm, lass uns gehen, ich rufe die Polizei. Wir müssen weg sein, bevor die Kollegen hier eintreffen und uns dumme Fragen stellen.«

Als die beiden Männer das Haus des Todes hastig verließen, wurde ihnen mit einem Mal flau im Magen. Erst jetzt realisierten sie das Ungeheuerliche, das Unglaubliche. Wie wahr klangen die Worte der Pfarrhelferin: Der Teufel hatte die arme Seele des Priesters geholt – verführt und ins Verderben gezogen von einer lasterhaften Sünderin. Aber wieso wusste die unbescholtene Frau davon?

Rosenwolke und die Formel der Welt

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