Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 8
2.
ОглавлениеDie Stadt der schönen Künste am sechsten Tag im August.
Mitten in der hügeligen Landschaft, in einem mit alten Pinien und dunklen, säulengleichen Zypressen sowie knorrigen Olivenbäumen üppig bewachsenen Garten, umwoben von mediterranen Düften aus Rosmarin, Myrte und Zitronenmelisse, lag die Stadt voller Lebenslust in der gleißenden Glut der Mittagssonne. Schon seit dem Morgen lauerte der Mann dem Objekt seiner Begierde auf. Tagelang schlich er bereits durch die malerischen, mit handbehauenen Sandsteinplatten gepflasterten engen Gassen, vorbei an mittelalterlichen Gebäuden mit bogenförmigen Hauseingängen und deren für Fremde verwirrenden blauen, schwarzen und roten Hausnummern. Er trieb sich auf den großen Plätzen und in zahllosen Trattorien herum, immer auf der Suche nach der perfekten Beute. Sein Jagdinstinkt lief auf vollen Touren. Er zog von einem Café in das nächste. Sein geschulter Blick galt nicht den gut gekleideten jungen Männern, die mit verspiegelten Sonnenbrillen müßig an schattigen Kaffeehaustischen saßen und ihren geliebten Espresso tranken. Auch nicht der Heerzahl von anstürmenden Touristen, die die Stadt wie Heuschrecken überfluteten. Nein, seine gierigen Blicke galten nur den lebensfrohen, verführerischen und völlig wildfremden Frauen, denn die heitere Lebensart in den Straßen der Stadt und der wolkenlose Himmel boten eine üppige Auswahl an weiblicher Anmut und Grazie.
Immer wieder entdeckte er neue, aufregend junge Schönheiten, die mit schwärmerischen Augen die Modeauslagen der bunten, pittoresken Boutiquen erkundeten oder frivol kichernd an nackten Statuen posierten – dabei unverhohlen die Vollkommenheit männlicher Blößen im Auge haltend. Und nicht zu vergessen: entzückende Wesen aus allen Ländern der Erde, die in aufreizend sommerlicher, teils hauchfeiner Bekleidung und mit im Wind wehenden offenen Haaren auf den Rücksitzen von knatternden und qualmenden Motorrollern dahinrauschten. Hier und da ein paar flirtende Blicke werfend zu adonishaften, aber immer noch halbwüchsigen Kerlen, die aufreizend lässig an einer marmornen Hauswand oder einem eisernen Brückengeländer lehnten. Aber keine der Frauen entsprach dem vollkommenen Ideal des Jägers. Er brauchte das Neue, das Geheimnisvolle.
Der Mann entdeckte seine Beute an der südlichen Flussseite, auf einer jener breiten steinernen Bänke, des aus grob behauenen Steinquadern erbauten Palazzos. Die Luft vibrierte trocken-heiß, erbarmungslos stach die Sonne vom tiefblauen Himmel. Nur einzelne, filigrane Eiswolken durchzogen fadenförmig die Atmosphäre. Das Licht zeichnete scharfe Konturen: Hier spendeten die Mauern der hohen Häuser und die vorspringenden Dächer dunklen, kühlen Schatten. Dort, an ungeschützten Plätzen, blendete das grelle Licht. Die Frau fesselte seine Sinne vom ersten Augenblick. Er konnte sich nicht sattsehen, fasziniert von einer vollendeten, sonnengeküssten Natürlichkeit: Schulterlange, tiefschwarze Haare, leicht gelockt wie Sommerwolken, umschmeichelten das engelhafte, dunkelhäutige Gesicht und wogten bei jeder Bewegung des Kopfs behutsam dahin, wie sanfte Meereswellen in einer wohlig warmen Brise. Sie trug keine Schminke. Ihr makelloser, weicher Teint, die sinnlichen, glutvollen Lippen und die großen dunkelbraunen Augen strahlten eine betörende Anmut aus, die jede Einmischung verbot. Unter Tausenden hätte der Jäger sie wiedererkannt.
Die Schönheit las in einem Buch. Wunderschöne Beine, deren ebenmäßige Haut schwarzbitter-schokoladig in der Sonne strahlte, entspannten sich lässig übereinandergeschlagen. Am nackten rechten Zeh wippte kokett eine edle Plateausandalette aus weißem Glattleder mit funkelnden Ziersteinen auf den gewundenen Riemchen; ein aufreizendes Bild voll von jugendlichem Glamour und ausdrucksstarker, femininer Eleganz. Aber immer wieder störten die vorbeiströmenden Touristenmassen die begehrlichen Blicke des Mannes. Die Fremden, grübelte er, widmen ihre ganze Aufmerksamkeit den Ansammlungen von toten, kalten Steinen und überlebensgroßen Statuen. Und davon gab es wahrlich genug in dieser Stadt. »Schon verrückt«, entfuhr es ihm leise, während er leicht den Kopf schüttelte, ohne dass seine kurzen blonden Haare die Fassung verloren. »Da sitzt Gottes lieblichstes Geschöpf auf Jahrhunderte alten Marmorsteinen, eine Erdgöttin aus dem Herzen der Natur, fleischgewordenes Zeugnis einer unglaublichen Lebendigkeit – und alle huldigen dem Vergänglichen, dem Tod.« Doch er irrte sich. Denn er war nicht der Einzige, der die bildhübsche Frau beobachtete. Vier dunkle Augenpaare verfolgten im Verborgenen die weibliche Fährte.
»Ciao Bella.«
Abrupt wurde der Jäger aus seinen Gedanken gerissen, als sich ein irdisches männliches Wesen lauthals der auserkorenen Göttin näherte – offenbar kein Tourist, wohl eher ein Studiosus, trug dieser doch eine Menge Bücher unter den Armen. Die Frau schenkte dem Jüngling ein bezauberndes Lächeln, erhob sich und begrüßte ihn freundschaftlich mit dem Hauch von zwei zart angedeuteten Wangenküssen. Eine Weile schwatzten sie fröhlich kichernd miteinander, dann legte sie ihren Arm ungezwungen um seine schlanke Taille. Langsam schlenderten die beiden, immer noch anregend miteinander diskutierend, die Straße entlang bis zu der alten, auf drei Bögen ruhenden Brücke. Hier trennten sich ihre Wege wieder.
Die Philosophin überquerte rasch den Fluss, um dann in Richtung Biblioteca Nazionale abzubiegen. Dort wollte sie Näheres zu dem geheimnisvollen Fund aus der Villa erforschen. Eine kribblige Neugierde erfasste sie.
Der Jäger folgte seinem Wild. Erst jetzt fiel ihm auf, wie unverschämt lang die Beine seiner Göttin von der Erde bis zum Himmel ragten. Die hohen Absätze der Schuhe strafften elegant den gesamten Körper, ausdrucksstark in Szene gesetzt durch einen feminin schwingenden, gazellengleichen Gang. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt: Zu einer leicht geöffneten, verspielten weißen Rüschenbluse, bewusst weiblich eng anliegend gewählt, trug die Frau einen dunkelroten, knielangen und röhrenförmigen Seidenrock, dessen Schlitze an der Seite die schlanken Beine ins nahezu Unendliche emporwachsen ließen. Hinter der Brücke, auf der anderen Seite des Flusses, schlich der Mann dem Kätzchen nach wie ein läufiger Kater. Sein Instinkt drängte ihn – und nicht das erste Mal.
Die Frau hatte ihn längst bemerkt. Sie wusste, was er beabsichtigte, denn sie kannte Typen wie ihn. Sie spielte mit ihm. Aber noch gab sie ihm keine Gelegenheit, bestanden hingehauchte Posen nur aus kurzen, unverfänglichen Andeutungen. Sie wollte ihn zappeln lassen. Die Katze spielte mit der Maus, auch wenn die Maus dachte, die Katze zu sein.
Sie liebte die Stadt. Vor nunmehr achtundzwanzig Jahren auf dem schwarzen Kontinent geboren, gaben ihr Land und Leute eine innig gefühlte Heimat. Sie war stolz, eine dunkelhäutige Frau zu sein, Gottes Geschöpf aus der Wiege der Menschheit, eine schwarze Sonnenwolke, glücklich, dankbar und sich doch nach der Wurzel ihres Seins sehnend: dem verwaisten Kinderbett in dem Land, dessen unwirtlichen und kriegerischen Lebensraum sie so früh verlassen musste. Jahrelange Dürre, brachliegende Äcker, verminte Straßen und die hinterhältigen Schüsse feiger Heckenschützen hatten Land und Menschen ausgemergelt bis auf die Knochen. Lebenstötend und Ströme von Flüchtlingen ergießend. Eines Tages würde sie in das Land der Väter zurückkehren.
Doch jetzt begehrte sie nur das Hier, ihre Stadt: das bunte Treiben der Händler, die emsigen Handwerker, alle stets darum bemüht, die mehr als zweitausendjährige Vergangenheit des kulturellen Juwels in seiner atemberaubenden Pracht und seinem künstlerischen Ebenmaß zu erhalten. Auch die vielen Touristen, die in aufgeregtem Gedränge und Gewimmel nach Souvenirs und Ansichtskarten schauten und deren gerötete Gesichter vielfach gezeichnet waren von der sengenden Sonne und den Anstrengungen der kolossalen Museen, schreckten sie keineswegs. Gehörten die reisenden Urlauber doch hierher, wie die Luft zum Atmen. Denn ohne die Fremden, das wusste sie, gäbe es nicht das bunte Treiben auf den Märkten. Auch nicht die vielen kleinen Läden in den romantischen Gassen und nicht die Meister der Gilden, die sich gekonnt in alten Traditionen übten: Seidenweber, Schuster und Strohflechter; oder Goldschmiede mit winklig kleinen, wie Balkone vorragenden Geschäften entlang der Prachtstraße über die alte Brücke, die an der schmalsten Stelle über den in Hitzemonaten nahezu ausgetrockneten Fluss führte und in der Mitte dem ehemals größten Virtuosen der güldenen Zunft huldigte. Und damals wie heute blendeten herrliche Auslagen die Sinne: kunstvoll gestaltete Broschen, geschmeidige Ketten und Ringe aus Gold, Machtsymbole einst wie jetzt, von Meisterhand erschaffen.
Als die Frau die Nationalbibliothek erreichte, verschwand sie ohne Umschweife in dem Büchertempel. »Mist«, entfuhr es dem Jäger. Nun musste er warten, seinen Plan verändern. Minuten vergingen, eine Stunde, zwei Stunden. Er wurde ungeduldig, langsam neigte sich die Nachmittagssonne dem abendlichen Gewande zu. Der Mann verspürte Hunger, der Magen knurrte, ausgerechnet jetzt. Aber mit Hungergefühl ließ sich kein Wild erlegen. Er würde es morgen in der Frühe erneut versuchen, auch übermorgen, wenn es sein musste. »Die schwarze Gazelle kommt wieder«, sprach der Jäger voller Zuversicht. »Ich würde Stein und Bein darauf schwören, sie ist Studentin. Kunstgeschichte passt zu ihr. Schließlich ist sie ja selbst ein Kunstwerk, ein weibliches.« Er grinste und machte sich aus dem Staub. Bald wäre sein Auftrag erledigt.
Seit Sonnenaufgang lag der Jäger wieder auf der Lauer. Die Piazza aalte sich in der leuchtenden Reinheit des warmen Morgenlichts. Am Rande des Platzes, nur unweit entfernt von der bereits jahrhundertealten Zentralbibliothek, befand sich ein einzigartiges Bauwerk; eine der größten Kirchen der Stadt. Hier wollte er sein Opfer stellen. Die glanzvolle Reinheit des gotischen Stils der Basilika, die beiden malerischen Kreuzgänge des anliegenden Klosterkomplexes mit den weiten Arkadenöffnungen hin zu einem lichtdurchfluteten Garten, die unzähligen, berühmten Kunstwerke und nicht zuletzt die Gräber der Mächtigen – dies alles betrachte der Mann als den einzig würdigen Fleck dieser Erde, um für alle Ewigkeit von der Schönheit seiner Auserwählten und den vollendeten Formen der Weiblichkeit Besitz zu ergreifen.
Die Sonne stand bereits am Zenit, als der Jäger die Frau kommen sah. Jetzt würde er sie fassen. Er öffnete den Reisverschluss, geschmeidig lag das Arbeitsgerät in seinen erfahrenen Händen. Nur noch wenige Augenblicke – doch dann sah er den weißen Lieferwagen. Alles ging blitzschnell. Das klapprige und deshalb unauffällige Lieferauto, Marke geschlossener Kastenwagen mit viel Rost, hielt direkt neben drei sehr beschäftigt agierenden Männern, die offensichtlich ein Filmteam verkörperten: Ein ganz in Schwarz gekleideter, mit beachtlicher Leibesfülle ausstaffierter Kameramann saß auf dem drehbaren Sitz eines lenkbaren Fahrzeugs, bei dem acht kugelgelagerte Rollen für Stabilität und die zum Filmen notwendige Laufruhe sorgten. Von der erhöhten Sitzposition des Kamerawagens überblickte der Mann hervorragend die gesamte Piazza und konnte den beiden anderen Männern, wohl seine Assistenten, die erforderlichen Anweisungen geben. Rasch breitete sich auf dem großen Platz eine traumfabrikähnliche Atmosphäre aus und lockte so manchen Besucher zusätzlich an, immer mit dem Hauch der Idee, vielleicht eine der begehrten Statistenrollen erbeuten zu können. Derweil übten sich die beiden assistierenden Männer in wirrer Hektik: Während der eine scheinbar planlos mit einem langstieligen Richtmikrofon gestikulierte, so als versuche er, allzu neugierige Touristen wie lästige Tauben zu verscheuchen, hielt der dritte Mann des Teams einen goldenen Reflektor hoch – augenscheinlich so, als wolle er mit dem Umformer das gleißende Sonnenlicht zähmen und in die schwarze Digitalkamera seines majestätisch thronenden Meisters lenken.
Für Bruchteile verlor der Fotoreporter das Jagdobjekt aus dem Visier, weil seine schon allzu lange in diesem Metier arbeitenden Gedanken instinktiv abschweiften – spürend, dass die scheinbar geschäftige Szenerie nicht der Wirklichkeit entsprechen konnte. Aber was störte so sehr? War es das fünf Meter lange Mikrofonkabel, das einer der Männer hinter sich herschleifte, ohne zu bemerken, dass keine Verbindung zur Kamera bestand? Oder der goldene Reflektor, den erfahrene Fotografen nur bei bedecktem Himmel gebrauchen würden? Der Reporter stutzte: »Ich würde eine zweiseitige Bespannung in Weiß und Silber vorziehen, schon der besseren Kontraste wegen«, murmelte er vor sich hin, ohne sich von dem Schauspiel losreißen zu können: »Irgendwie Anfänger, nachher werden sie ihren Spaß haben, bei den ausgeprägten Gegensätzen von Licht und Schatten. Das könnte man besser machen, aber was soll's.« Er zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder der himmlischen Erscheinung. Sie kam immer näher. Gleich würde sie die Mitte der Piazza erreichen. Dann konnte er sie ansprechen. Ihn trennten nur noch wenige Meter vom Sommerfoto des Jahres. Es ließe sich bestimmt gut verkaufen. »Sie muss nur noch an dem filmenden Laienspieltrupp vorbei«, flüsterte der Fotoreporter seiner Kamera zu. »Dann kommst du zum Einsatz, meine Liebe.«
Doch genau in diesem Moment verschwand die Frau für zwei, drei Sekunden aus seinem Blickfeld. Er sah nur noch den weißen Lieferwagen, der sich ganz unauffällig ein paar Meter nach vorne bewegte. Dann hörte er das knarrende Geräusch einer sich öffnenden Schiebetür – aber sein Bewusstsein maß diesen Lauten keinerlei Bedeutung zu. Auch das unmittelbar danach zu vernehmende, scharrende Geräusch einer sich wieder schließenden Tür beunruhigte den Instinkt des Reporters nicht. Das Filmteam verfiel in höchste Anstrengung, bemüht, das Geschehen tadellos auf Zelluloid zu bannen. Auf ein Zeichen des Kameramanns schoss der Kastenwagen mit quietschenden Reifen davon. Ganz schön schnell für eine so alte Möhre, dachte der Fotoreporter, froh darüber, endlich wieder freies Blickfeld zu haben. Doch die schwarze Göttin war weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Der Mann schaute sich entgeistert um. Überall stinknormale Touristen, die dem Kamerateam für die gelungene Aktion laut Beifall klatschten. Einige riefen sogar »Da capo!«, als wollten sie alle Details noch einmal und möglichst sogar in Zeitlupe sehen. Aber von einem himmlischen Wesen mit göttlicher Figur fehlte jedes Anzeichen. »Verdammt«, entglitt es den Lippen des Fotoreporters, »wo ist sie hin?« War er überhaupt noch Herr seiner Sinne oder schon verblendet von den hitzigen Strahlen der grellen Sonne?
Seine Augen flackerten unruhig über die seltsam normal wirkende Szenerie. Der Verstand machte Purzelbäume, entwarf die verrücktesten Theorien, konstruierte die abenteuerlichsten Erklärungen, um allesamt sogleich wieder zu verwerfen. Doch seine Überlegungen änderten schlagartig die Richtung, als der Fotoreporter sah, wie der Kameramann nicht lange fackelte, den Wagen eilig und mit wenigen Handgriffen zusammenklappte, zu einer Sackkarre umfunktionierte, darauf den Ausrüstungskoffer und die Kamera packte, um sodann gemeinsam mit seinen Helfershelfern in Windeseile davon zu rennen. Genau in diesem Moment, als ob ein Heer wärmender Sonnenstrahlen den morgendlich schwer über dem Fluss wabernden Nebel auflöste, verloren sich die undurchsichtigen Schwaden im Kopf des Reporters. Schwaden, die den Verstand vernebelt, jeden klaren Gedanken verschleiert und das Gehörte ignoriert hatten. Hektisch blickte er sich um. Was das Kamerateam anging, täuschte ihn sein Gefühl nicht: Laienspieler. Das war die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht lautete: Das Objekt der Begierde befand sich genau vor seiner Nase, verschwunden im Bauch des motorisierten weißen Wals und offensichtlich abgefangen von der hellwachen Konkurrenz. Ärgerlich. Der Fotoreporter war wütend. Zornig über die eigene Unachtsamkeit. Er stampfte mit den Füßen auf, so heftig, dass der seit Wochen ausgelaugte Straßenstaub wolkig aufstob. Das würde er sich nicht gefallen lassen.
In diesem Augenblick unbändiger Empörung, die sich mit kämpferischer Begehrlichkeit paarte, fiel sein tatendurstiger Blick auf einen wie vom Göttervater gesandten, knallrot und silbermetallic lackierten, mit Chromblenden und Alufelgen aufgemotzten Roller. Lasziv lehnte eine vermutlich noch nicht einmal sechzehnjährige Kindfrau gegen das abgestellte Geschoss, dabei mit beiden Armen ihren kaum älteren Lover eng umfassend. Der Zündschlüssel steckte noch – bei beiden Vehikeln.
»Hey du«, der Reporter machte ein paar schnelle Schritte hin zu dem umschlungenen Pärchen und klopfte dem Lover auf die Schultern. »Ist der Bock getunt?«
»Bist du verrückt? Was willst du Alter, hau ab.« Der völlig entgeisterte Junge drehte sich kurz um. »Du störst«.
»Also doch getunt, prima«, der Reporter ließ nicht locker.
»Bist du ein verdeckter Bulle, einer von den spießigen Carabinieri? Oder etwa ein neidischer Spanner, hä?« Der junge Mann ballte die Faust und ließ mit einer unmissverständlich obszönen Geste seinem Ärger freien Lauf, wohl denkend, er könne den dreisten Zeitgenossen damit gehörig einschüchtern: »Hau endlich ab, ich bin beschäftigt.« Der jugendliche Casanova widmete sich wieder dem süßen Kussmäulchen, seine Hände suchten die reifen, kleinen Früchte unter der sommerlich weiten Bluse – unfähig an etwas anderes zu denken. Völlig gelähmt und nicht mehr in der Lage, die alltäglichsten Herausforderungen des Lebens zu meistern.
Im Nu erkannte der Reporter die sich ihm bietende Chance. So wie die Maschine aussah, war sie mit Sicherheit frisiert. Und mit etwas Glück sogar ordentlich. Zwar kamen die meisten Roller mit ihren Zweitaktern höchstens auf fünfzig Stundenkilometern, er wusste aber, dass es nicht schwer war, Geschwindigkeiten von über hundert und mehr auf das Hinterrad zu bringen. Unsanft stieß er das liebestrunkene Pärchen zur Seite und schwang sich behände auf den Roller. Es ließ ihn völlig kalt, dass die jungen Leute völlig verdutzt zu Boden fielen – sie ziemlich hart, er etwas weicher. Den Lieferwagen jagte nun ein Verfolger auf Augenhöhe.