Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 20
13.
ОглавлениеDer alte Mann bäumte sich auf. Seine Gier war grenzenlos. Wie im Rausch empfand er keine Schmerzen mehr. Sein scharfsinniger Geist übernahm die vollkommene Herrschaft über einen todgeweihten, gebrechlichen Körper. »Ich will Antworten, jetzt. Meine Zeit läuft ab«, erwiderte er dem Medicus auf dessen Frage. »Die Sanduhr der Erdentage lässt mir nur noch wenige Körner, auch wenn das Leben höchst ungern aus dem Körper scheidet.«
»Glaubt Ihr, der Mensch habe eine Seele?«, fragte der Medicus unvermittelt. Schon während des Studiums des Kirchenrechts, das er mit dem akademischen Grad eines Doctor iuris canonici abschloss, beschäftigte ihn diese Materie mit großer wissenschaftlicher Leidenschaft. Zweifel am christlichen Glauben und der Geborgenheit in Gott kannte er jedoch nicht.
»Ich habe viele menschliche Leichen auseinandergenommen, gevierteilt und gehäutet. Habe alles Fleisch weggenommen, Bauchdecken aufgeschnitten, Organe, Arterien und Venen an Arm, Brust und Bein zerlegt. Dann das Herz herausgenommen, den Schädel geöffnet sowie ins Gehäuse von Verstand und allen Sinnen geblickt. Aber ich habe keine Seele gefunden, keinen Beweis für das Göttliche.« Kalt und nüchtern klang die Antwort des alten Mannes, der im gleichen Atemzug noch ein wenig spöttisch hinzufügte: »Zu bestimmen, was die Seele ist, überlasse ich den Ordensmönchen und deren göttlicher Inspiration, mit der sie glauben, alle Geheimnisse der Natur erfassen zu können.«
»Aber mein Herr«, erwiderte der Medicus, »mag es nicht Dinge geben, die heute für uns unerklärlich sind? Kann nicht das, was unvorstellbar ist, trotzdem vorstellbar sein? Und kann das, was vorstellbar ist, nicht auch ohne Beweis wahr sein?«
»Wie meint Ihr das?« Die Stimme des Greises wurde unwirsch. »Keine Forschung darf sich wahre Wissenschaft nennen, wenn sie nicht von mathematischer Beweisführung durchdrungen ist«, formulierte er die Leitlinie, die ihn ein Leben lang begleitet hatte. Unermüdlich der Drang, alles Sein in den strengen Regeln einer nach Vollkommenheit strebenden, allmächtigen Geometrie zu erklären. »Ich denke«, fuhr der alte Mann unruhig fort, »alles Natürliche unterliegt den ewigen, unsterblichen Regeln der göttlichen Proportionen, die eine unerschöpfliche, unendliche Vielfalt der Formen hervorrufen kann, auch wenn die Menge der Materie in unserer Welt unveränderlich bleibt. Gott ist vollkommen, auch in seiner Vielfalt.« Noch bevor er den letzten Satz zu Ende sprach, richtete er sich erneut ein wenig auf und zeigte mit der linken Hand zu dem aus dunklem Holz gefertigten Tisch, der dem Medicus schon beim Betreten des Schlafgemachs aufgefallen war. Er holte kurz Luft und sprach dann: »Seht sie Euch nur an, meine Zeichnung Homo ad quadratum et circulum, die Darstellung vom Menschen im Quadrat und Kreis.« Wiederum sank das Haupt des Alten erschöpft in die großen, gesteppten Leinenkissen.
Der Medicus stand auf und ging zu dem Tisch. Vorsichtig durchstöberten Augen und Hände mit erwartungsvoller Anspannung die Werke des greisen Manns: Da lagen kleine, handtellergroße Notizbücher, in braunes Leder gebundene Kladden und Unmengen von losen Papieren in allen nur möglichen Größen – und ein jedes Blatt eng mit Silberstift beschrieben sowie illustriert mit einer Vielzahl von Zeichnungen, oft auch nur skizzenhaft. Hier und da wechselte die Farbe der ursprünglich grauen Striche schon ins Braune, darauf hindeutend, dass die Entstehung des Skriptes schon einige Zeit zurücklag. Was der Medicus auch aufnahm, der Verstand konnte es nicht fassen: unzählige Arbeiten über den menschlichen Körper, wie er ihn selbst anatomisch noch nie sah, Zeichnungen zur Militärtechnik mit überdimensionalen Apparaturen, Kettenantrieben und Hebevorrichtungen, Entwürfe zu einer zweistöckigen Stadt, Studienblätter mit geometrischen Formen und immer wieder Skizzen vom menschlichen Antlitz, mal bezaubernd schön, mal grotesk und Furcht einflößend. Die Augen des Medicus konnten sich nicht losreißen. Er wollte fragen, aber sein Mund blieb still. Es schien ihm, als befände er sich in einer anderen Welt.
»Habt Ihr sie gefunden?« Jäh holten die ungeduldigen Worte des Alten den staunenden Besucher in die Realität zurück.
Hastig stöbernd versuchten die Hände des Medicus, alles zu durchsuchen, doch die sich vor ihm ausbreitende, unglaubliche Vielfalt lenkte immer wieder ab. So dauerte es eine Weile, bis er die Zeichnung, auf die der Alte so unbedingt hinwirkte, endlich fand. Er hielt kurz inne. Ehrfurcht und ungläubiges Staunen beschlich ihn. Das Bild zeigte die Konturen eines kreuzartig stehenden, nackten Mannes mittleren Alters, dessen volles, leicht gekräuseltes Haar bis auf die Schultern fiel. Doch damit nicht genug: Breitbeinig, die Arme seitlich nach oben gestreckt, überlagerte in vollkommener Natürlichkeit eine zweite Stellung die Grundhaltung des formvollendeten Körpers. Vollends verblüffte den Medicus aber die perfekte Einbindung der männlichen Proportionen in die geometrischen Formen von Kreis und Quadrat. Die erschaffene, einzigartige Harmonie von Mensch und Geometrie beeindruckte ihn tief. Die Schönheit der Abbildung machte ihn nahezu fassungslos. Seine Augen, sein Verstand konnten nicht ablassen und wollten tiefer in die Geheimnisse der Zeichnung eindringen. Doch er musste sich losreißen. Sprachlos und voller Bewunderung setzte er sich wieder an das Bett des alten Mannes.
Als der Greis die große Verblüffung des Gastes bemerkte, begann er leise zu erklären: »Der Mensch ist das Modell der Welt. Die vollendete Kunst der Geometrie zeigt dem vergänglichen Menschen die göttlichen und unendlichen Proportionen auf. Ich hatte in jungen Jahren einen guten Lehrer in den Künsten der Mathematik, der mir danach auch ein lieber Freund wurde. Leider ist er vor zwei Jahren gestorben.« Ein flüchtiger Augenblick tief empfundener Trauer huschte über das vom Leben gezeichnete Gesicht des Alten und kurze Zeit herrschte nichts als Stille, Totenstille. Dann keuchte er mit zittriger Stimme und einem Hauch von Wehmut: »Wir hätten sie finden können, aber Gott lässt mir keine Zeit mehr.«
»Nach was sucht Ihr?« Der Medicus, wieder einigermaßen gefasst, konnte seine übergroße Neugierde kaum verbergen. Zum ersten Mal spürte er die geheimnisvollen Kräfte, die von dem schwachen alten Mann ausgingen. Ein magischer Zauber lag in der Luft – beinahe glaubte er, ihn körperlich zu fühlen.
Der Greis ruhte für einen Moment mit geschlossenen Augen, sein Atem ging schwer. Unwillkürlich drehte der Medicus sich um, aber er war noch nicht da. Er wusste, dass er ihn nicht sehen würde, nur eine unheimliche Ahnung hatte ihn beschlichen. Doch er täuschte sich: Gevatter Tod zögerte, ließ dem Greis noch die Zeit, um zu äußern, was ihn seit Jahren umtrieb: »Ich bin überzeugt, dass es sie gibt, die Gesetzmäßigkeit des Universums, den verborgenen göttlichen Plan, das allumfassende Geheimnis, das unsere Welt, die Kunst, die Natur und die Wissenschaft zusammenhält. Die Verbindung von Gegenwart und Zukunft, von Leben und Tod. Die Formel, die alles erklärt, den Anfang, das Ende und den Mittelpunkt des Seins. Aber ich kann es nicht beweisen und die fehlenden Antworten quälen meinen dürstenden Geist. Ich habe so vieles erforscht und dennoch nichts gefunden. Ich habe kläglich versagt.«
Zum ersten Mal glaubte der Medicus, eine gewisse Müdigkeit in den Augen des Greises zu erkennen. Und in diesem Moment spürte er: Das Feuer des Magiers drohte zu erlöschen, wenn es jetzt nicht gelänge, die Glut der Wissbegierde aufzuheizen, solange bis die Flammen der Erkenntnis wieder loderten. Aber womit? Der Medicus überlegte einen Moment, dann entschied er sich, den alten Mann ohne jegliche Vorwarnung mit der Frage zu konfrontieren, die ihn selbst so sehr beschäftigte: »Könnt Ihr Euch vorstellen, dass die Erde sich bewegt?«
Mit einfachen, klaren Worten zweifelte der Medicus die herrschende Lehre von der universalen Komplexität des Seins an – so als sei alles Bisherige nur ein welkes Blatt, zu Boden geweht vom Sturm des Wissens. Nur die engsten gelehrten Freunde wussten bisher um seine bahnbrechenden Ideen. Denn es fehlten ihm vor allem die mathematischen Beweise zu den umfangreichen Beobachtungen und Berechnungen, die den Bewegungen der Gestirne in den Weiten des Universums galten. Lange schon schwieg er, wollte nicht als unheiliger Narr des Abwegigen gelten. Und doch rechnete er weiter, beobachtete und grübelte, um die neuen Erkenntnisse, sein neues Weltbild gegen alle Zweifelsfragen der alten Philosophen und Gelehrten zu verankern. Er würde das herrschende Fundament zerschlagen – und unausweichlich würde alles darüber Errichtete zu Staub zerfallen.
Die Frage traf den ans Bett gefesselten Greis mit unerwarteter Vehemenz. Als er antwortete, schien ein lichterlohes Flammenmeer in den nun wieder hellwachen Augen zu brennen: »Nein, um Himmels willen, seid Ihr verrückt? Wollt Ihr, dass alles durcheinanderfliegt? Es wäre das Ende jeder göttlichen Ordnung. Die gesamte Welt käme ins Wanken.« Nur mühsam konnte er die Beherrschung wahren, wollte weiter reden, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Er atmete schwer. Wenn auch der Körper mit der Gebrechlichkeit des hohen Alters kämpfte, so arbeitete der nüchterne Verstand doch messerscharf. Es ließe sich beweisen, dachte der Greis, ganz einfach: »Warum sollte sie sich bewegen, ich spüre nichts von der Bewegung.« Und mit der linken Hand zu einer reich beschnitzten Truhe aus geflammtem Eschenholz zeigend, fuhr er fort: »Nehmt den Wasserkrug dort, haltet ihn in die Höhe und lasst ihn fallen.«
Ungläubig schaute der Medicus den Greis an.
Doch der Alte wurde ungeduldig. »Nur zu. Nehmt ihn und lasst ihn fallen.« Daraufhin erhob sich der Medicus und ging zu der mit schweren Beschlägen versehenen Truhe, auf der ein reich verzierter, hellblau lasierter Wasserkrug stand. Er nahm ihn, überzeugte sich, dass er leer war, und ließ ihn vor den Augen des Greises auf den rotbraunen Fußboden fallen.
»Seht Ihr, sie bewegt sich nicht«, triumphierte der Alte.
»Ich sehe nur einen Haufen Scherben vor meinen Füßen«, antwortete der Medicus ruhig.
»Und genau dies ist der Beweis«, wetterte der alte Mann. »Denn würde sich die Erde bewegen, so fielen die Scherben schräg nach unten und viel weiter von Euch weg – als stieße ich Euch gleichzeitig zur Seite.« Aber der Medicus ließ sich nicht entmutigen. Kraftvoll erwiderte er auf die scheinbar richtige Beweisführung des Alten: »Ihr glaubt nur, was Ihr seht und berechnen könnt. Was Euer Geist jedoch nicht erkennt und was sich nicht durch ein Beispiel aus der Natur beweisen lässt, existiert für Euch nicht. Deshalb habt Ihr auch die Formel nicht gefunden.« Der Medicus hielt einen Moment inne, dann sprach er weiter: »Ich glaube auch an Dinge, die ich nicht sehe, aber vielleicht einmal berechnen kann, oder auch nicht. Und so bildet für mich nicht die Erde, sondern die Sonne den Mittelpunkt des Universums. Und die Sonne lenkt, gleich einer auf dem Thron sitzenden Königin, das Orbium Coelestium, die himmlischen Kreise der Sternenfamilie.«
»Nun ja«, erwiderte der Alte unwirsch. »Ich stimme zu, dass die Sonne eine besondere Stellung im Universum einnimmt, dass sie alle Himmelskörper erhellt, auch den Mond, der kein eigenes Licht besitzt, und dass es im Universum keine andere Wärme gibt, als die, die von der Sonne kommt. Die Sonne ist somit sicherlich einzigartig – aber deshalb muss sich die Erde noch lange nicht bewegen.«
»Seht Ihr«, die Stimme des Medicus schlug in helle Begeisterung um, »das genau meine ich: Die Erde ist auch ein Stern, ganz wie der Mond, und beide sind an durchsichtigen, kristallenen Sphärenschalen befestigt, an denen alle Planeten die Sonne umlaufen.« Er versuchte, mit kreisenden Armbewegungen sein Weltmodell zu illustrieren, während sein kinnlanges, lockig gewelltes und volles braunes Haar umherwirbelte: »Die erste und oberste von allen Sphären ist die der Fixsterne. Es folgt der Wanderstern Saturn, der in dreißig Jahren seinen kreisförmigen Lauf um die Sonne vollendet, dann Jupiter mit einer zwölfjährigen Umlaufbewegung. Darauf Mars, der seine Bahn in zwei Jahren abschließt. Die vierte Stelle in der Reihe nimmt die jährliche Kreisbahn unsere Erde mit dem Mondumlauf ein. An fünfter Stelle kehrt Venus im neunten Monat wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Und den sechsten Platz schließlich hält Merkur, der im Zeitraum von achtzig Tagen um die Sonne kreist.«
»Eure Sinne täuschen Euch.« Der alte Mann wurde energisch. Die Stimme zitterte vor Aufregung, er begann zu husten. Noch fühlte er genug Kraft in sich, um die Klinge der Wissenschaft zu kreuzen. Hatte er nicht selbst immer wieder die Welt infrage gestellt? War es nicht sein wissbegieriger Geist, sein ungestillter Forscherdrang gewesen, der immerfort neue Wunder beim Studium der Natur entdeckte? Angespannt lauschte er dem Neuen, einen ersten zarten Hauch der Zukunft spürend.
»Ich habe mehrmals beobachtet, dass die Wandersterne, wie Saturn, Jupiter und Mars, aber auch Venus sowie Merkur, einmal erdnaher und dann auch wieder erdferner sichtbar sind«, fuhr der Medicus ruhig fort. »Diese ungleichförmigen Bewegungen und die dabei zu beobachtenden wechselnden Abstände von der Erde, drängen notwendigerweise zu der Annahme, dass der Erdmittelpunkt nicht der Mittelpunkt dieser Kreisbahnen sein kann.« Die stolz vorgetragenen Worte des Medicus, dessen selbstsichere Anspannung, das Funkeln in seinen Augen, ließen auch den Greis erahnen, welch unbändiger Fleiß und unglaubliche geistige Lust hinter dieser neuen Lehre standen. Urplötzlich wurde ihm im tiefsten Inneren bewusst, dass alles Frühere für immer hinweggefegt war. Nie mehr würde es so sein wie vorher. Für einen Moment hielt er den Atem an, fast so, als stünde die Erde still.
Nach einer kurzen Weile geheimnisvollen Schweigens nahm der Medicus wieder das Wort auf: »Nichts ist wunderbarer als der Himmel, der alles Schöne in sich trägt und uns den erhabenen Gott sichtbar macht. Demgegenüber vergeht alle Schönheit des Körpers. Aber gerade in der Vergänglichkeit liegt die Ewigkeit des Seins, des unendlichen Universums Gottes, in dessen Hand alles Glück und alles Gute liegt.«
«Wohl wahr, Medicus«, antwortete ihm der Greis. »Vielleicht habt Ihr ja mit Euren Gedanken über den Lauf der Erde recht. Aber in einem Punkt irrt Ihr: Schönheit vergeht nie. Die Malerei kann sie festhalten, in Ewigkeit.« Er wies mit seinem von Krankheit gezeichneten, hakenförmigen Zeigefinger auf ein rückwärtig an die Wand gelehntes Gemälde. Es stand direkt unterhalb eines handgestickten Wandteppichs, der eine biblische Szene aus dem alten Testament zeigte. Der Alte holte tief Luft und sagte dann vieldeutig: »Dort steht ein Bildnis für die Ewigkeit, es trägt das Geheimnis des Lebens in sich.«
Gespannt hörte der Medicus zu. Hatte ihn der Alte mit seiner geometrischen Zeichnung von der göttlichen Harmonie des Menschen nicht schon einmal in ungläubiges Erstaunen versetzt? Erwartungsvoll erhob er sich und ging mit raschem Schritt um das Bett herum zur rechten Wandseite des Schlafraums. Er nahm das unscheinbar angelehnte Bild, drehte es vorsichtig um und hielt das auf ein dünnes Pappelholzbrett gefertigte Ölgemälde mit ausgestreckten Armen vom Körper weg. Was er sah, entlockte ihm einen kurzen Ausruf höchster Bewunderung: »Allmächtiger Gott.« Seine Blicke fielen auf die erhabene Erscheinung einer jugendlichen Frau, deren liebliches, rätselhaftes Lächeln um die leicht spöttischen Lippen ihn aufs Höchste entzückte. Nie zuvor sah er ein Kunstwerk von solch vollendeter Schönheit. Nie zuvor sah er einen derart unwirklichen, ja fremdartig wirkenden, fast schon düster anmutenden Hintergrund – brach doch die mystische und urzeitlich anmutende Landschaft mit allen künstlerischen Traditionen von Harmonie und Symmetrie. Offensichtlich, so mutmaßte der Medicus, bestand bei diesem Bild kein realer Bezug mehr zum Leben der Porträtierten. Dafür wohnte dem Gemälde aber ein Zauber inne, dessen Anziehung auf geheimnisvollen, magisch leuchtenden Kräften zu beruhen schien. Und wenn ihm der Verstand auch etwas anderes sagte, so empfand er doch das Gefühl, etwas Überirdisches zu sehen. Geschaffen eher von himmlischer als von menschlicher Hand.
»Wer ist die junge Frau?«, fragte er aufgeregt, als sich sein Blick für einen kurzen Moment von dem geheimnisvollen Kunstwerk abwendete, wenngleich er es nach wie vor fest in Händen hielt.
»Niemand«, antwortete der Greis ruhig. »Ich habe sie geschaffen, vor vielen Jahren. Seither ist sie immer in meiner Nähe, auch bei meinen Reisen. Wieder und wieder habe ich an ihr gearbeitet. Nun ist sie vollkommen. Sie wird ewig leben, niemals sterben. Generationen nach uns werden noch über ihr geheimnisvolles Lächeln sprechen, als sei sie eine lebendige Frau und nicht ein auf die Leinwand gemaltes Bildnis. Sie ist ein zeitloses, göttliches Wesen und wird den Menschen der Zukunft die Verbindung zur Vergangenheit und zum Geheimnis des Lebens gewähren.«
»Der Mensch als göttlicher Schöpfer?«, fragte der Medicus überwältigt.
»Ja, wie seit Tausenden von Jahren. Kunst ist schon immer die Darstellung des Göttlichen, des Mystischen«, antwortete der Greis voller Inbrunst.
»Und worin besteht nun das von Euch erwähnte Geheimnis des Lebens?« Die Stimme des Medicus klang schrill vor Aufregung. »Habt Ihr nicht gesagt, dass Euch die Formel noch fremd ist?«
Ein leichtes Lächeln huschte über das zerfurchte Gesicht des Alten. »Seht Ihr das Kleid der Frau? Das Mieder enthält eine verschlüsselte Botschaft.«
»Ich sehe keine«, antwortete der Medicus enttäuscht. Sprach der Greis vielleicht schon im Fieberwahn? Verlor sich dessen Verstand angesichts des nahenden Todes und überwältigt von der enormen geistigen Anstrengung bereits in den irrealen Abwegen einer überirdischen Umnachtung?
»Seht Ihr die zahllosen Fadenknötchen am oberen Saum des schwarzen Mieders?«, die ein wenig lauter werdende Stimme des Alten tönte jetzt äußerst ungeduldig.
»Ja, aber …«
»Ich liebe Geheimniskrämerei. Die komplizierten Stickstiche enthalten einen verschlüsselten Hinweis, gemeinsam mit einem Fingerzeig, versteckt in den unteren Farbschichten des Bildes und einigen Hinweisen, die sich noch in der Truhe befinden.« Ein verschmitztes Lächeln huschte über das Gesicht des Alten. Für einen kurzen Moment vergaß er den herannahenden Tod, fühlte sich wieder voller jugendlicher Schaffenskraft. Er hatte sein Geheimnis offenbart.
Der Medicus merkte sehr wohl die Anspannung des alten Mannes. Dessen blasse Gesichtsfarbe wich inzwischen einem fleckigen Rot, die Augenlider zuckten. Es schien, als wäre der Körper aus dem Gleichgewicht, als befände sich das gesamte Denken des greisen Magiers im glühenden Aufruhr. Knisternde Hochspannung lag in der Luft, jeder neu geäußerte Gedanke würde unweigerlich einen inbrünstigen Funken des Umsturzes heraufbeschwören und mit einem Mal alles Althergebrachte in einer riesigen Explosion verbrennen.
Mit großer Anstrengung presste der Greis das epochale Gebäude seiner Gedanken durch die schmalen, aufgeplatzten Lippen: »Es ist der Bauplan für die bewunderungswürdige Harmonie der Welt. Ich habe ihn dort beschrieben.« Er zeigte erneut zu der hölzernen Truhe, auf der eben noch der leere Wasserkrug stand, dessen experimentelle Scherben jetzt aber den mit geometrischen Mosaiken versehenen Keramikfußboden zierten. »Seht nach. Es zeigt Euch das Prinzip der göttlichen Ordnung, die Einheit zwischen belebter und unbelebter Welt und dass alles einzigartiger Bestandteil des Universums ist.«
Mit wenigen Schritten gelangte der Medicus zur Truhe. Sein Herz raste so sehr, dass er meinte, jeden einzelnen Schlag pochen zu hören. Mit einer Mischung aus angespannter Vorfreude und unbändiger Wissensgier öffnete er die schweren Eisenbeschläge, hob den Deckel der Truhe an und blickte ungläubig staunend in den unermesslichen Reichtum und die Vielgestaltigkeit eines überragenden Schöpfergeistes, eines Alter Deus, eines zweiten Gottes. Er ahnte, dass er das Tor in ein überirdisches Sein aufgestoßen hatte:
Studienblätter mit Katzen, Pferden und anderen Tieren, alle in unterschiedlichsten Bewegungen und gezeichnet mit Feder, Tinte und Tuschfarbe; sodann der heilige Georg im Drachenkampf und weiterhin seltsam anmutende Bilderrätsel mit Notenschrift sowie Zeichnungen von allerlei militärischem Gerät, Kampfwagen und Befestigungsanlagen. Und immer wieder fremdartig erscheinende, verblüffende Skizzen über die menschliche Anatomie, über Knochen, Muskeln, Organe und das ungeborene Leben in der nussschalenartigen Gebärmutter eines Weibes. Und wie überirdisch tauchte aus dem Dunkel einer Leinwand plötzlich die Gestalt eines jugendlichen Mannes mit braun gelockten Haaren auf, den lichtdurchfluteten Zeigefinger der rechten Hand kerzengrade nach oben zum göttlichen Schöpfer gerichtet. Wundervoll, wunderschön – wie auch die skizzenhafte Studie einer nackten, von einem schwarzen Schwan zärtlich bedrängten Frau, die der Medicus hiernach staunend betrachtete.
Und inmitten der Truhe fand er das Libri Caudati, das Beutelbuch. Der Medicus kannte diese Buchform nur zu gut, benutzte er sie zuweilen doch selbst, weil auf Reisen immer wieder praktisch. Denn die hölzernen Buchdeckel wurden von den Buchbindern so geschickt mit Leder überzogen, dass der Einband am unteren Rand um mehr als eine Länge überstand. Gut zusammengefasst ermöglichte dies dem Reisenden, das Manuskript wie einen Beutel zu tragen oder es einfach am Gürtel hängend zu lesen. Vorsichtig, fast ehrfurchtsvoll, nahm der Medicus das meisterlich gebundene Werk aus der Truhe. Der am unteren Schnitt des Buches überstehende, dunkelbraune Ledereinband zerteilte sich ganz am Ende in schmale Streifen, die kunstvoll zu einem dicken Knoten geflochten waren. Dieser steckte in einem Messingring, mit dessen Hilfe man das Beutelbuch am Gürtel befestigte und so ein Herausrutschen verhinderte. Begierig öffnete der Medicus den mit zwei Schließen aus Messing versehen Einband und betrachtete andächtig die mit Nadel und Faden zu einem Buchblock gehefteten Pergamentseiten, die eng mit einer Vielzahl von Zeichnungen und beschreibenden Texten versehen waren.
»Ich kann es nicht lesen.« Enttäuschung schwang in seiner Stimme, denn er sah nur eigenartig gekritzelte Buchstaben mit Bögen und Schleifen, einzelne Worte, ganze Sätze, mit Tusche geschrieben und verfasst in einer ihm fremden Sprache.
»Geheimschrift«, schnarrte der Alte und schnappte nach Luft. Die körperliche Anstrengung und die ungeheure Anspannung der Sinne forderte Tribut. »Ich habe es in Spiegelschrift geschrieben, von rechts nach links«, fuhr er fort, während für einen kurzen Augenblick ein spitzbübisches Grinsen über sein Gesicht huschte. »Damit es vor unerwünschten Lesern geschützt ist.« Die Augen funkelten, wie die hellsten Sterne am dunklen Firmament. »Euch aber will ich mein Geheimnis anvertrauen.« Ein Moment ehrfürchtiger Stille erfüllte den Raum, dann fuhr der Alte fort: »Die alles entscheidende Frage ist doch die, nach Ursprung und Struktur des Universums, oder?« Er schaute den Medicus herausfordernd an, während er ihm sein Seelenleben als Wissenschaftler offenbarte: »Was meint Ihr, gibt es einen zeitlichen Anfang und ein zeitliches Ende oder ist das Universum gar unendlich? Seht die Zeichnungen in dem Buch, alles ist miteinander verknüpft, wie eine unendliche Kette immer wiederkehrender, grundlegender Prinzipien der göttlichen Ordnung.«
Der Medicus blätterte in dem Buch und betrachtete die mannigfaltigen Zeichnungen sorgsam. Er sah komplexe geometrische Figuren, Vielecke in unterschiedlichster Form, dann Sechsecke in einem Kreis und dazwischen immer wieder einzelne Kreissegmente, Portionen genannt, vom Meister zusammengefasst zu blattähnlichen, zweiwinkligen, mit dunkler Farbe ausgefüllten Ornamenten. Er bemerkte, wie die vielfältigen Muster mehr und mehr wurden, bis endlich wunderschöne Rosetten entstanden. Staunend lauschte er den leisen Worten des greisen Mannes:
»Zeit und Raum sind verwoben, wie die Fäden einer Wolldecke.«
Ungläubig schaute der Medicus den Alten an. Redete der Greis irre? Musste er ihn vor sich selbst schützen? Waren sie schon zu weit gegangen auf dem Weg zu den Gipfeln menschlicher Erkenntnis? Er überlegte angestrengt, doch dann fühlte er, was zu tun sei: Ja, sie mussten umkehren, jetzt. Mit fester Stimme sagte er: »Mein Herr, Ihr solltet Euch schonen, bedenkt Euer Alter, bedenkt …«
»Papperlapapp. Glaubt Ihr, ich sei senil? Nehmt das Gemälde, das Ihr soeben noch in Händen hieltet. Schaut Euch die Stickstiche des Mieders an.«
Verblüfft blickte der Medicus den alten Mann an – unschlüssig, was zu tun sei. Aber dann sah er wieder dieses lichterlohe Feuer in den Augen des Alten, so als wolle es alles Unwissende um sich herum verschlingen. Nein, dachte der Medicus, er spricht nicht wirr – aus dem alten Mann offenbart sich die Weisheit des göttlichen Genius. Tief beeindruckt nahm er wieder das Bild der geheimnisvollen Fremden in die Hand. Seine Gedanken drohten im aufgewühlten Meer der Erkenntnis zu ertrinken. Dankbar ergriff er die von dem weisen Mann ausgesteckte, kraftvolle Hand der Worte, die ihn rettend zum sicheren Ufer zog und ihm Halt gab:
»Die Fäden sind der Kanon, die Richtschnur der festgesetzten göttlichen Ordnung. Es sind diese kleinen Fäden, unsichtbar für das menschliche Auge, die unsere Welt im Innersten zusammenhalten. Komplizierte Muster, scheinbar ohne jedes Gleichmaß und doch von vollkommener sphärischer Regelmäßigkeit. Alles im göttlichen Kosmos folgt den ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Natur.«
»Bedeutet dies nicht, dass wir Menschen nur Marionetten Gottes sind?«, warf der Medicus ein. »Aufgereiht wie Perlen an einer Schnur? Ohne eigenen Willen?« Unsicher, ja fast ein wenig ängstlich, forderte der Medicus die Antwort des greisen Mannes. Und er hoffte, diese sei nicht so, wie er befürchtete.
»Nein.« Das Wort der Erlösung drängte zum Ohr des Medicus. »Was wisst Ihr über Schnüre? Sind sie etwa starr?« Der Alte schaute den Medicus belustigt an, um im gleichen Atemzug fortzufahren: »Nein, sie schwingen und seien sie noch so klein. Sie schwingen mannigfach, unendlich. Nehmt zwei Schnüre, knüpft sie in der Mitte zusammen, gleich Mann und Frau in ehelicher Gemeinschaft. Haltet den Knoten fest zwischen zwei Fingern und bewegt die Hand. Was stellt Ihr fest?«
»Die Schnüre werden sich bewegen …«, antwortete der Medicus, »… in alle möglichen Richtungen, hin und her, kreuz und quer übereinander, durcheinander, sich im Chaos verstrickend, um nach einer Weile wieder ganz harmonisch dahinzugleiten.«
»Seht Ihr, Medicus. Die Schnüre schwingen frei um den Knoten Gottes.« Der greise Mann sprach mit weit aufgerissenen Augen. »Niemand kann die Bewegung vorhersagen, es gibt unendlich viele Möglichkeiten; jeder Augenblick beinhaltet einen anderen Schwingungszustand. Angestoßen von Gottes Hand entwickeln die Fäden ein freies, mannigfaches Eigenleben und sind dennoch fest eingebunden in der göttlichen Ordnung des ewigen Universums.« Der alte Mann senkte die Stimme, denn sein geschwächter Körper brauchte eine kurze Pause.
Nach einem Moment der Ruhe fuhr der Alte mit ungebrochenem Nachdruck fort und verkündete inbrünstig sein wissenschaftliches Glaubensbekenntnis: »Stellt Euch nun nicht zwei Schnüre vor, sondern vier, zehn, hundert, tausend, unendlich viele. Dies stellt dann die absolute, für uns Menschen im Einzelnen aber nicht mehr fassbare göttliche Vielfalt aller wunderschönen Phänomene der Natur dar. Eine vollkommene Systematik, in der Nichts aus eigener Kraft Ursache seiner Erschaffung ist und die Dinge, die durch sich selbst sind, ewig bleiben.«
Obwohl von dem Gehörten überwältigt, pochte im Innersten des Medicus die Welt der Zahlen zu sehr auf logischen Schlussfolgerungen, als dass er die Worte des greisen Mannes einfach annehmen mochte: »Könnt Ihr Eure Schlussfolgerungen auch beweisen? Habt Ihr die mathematische Formel, die dies alles erklärt? Vielleicht die Formel, die auch mir noch fehlt, um den immerwährenden Weg der Gestirne zu beschreiben?«
»Nein.« Der Alte sackte wie niedergeschlagen zusammen, große Enttäuschung sprach aus seinen Worten: »Ich sagte schon, mir fehlt die Zeit und ich befürchte, Gott wird mir keine mehr geben. Zwar mehrte ich meine anvertrauten Talente redlich, aber ich bin ein wenig traurig, dass ich sie nicht weiter vermehren kann. Was meint Ihr, mein guter Freund?« Der alte Mann blickte den Medicus betrübt an.
Ehrfurchtsvoll schritt der Medicus daraufhin zum Bett des Alten, beugte sich zu ihm und sagte: »Nichts ist vergeudet. Denn mit Euren Talenten habt Ihr Dinge geschaffen und Weisheiten erkannt, für die Euch Gottes Lob sicher ist. Hadert deshalb nicht mit Eurem Schicksal. Es ist Gottes Wille.« Ergriffen nahm er die Hand des Greises und drückte sie an sein Herz. Die Hand fühlte sich kalt an, Gevatter Tod sandte bereits eisige Vorboten. Deshalb wollte der Medicus den kranken, alten Mann auch nicht länger mit neuen, ach so schwierigen Fragen quälen. Stattdessen sagte er beruhigend: »Vielleicht kann man Gottes Willen überhaupt nicht erkunden. Dann ist es auch unmöglich, Gottes Gesetz für die Ordnung des Universums zu finden.«
Aber der Greis gab keine Ruhe, wollte tiefer und tiefer in die Sphären des göttlichen Denkens eindringen: »Man muss mit den Gedanken einfach loslassen können von allem Bisherigen, denn nur so wird man die Regeln, die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt finden.«
»Und wie?« Verblüfft schaute der Medicus den alten Mann an. Woher nahm dieser, den Tod im Nacken, nur diese Kraft, diese unglaubliche Energie? Vollends erstaunte ihn aber die neuerliche Antwort des Greises, der nicht abließ vom großen Ziel:
»Mit einem Experiment.«