Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 12
ОглавлениеKapitel II.
Der Zufall ist Gottes Deckname, wenn Gott sich nicht zu erkennen geben will.
Anatole France
6.
Im Land der Dichter und Denker, zum Süden hin, nahe der ehemals legendären Staatsstraße römischer Kaiser, in den ersten Abendstunden des neunten Tages im August.
Das Herz des Mannes klopfte wild, als er mit bedächtigen Schritten die kleine, auf romanischen Ursprung zurückgehende Dorfkirche aus dem achtzehnten Jahrhundert betrat. Ein kindliches Flüstern erfüllte den Raum. Kurz hielt der Mann inne, hoffte er doch, ganz alleine hier zu sein. Nur der Schöpfer und er. Doch dann sah er am Rande des Kirchenschiffes die fünf etwa zwölf bis vierzehn Jahre alten, adrett gekleideten Jungen. Sie saßen auf einfachen Holzbänken, direkt neben dem vom holzwurmigen Beichtstuhl. Es handelte sich wohl um kindliche Schäflein, die sich auf das heilige Sakrament der Beichte vorbereiteten, ohne deren Sündenbekenntnis und anschließende Vergebung es nicht erlaubt war, die göttliche Speise zu empfangen. Wenngleich in andächtige Gebete vertieft, gaben sich die Kinder höchst aufgeregt, stießen sich ein wenig mit den Ellbogen und zischten sich vorlaute Bemerkungen ins Ohr.
Der weißhaarige Mann erinnerte sich an die eigene Kindheit: Mehr als sechzig Jahre waren vergangen, seit auch er hier kniete, um zu beichten. Sein Sündenbekenntnis erschien ihm damals wie ein persönlicher Weltuntergang. Angst hatte er gehabt. Große Angst vor dem, was der Beichtvater ihm zur Buße auferlegen würde: für das Anschwindeln der tief religiösen Eltern, das Naschen in der Fastenzeit oder das Schwänzen der samstäglichen Andacht. Auch Zanken und Raufen mit der größeren Schwester ziemten sich nicht, nur weil diese ihm die schön gespitzten Buntstifte zum Malen verweigerte; aber auch Schadenfreude gehörte sich nicht, hin und wieder empfunden, wenn einem der Sportskameraden mitten im Spiel ein Missgeschick unterlief.
Jetzt aber lastete viel größere Schuld auf den schwachen Schultern des Mannes. Für einen kurzen Augenblick wünschte er sich die jugendliche Unbekümmertheit zurück. Nur zu gerne hätte er sich zu den fünf Jungen gekniet, um mit diesen zu schubsen, zu flüstern und noch einmal die kindliche Angst zu empfinden, die ihm heute so unendlich klein und unbedeutend vorkam. Denn was er nun fühlte und ihn so sehr aufwühlte, glich einer vom Sturm aufgepeitschten, tosenden Brandung. Die Furcht raubte ihm fast den Atem. Höllenqualen von nie gekanntem Umfang peinigten seinen Geist und zermarterten die Gedanken.
Einer nach dem anderen verschwanden die Jungen in dem mit geschnitzten Rosen reich verzierten Beichtstuhl. Waren die Schritte beim Hineingehen noch ein wenig bedächtig und zaudernd, die Mienen angespannt, so verwandelten sich diese beim Hinausgehen in ein Meer der Erleichterung. Ein rasches Niederknien auf den abgewetzten Stegen der alten Kommunionbänke, ein paar letzte Bußgebete, dann war es vollbracht: Fünf Vaterunser und ein paar Rosenkränze als Strafe für stibitzte Süßigkeiten oder ein wenig Zank unter Freunden zählten nicht als schlechtes Geschäft.
Der alte Mann saß, tief in sich gekehrt, etwas abseits. Für einen Moment wurde die Stille um ihn herum unterbrochen vom so gar nicht mehr andächtigen Aufbruch der unschuldigen Kinder. Nun war seine Zeit gekommen. Als ob er göttliche Hilfe suche, schaute er nach oben zur Decke, deren kunstvolle Fresken den Drachenkampf des Heiligen Georgs darstellten: Prachtvoll in voller Rüstung gekleidet stieß dieser dem zu Füßen liegenden Ungeheuer die eiserne, todbringende Lanze mitten in den Rachen. So hätte auch ich das Böse vernichten müssen, überlegte der alte Mann. Er drehte sich zum Beichtstuhl um und sein unsicherer Blick fiel auf die mittelalterlichen, aus hölzernen Rosen gebildeten Ornamente. Er wusste um deren mystische Sinnhaftigkeit als Zeichen für die leuchtenden und dunklen Seiten des Lebens. Er kannte die bildliche Symbolik für Vollkommenheit und ewige Weisheit, für Leid und Tod: Rosen und ihre Dornen sollten vor dem Bösen und Unwahren schützen. Aber seit alters her galten sie auch als Ausdruck der Verschwiegenheit. Sub rosa dictum – alles, was im Zeichen der Rose gesagt wurde, musste geheim bleiben. Doch wie viele arme Seelen hatten hier im Beichtstuhl schon das Fegefeuer erlebt? Jahrhunderte der Vergebung und Strafe, Jahrhunderte von Trost und Verdammnis – jetzt fest verschlossen in der ewigen Unendlichkeit.
Der alte Mann betrat den Beichtstuhl durch die rechte der mit schweren dunkelbraunen Vorhängen verdeckten Öffnungen und sank, ein wenig keuchend, auf die abgewetzte Kniebank. Direkt vor seinem Gesicht sah er ein kreuzweise geflochtenes Gitter mit Pergamentbezug. Dahinter konnte er den Priester, der in einer durch eine einfache Tür verschlossenen Kammer saß, nur in schemenhaften Umrissen erkennen. Als der Beichtvater ihm das linke Ohr zuwandte, ein kurzes Kreuzzeichen machte und mit leiser Stimme »Gelobt sei Jesus Christus« sprach, offenbarte sich dem alten Mann eine Jugendlichkeit, die ihn unvermittelt an deren Vorrecht denken ließ: Fehler machen zu dürfen, die er selbst, nun am Ende eines erfüllten Lebensweges angekommen und gesegnet mit der Weisheit des Alters, für unverzeihbar hielt. Sich sodann hastig bekreuzigend antwortete der alte Mann: »In Ewigkeit Amen.«
Während er die zittrigen Worte in das dargebotene offene Ohr des Priesters legte, nahm er die Gestalt des Gottesmanns, von ihm nur durch die spärliche Holzwand und das fensterartige, milchfarbige Gittergeflecht getrennt, schon nicht mehr als Menschen wahr. Denn er wusste, dass er mit Gott, dem Schöpfer sprach. Mit Gott musste er ins Reine kommen, nur Gott konnte ihm seine große Schuld verzeihen. Nur Gott konnte ihm Buße auftun, für das, was er getan hatte. Die seelischen Qualen bereiteten dem alten Mann größte körperliche Pein, sein Gesicht erstarrte leichenblass. Schmerzverzerrt verließen die zu Worten gewordenen Gedanken eine unendlich leidende Seele. Mit letzter Kraft presste er das Ungeheuerliche, sein Golgatha heraus: »Der Christ hat sich mit dem Antichristen verbündet. Ich bin dabei gewesen, ich habe es nicht verhindert. Mein Jesus, sei barmherzig mit mir.«
Stille. Unendliche Stille. Und noch bevor der junge Priester sich der Ungeheuerlichkeit der Aussage bewusst wurde, noch bevor er den harten Schnitt von den jugendlich unbekümmerten Bekenntnissen der Kommunionkinder hin zu der gnadenlosen Realität des Jetzt realisierte, legte der alte Mann unfassbare Worte nach. Worte, die den Priester erschauern, ja erstarren ließen – für den Augenblick unfähig in Gottes Namen Mut und Trost zu spenden: »Sie werden alle vernichten. Verdammnis wird kommen. Gott vergib mir, dass ich sie nicht aufgehalten habe. Gott vergib mir, dass ich schwach und ängstlich bin.«
Lange Sekunden vergingen, bis dem völlig überraschten Mann Gottes die absurde Unwirklichkeit der Situation vollkommen klar und er wieder Herr seiner Gedanken war. Er musste den kranken Mann beruhigen, ihm ein paar tröstende Worte zusprechen, ihm vielleicht helfen, wieder den Weg nach Hause zu finden: » Beati pauperes spiritu, selig sind die Armen im Geiste«, murmelte der Priester, denn so stand es schon in der Bibel.
Er wollte gerade den Beichtstuhl verlassen, als ihn die neuerlichen Worte des alten Mannes wie ein Keulenhieb zurückschlugen: »Sie wollen das Vermächtnis vernichten. Sie werden es tun – in der Heimstatt der Liebe. Oh Gott, gib mir die Kraft und die Stärke, es zu verhindern. Lass mich dein treuer Knecht sein, dein Werkzeug. Ich werde die Kräfte des Guten sammeln.« Längst hatte der alte Mann den Bezug zum Irdischen verloren, längst völlig vergessen, dass er nicht alleine in der Kirche weilte. Er brauchte keinen Beichtvater mehr, der ihn lossprach von seiner Schande. Gott würde ihm Vergebung schenken, wenn er sich jetzt opferte – er war das Agnus Dei, das Lamm Gottes. Sein Blut für die Wahrheit, für die Zukunft der Liebe und für die Weiterentwicklung des göttlichen Plans. Gegen den Antichristen und die Lüge, gegen herrschaftliche Gewalt und deren teuflische Denkverbote.
Als der Mann wie von Sinnen und mit zuckenden Gesichtszügen fluchtartig den Beichtstuhl verließ, stieß er unvermittelt mit dem Priester zusammen. Denn der Gottesmann, eben noch um Fassung ringend und den geisteskranken Alten kniend im Beichtstuhl wähnend, befand sich bereits auf dem Weg zur Nächstenliebe, als er gedankenverloren den Zusammenprall spürte: ein dumpfer, fester Stoß mitten gegen die Brust. Das Zwerchfell wie gelähmt, die Atemmuskulatur schutzartig verkrampft, klappten die Beine ohne Gegenwehr nach vorne weg. Dann klatschte er mit dem Gesicht auf den kalten, harten Steinfußboden der Kirche. Wieder aufgerappelt stellte er entgeistert fest, dass der alte Mann verschwunden war. Immer noch ein wenig nach Atem ringend, stolperte er daraufhin zur Kirchentür, öffnete hastig die unter dem Gewicht der Zeit knarzenden Flügel und rannte ins Freie. Was er hier erblickte, wollte er nicht glauben. Der irre alte Mann brauste in einem hellroten, voll verchromten Alfa Spider die Straße hinab. Staub wirbelte auf, als die wunderschöne Gefährtin mit filigranen und in ein schwarzes Softtop übergehenden Kurven die sportliche Motorkraft ausspielte. Dann verschwand sie hinter Bäumen und den Hügel hinab in der sommerlichen Landschaft. Das Letzte, was der Priester ungläubig staunend sah, formte der stählerne, edle Auspuff des Traumwagens in die klare Sommerluft: dicke, rauchig schwarze Rußpartikel.