Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 14
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ОглавлениеSchon von Weitem sah der junge Familienvater auf der Anhöhe die beiden Kreuze im sommerlichen Morgenlicht. Er genoss diese Zeit. Beim leichten Traben in der Frühe konnte er entspannen, loslassen von den Gedanken, die das Gehirn wie eine Schar krabbelnder Käfer überfluteten: das Wohl der beiden Kinder, die Absicherung der Familie, die Zukunft mit seiner geliebten Frau. Er fühlte sich wohl, alleine mit der Natur. Der hügelige, sportlich einiges abverlangende Laufweg führte den Mann zwar etwas abseits, aber immer in Reichweite der großen Landstraße, vorbei an kleinen Bächen, die sich im Frühjahr oftmals in wilde Flüsse verwandelten, jetzt aber durch verträumte Romantik bezauberten. Vorbei an romanischen Klostermauern musste er am Herrgottswinkel einen kurzen, steilen Anstieg bewältigen, der ihn regelmäßig aus der Puste brachte und seine ganzen Kräfte forderte. Ein wenig nach vorne gebeugt, den Kopf gesenkt, kämpfte er sich die letzten Meter voran. Dann hielt er kurz inne. Er hatte das erste Ziel erreicht. Jetzt ein wenig verschnaufen, dann würde er den Rest der Strecke auch noch schaffen.
Der Mann kannte jeden Stein, jede Gabelung der Laufroute, die Bäume und Büsche entlang des Teilstücks der ehemals legendären Staatsstraße der römischen Kaiser. Diesen zur Zeitenwende weit ausgebauten Weg, der den alten Trampelpfaden von Kelten, Etruskern und den Elefanten Hannibals folgte und ein gewaltiges Gebirgsmassiv überquerte, benutzten jahrhundertelang Menschen aller Völker: Zahllose Reisende mit leichtem Gepäck trugen die Nachrichten aus Politik, Kunst und Wissenschaft sowie die neuesten luxuriösen Errungenschaften des großstädtischen Lebens in die römischen Provinzen. Unterwegs befanden sich aber auch Beamte und Boten des Kaisers mit wichtiger Reichspost oder Legionäre im großen Tross, teils in Richtung entlegenster Garnisonen, teils auf dem Heimweg in die ewige Kaiserstadt. Später folgten dann fromme Pilger zu Fuß auf dem Weg zum Pontifex Maximus, dem Obersten Priester ihres göttlichen Glaubens. Und immerfort eilten emsige Händler daher, die voll beladen mit ausgesuchten Waren der bedeutendsten und weit entferntesten Marktplätze des gewaltigen Reiches florierende Geschäfte tätigten: mit duftendem Rosenöl aus Persien, kostbarem Olivenöl, süßem Rebensaft aus den Weinbergen der Götter, gallischem Met, Salz und exotischen Gewürzen, mit wohlriechendem Weihrauch aus dem Orient, frischen Meerestieren, Käsespezialitäten und Wildbret, mit edlem Marmor und lebenden wilden Tieren, alles zusammen herrliche Köstlichkeiten und sagenhafte Reichtümer aus fernen Ländern.
Und damals wie heute trennten das ganze Jahr über schneebedeckte Gipfelhöhen zwei Landschaften, die gegensätzlicher nicht sein konnten: Einerseits Feld und Flur, geprägt von mediterranem, subtropischem Klima mit milden und regenreichen Wintern, und in den heißen, trockenen Sommern kultivierten die Menschen hier seit Urzeiten den immergrünen Ölbaum, mythisches Symbol für Wohlstand, Frieden und Glück. Auf der anderen Gebirgsseite erwartete den Reisenden dann ein gemäßigtes Miteinander von Wärme und Kälte sowie immer wieder reichhaltige Niederschläge, die westliche Winde vom großen Ozean herantrugen. Dies war die Heimat von Märchen und Sagen, deren zahlreiche ritterliche Helden, verwunschene Prinzen und böse Feen sich in dichten, geheimnisumwitterten Wäldern aus Buchen, alten Eichen und vielerlei Nadelhölzern wohlfühlten. Aber die alte Handelsstraße überwand auch wie selbstverständlich das zuvor über Jahrtausende Trennende. Sie schuf Gemeinsamkeiten, die Regionen und Menschen prägten, brachte Fremde einander näher und ließ sie zu Verbündeten werden im einst mächtigsten Reich der Menschheitsgeschichte.
Vielerorts fanden sich in der landschaftlichen Heimat des jungen Familienvaters inzwischen vernarbte Spuren der Römerstraße: an Forstwegen und Wandersteigen, entlang der Flüsse und zahlreichen Seen, auf ausgedehnten Äckern und saftig grünen Wiesen, auf malerischen Hügeln vor der grandiosen Kulisse der sie begleitenden Berghänge. Und nicht zu vergessen in den Überresten der Siedlungsanlagen, die einst entlang der Straße wie Perlen an der Schnur zu belebten Dörfern und betriebsamen Handelsplätzen wuchsen. Sie alle waren stumme, in die Natur gebrannte Zeugen einer prachtvollen Vergangenheit. So wie der verwitterte Kalkstein, den der Mann Woche für Woche auf der Laufstrecke passierte, und der im moosbedeckten Boden einer über dreihundertjährigen, alle Wirren der Zeit überlebenden Linde ruhte. Vier erwachsene Männer mussten deren gewaltigen Stamm umgreifen, wollten sie den stattlichen Baum mit seinem mächtigen Astwerk und den gezähnten, herzförmigen Blättern in die Arme nehmen.
Auch jetzt, Mitte August, wenn der junge Vater an dieser vertrauten Stelle vorbeieilte, glaubte er noch den süßen, beinahe betäubenden Blütenduft zu schmecken, den die von der Zeit geweihte Linde in jedem wiederkehrenden Frühsommer so üppig versprühte – um sich alsdann bei vollem Gewächs, vom untersten Blätterwerk an bis zur dicht geschlossenen Krone, in ein großes, magisches Bienenparadies zu verwandeln. An dieser kultischen Stätte faszinierte den Mann die zeitlose, friedliche Aura der Vergangenheit, die wie ein unsichtbarer Nebel über der heimischen Erde lag. Ein vollkommenes Idyll der Ruhe und Sanftheit, ganz weit am äußersten Rande der Weltgeschichte – dort, wo einst das Leben pulsierte, Menschen aller Völker und Kulturen sich in ameisengleicher Betriebsamkeit begegneten; dort, wo einst das Zentrum der Mächtigen nur wenige Tagereisen entfernt lag.
Hier muss der barmherzige Herrgott zuhause sein , dachte der Vater, als er zu dem in guter Sichtweite entfernt stehenden, aus witterungsbeständiger Lärche gezimmerten Feldkreuz hinüberblickte. Wie immer bot das Dach aus Holzschindeln der barocken Figur des gekreuzigten Christus eine geschützte Herberge. Aber etwas beunruhigte den Mann. Etwas war anders als sonst. Das zweite Kreuz wirkte viel größer, wuchtiger als das Herrgottskreuz. Es kann noch nicht lange hier stehen, überlegte der junge Vater.
Nachdem er sich den Kreuzen im langsamen Lauftempo bis auf wenige Schritte genähert hatte, packte ihn das blanke Entsetzen: Das frische Kreuz bestand aus dem starken, übermannshohen Stamm einer ehrwürdigen Eiche, an den sich ein schwerer, ungehobelter Querbalken fest anschmiegte. Bernsteinfarbenes Harz tropfte wie Blut aus dem verletzten Baum, an dem der leblose Körper eines wohl älteren Mannes hing. Die Arme des Toten streckten sich weit auseinander. Große rostige Nägel, brutal durch die Handwurzeln getrieben, befestigten den geschundenen Körper an dem hölzernen Balken. Ein wenig Blut sickerte noch aus den Wunden. Die Beine des Opfers waren notdürftig an den Baum gefesselt. Der Kopf hing vorne über, das schweißige, dreckverschmierte Haar verdeckte die erloschenen Augen. Dicke Blutkrusten hingen um die Mundwinkel. Der Gekreuzigte war vollkommen nackt und offenbarte in einem erniedrigenden, martialischen Bild grenzenlosen Elends die Abgründe menschlichen Handels.
Was der Familienvater sah, überstieg sein Fassungsvermögen. Sein Magen drehte sich um, konnte die bestialische Scheußlichkeit nicht mehr ertragen. Halb bewusstlos sank er in das Wiesengras und musste sich erbrechen. Sein Mageninhalt stank ekelerregend, doch der penetrante Geruch bewirkte auch die Zuleitung von Unmengen Adrenalin in sein verstörtes Hirn. Es half. Der Mann schrie sich die Kehle wund, Verzweiflung überzog sein Gesicht mit schmerzverzerrten Grimassen – unwirklich, elendig, als hinge er selbst am Kreuz, als spiegele die eigene Seele den Todeskampf. Doch niemand hörte ihn. Hilflos schluchzend ließ er sich ins trockene Gras fallen, die Hände schützend über Kopf und Nacken geschlagen, so als fürchte er, das Böse könne auch ihm übel tun.
Konnte Menschenhand zu einer solchen Gräueltat überhaupt fähig sein – hier, in dieser Oase der Friedlichkeit? Aber warum nur, um Himmels willen? Der Vater dachte an seine Kinder. Wie sollte er nur das Bild des Jammers erklären? Was war nur aus dieser Welt geworden? Nein, es musste das Werk eines Dämons sein. Der Mann wollte wegrennen, aber die Beine stemmten sich ihm entgegen, schwer wie Blei. Der Schock saß tief in den Knochen. Wie in Trance bewegte er sich langsam in Richtung Dorf. Den völlig zerbeulten roten Spider im Straßengraben nahm er schon nicht mehr wahr.
Es dauerte, bis die unglaublichen Worte eines morgendlichen Joggers das richtige Gehör fanden und die örtliche Polizei das Gebiet großräumig abgesperrte. Gerade noch rechtzeitig, um ansonsten in Heerschaaren herbeieilenden Schaulustigen und die eine gute Story witternden Journalisten davon abzuhalten, aus dem Gekreuzigten eine neue, auserkorene Sensationsfigur des Überirdischen zu erschaffen.