Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 7
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ОглавлениеEin Kleinod, inmitten von Olivenhainen und Weinbergen, am ersten Tag im August.
Das steinalte Anwesen lag oberhalb der hügeligen Landschaft, deren Kontur eine schier unerschöpfliche Ansammlung von altehrwürdigen Kastellen und stattlichen Villen aufwies, die einst den mächtigsten Adelsfamilien als Domizil dienten. Geschützt von immergrünen Kletterpflanzen, wild überwucherten Mauern und einem eisenbeschlagenen Eichentor, öffnete sich Fremdlingen, die den Besitz mit ehrfurchtsvoller Neugier betraten, eine abgeschiedene, eigene Welt:
Hier das herrschaftliche Haupthaus, dessen massive Wände noch aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammten, mit den charakteristischen, weit vorspringenden Dächern. Dort der angrenzende, wehrhafte und mit einem Zinnenkranz versehene Turm, erbaut vor langer Zeit zum Ausspähen feindlicher Nachbarn und zur Überwachung der Feldarbeiter. Gemeinsam mit den Nebengebäuden, die die Pachtbauern mit ihren kinderreichen Familien als Wohnungen nutzten, sowie den zahlreichen Stallungen, bildete der Landsitz ein wohl abgestimmtes Ganzes, gleichsam Zeugnis einer überragenden Baukunst aus längst vergangenen Tagen. Die oberen, schmalen Öffnungen des eckigen Turmes gewährten einen atemberaubenden Fernblick nach Süden, hinweg über sanfte, fruchtbare Hügel, an denen sich großflächige, silbrig glänzende Olivenhaine, steile Weinberge und die herrlichen Wälder der mit ausladenden Kronen gesegneten Steineichen emporzogen. Dazwischen fand der Wanderer immer wieder grüne Futtergraswiesen mit harmonisch in die Landschaft eingefügten malerischen Dörfern, die oft nur aus wenigen Häusern bestanden. Deren zinnoberrote Dächer boten von Sonnenaufgang bis in die späten Stunden der Abendsonne ein wechselndes, noch weithin sichtbares Spiel rötlicher Farbtöne, die im sommerlichen Licht mit dem leuchtenden Rot der blühenden Mohnfelder wetteiferten.
Die junge Doktorin der Philosophie genoss diesen Ort. So sehr sie auch das Leben in der turbulenten und heiteren Stadt mit deren zu Stein gewordener Geschichte und den allerschönsten Plätzen dieser Welt liebte, so sehr erfreuten sie die regelmäßigen Besuche im Anwesen ihrer Eltern. Immer wieder verliebte sie sich aufs Neue in dieses Kleinod, zumal es bei der vor Jahren durchgeführten Renovierung vorzüglich gelungen war, den ursprünglichen Charme der Gebäude durch die Erhaltung architektonischer Besonderheiten zu wahren. Natur und Kunst – hier verbanden sie sich zur belebenden Ewigkeit: Dunkelgrünes Moos überzog besitzergreifend Treppenstufen und Terrassen. Efeu eroberte keck standhafte Mauern, rankte sich behände um Geländer und Gitter, versuchte sich vorwitzig an verwitterten Statuen von steinernen Nymphen und nackten Göttinnen, drang frech in gepflegte Kräuterbeete, umgarnte liebevoll zugeschnittene Buchsbäume und labte sich am Wasser eines ruhig dahinplätschernden Brunnens. Es roch nach Lavendel und wildem Fenchel, nach Salbei, Thymian und frischem Humus. Die üppig blühenden Rosen verströmten einen letzten betörenden Duft und konkurrierten mit zarten Orangenblüten und den vollen Früchten der Zitronenbäume.
Jetzt, in der schweren Sommerschwüle des August, wenn die Stadt wie im Fiebertraum lag, zog es die Frau immer wieder in die kühlenden Gemäuer. Aber mehr als alles andere lockte sie die alte Bibliothek. Denn hinter einer schweren Holztür, reich verziert mit einem adligen Familienwappen, erschloss sich eine Symphonie des Wissens, ein Weltall der Entdeckungen:
Entlang getäfelter Wände stand eine Vielzahl in dunkler Eiche gefasster Bücherregale, die wie unlösbar verbundene Türme bis unter die überhohen Decken ragten. Ein eleganter Kronleuchter mit zwölf ausladend geschwungenen Armen und unzähligen funkelnden Kristallen aus edlem Muranoglas tauchte den großen, aber fensterlosen Raum in ein strahlendes Licht, das alle Düsterheit verbannte. Tausende von ledernen Buchrücken, vereinzelt auch schadhaft oder altersfleckig, erzeugten trotz aller Unterschiedlichkeit in der äußeren Beschaffenheit ein harmonisches Bild der inneren Ruhe. Ein handgeknüpfter, mit roten Ornamenten reich verzierter Perserteppich dämpfte die Schritte der wissbegierigen Doktorin auf den dicken Bohlen naturbelassener Eiche. Immer wieder faszinierte die Frau das gewaltige Wissen der Jahrhunderte, trug doch jedes noch so winzige Buch ein kleines Geheimnis in sich und erzählte von Freud und Leid, von großen Taten und unglaublichen Entdeckungen. Von Liebe und Tod, von den schönen Künsten und den Schrecken der Kriege. Andächtig und voll Demut sog sie den Atem des Vergangenen in sich auf. Die Luft schmeckte trocken und ein wenig staubig, es roch nach altem Papier, nach in ledrige Einbände eingedrungenem Fett und erdigen Farben. Der Geschmack kribbelte in Nase und Hals. Sie hustete kurz, ein kräftiges Niesen schloss sich an – die Gegenwart holte sie zurück.
In der Mitte des Raumes thronte majestätisch auf vier großen Tatzenfüßen ein wuchtiger Schreibtisch aus dunkler, astfreier Eiche. Ehrfurchtsvoll, fast zärtlich strich die Hand der Frau über die glatt polierte Tischplatte, die ein wenig überstand. »Wenn du erzählen könntest«, murmelte sie vor sich hin, »du würdest von so vielen Herrschaften, Fürsten und Grafen berichten, die wichtige Dokumente auf deinem Rücken unterzeichneten. Sie alle sind tot, du aber lebst, so wie alle Bücher hier, Zeugen einer prachtvollen Vergangenheit.« Sie kam ins Träumen. Sie träumte so gerne von stolzen Prinzen, von verwunschenen Prinzessinnen, von guten und bösen Feen. Mit einem langen Seufzer ließ sie sich in den betagten Lesesessel fallen, dessen Bespannung aus dunkelrotem, abgewetzten Samt immer wieder zum gemütlichen Verweilen einlud. Ihr Blick streifte den großen, auf einem dreifüßigen Holzgestell ruhenden Bibliotheksglobus, der mit einem Kompass aus Messing glänzte – ein stiller Zeuge längst vergangenen Weltensichten. Ehrfürchtig schaute sie die erhabenen Büchertürme hinauf. Schwärmerisch sogen die Gedanken am Odem der Zeit: Niemand konnte erahnen, welche einzigartigen Quellen des Wissens, welche Zeugnisse höchster Buchdruckerkunst sich in den vielen Regalen verbargen. Keiner vermochte das kulturelle Gedächtnis ganzer Epochen auch nur annähernd zu erfassen. Die Bücher, von handwerklich geschickten Buchbindern in reich geschmückte Ledereinbände gefasst, führten ihr eigenes Leben, erwehrten sich erfolgreich aller Neuerungen und wurden um so weiser, je mehr sie an Jahren zählten. Nur die in vollkommener Schönheit ergraute Standuhr schlug mit dumpfer Inbrunst dagegen an, dass die Zeit den Atem hielt.
Im Land der Bücher verteilte sich alles kreuz und quer. Nur hier und da hinterließen – zwischen Buchseiten gesteckte, handschriftlich beschriebene Papierreiter – Spuren interessierter Leser. Kostbare historische Sammlungen, teils Unica, einmalige, teils Rara, seltene philosophische und theologische Werke umfassend, fanden sich neben enzyklopädischen Ausgaben, Chroniken und Reiseberichten. Lexika mit detailgetreuen Abbildungen aus Zoologie und Botanik standen zwischen wunderschönen Kunstbänden mit blattgroßen, zeitgenössischen Kupferstichen, Silberstiftzeichnungen auf Pergament oder aquarellierten Miniaturen. Wertvolle, mit Ornamenten reich verzierte liturgische Handschriften und alte Manuskripte in gotischer Textura, aber auch Stundenbücher mit opulent geschmückten Bildseiten reihten sich an vertrauliche Briefwechsel der Mächtigen, offenherzige Memoiren oder intimste Tagebücher. Die Bücherwelt bewahrte so manches, das niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte – aber auch Geheimnisvolles, nur darauf wartend, neu entdeckt zu werden.
Am liebsten schmökerte die Philosophin ziellos. Dann konnte sie Zeit und Raum vergessen, tauchte ab in eine andere Welt, vergaß alles um sich herum, essen, trinken und das Leben in der Stadt. Die neu entdeckten Bücherschätze breitete sie dann vorsichtig auf einem in dunklem Nussbaum gefertigten, viereckigen und von gedrechselten Säulchen getragenen Tisch aus, der zum Lesen größerer Werke sogar einen verstellbaren Bücherständer sein Eigen nannte. Ab und an kletterte die Frau auch auf die hölzerne Bibliotheksleiter aus Eiche, um in den Regalen an die oberen, oftmals seit Jahren unberührten und mit einer dicken Staubschicht belegten Bücher zu gelangen.
So wie heute. Ihr Herz klopfte. Wo nur stand jenes autobiografische Manuskript des größten Liebesabenteurers aller Zeiten? Ein Raubdruck, von dem ihr Vater immer so glühend erzählte. Als Erstes griff sie vorsichtig nach einem in dunkelgrünem Ziegenleder gebundenen Folianten, dessen Umfang sich doppelt so groß maß, wie ein gebräuchliches Blatt Papier. Auf dem Rücken trug er ein in Gold geprägtes Wappen. Das kostbare Werk umfasst bestimmt mehr als tausend Seiten, dachte die Philosophin, als der schwere Prachtband in ihren Händen lag. Liebevoll streichelte sie den Einband, den vergoldete florale Ornamente verzierten. Eine silberne Metallschließe schützte das Kunstwerk vor dem Zerfleddern.
Den staubigen Wälzer behutsam an die Brust pressend, stieg sie die Leiter nach unten, zurück auf die Dielen der Gegenwart. Dort pustete sie sogleich kräftig über das neu entdeckte Juwel, sah aber angesichts einer sie umhüllenden dicken Staubwolke schnell die Sinnlosigkeit des Unterfangens ein. Vorsichtig legte sie den Folianten auf den mit dunkelgrünem Samt eingeschlagenen Büchertisch.
»Der dicken Staubschicht nach zu urteilen«, flüsterte sie, »muss die Schwarte hier schon seit Urzeiten unentdeckt herumstehen.« Sorgfältig schlug sie einige Seiten um, manche zeigten sich an den oberen Kanten eingerissen oder zerfranst. Auch sah sie hier und da geknickte Ecken, Kritzeleien am Rand oder braune Flecken, die sich wie Tintenkleckse auf den Seiten verteilten. Offensichtlich Schäden und Verschmutzungen, überlegte sie, die von der lebhaften Nutzung in vergangenen Tagen kundtun. Sie begann zu kichern, stellte sich einen dicklichen Mönch vor, der bei einem guten Glas Wein und schon ein wenig betrunken, unachtsam über den Lesestoff spuckte. »Dann schon lieber Ratten, die vor lauter Hunger an den Seitenrändern knabbern«, gluckste sie grinsend und spekulierte, dass die Nager nur davon abließen, wenn sie etwas Nahrhafteres als handgeschöpfte Papierseiten fänden.
Sie blätterte weiter, vor und zurück, hin und her. Neugierde lugte vorwitzig aus strahlenden Augen. Die Finger ertasteten respektvoll lebendige Kunstfertigkeit längst verstorbener Ahnen. Und der Text des Buches zeigte sein schönes Federkleid in lateinischer Frakturschrift: Die kunstvoll handgezeichneten Initialen, die ersten Buchstaben eines Kapitels, leuchteten großformatig in bunten Farben, umgeben von grüngoldenem Rankwerk und überreich veredelten Bordüren. Aber auch mitten in den gedruckten Texten zeigten sich eingefügte, bauchig gerundete Großbuchstaben. Diese waren der besseren Lesbarkeit halber schmucklos und in roter Farbe gehalten. Solche Lombarden, das wusste die Wissenschaftlerin, dienten vor allem dazu, textliche Teilstücke inhaltlich besser voneinander abzugrenzen – und oftmals sahen sie sich dabei so ähnlich, als seien sie mit einer speziell angefertigten Schablone gezeichnet.
Gespannt nahm die Doktorin jede neue, mit kunstvollen Wasserzeichen versehene Seite auf. Angesichts der vielen pflanzlichen Illustrationen vermutete sie, eine Abhandlung über mittelalterliche Heilkunde gefunden zu haben. »Nun gut …«, sprach sie zu dem Werk, »du offenbarst zwar nicht die erhofften großen Liebesabenteuer und erotischen Affären, aber vielleicht kann ich deinen kunstvollen Texten ein paar Geheimnisse über heilende Kräuter, obskure Mixturen und vielleicht auch tödliche Gifte entlocken.« Ein schelmisches Lächeln zog über ihr vor Anspannung glühendes Gesicht, während sich die Fantasie ein paar gebildete adlige Damen ausmalte, die das Wissen um die Heilkräfte der Natur pflegten und in weisen Büchern niederschrieben. »Männer …«, sprach die Philosophin leise vor sich hin, »denken bei Kräutern immer an bucklige alte Frauen, die durch Wiesen und Wälder streifen, um allerlei Hexenzeug zu sammeln. Warum bloß?« So recht wusste sie auch keine Antwort. Sie war müde. Gerade wollte sie das Buch wieder zuklappen, als ihr ein bei den hinteren Seiten am Rand angebrachtes Stück Leder ins Auge sprang. Ganz bestimmt ein Blattweiser, dachte sie. Sollte dieser vielleicht eine bestimmte Stelle des Werkes markieren und somit das Auffinden erleichtern? Gespannt schlug sie die gekennzeichneten Seiten auf. Zwischen der Verso, der linken Rückseite, und der Recto, der rechten Vorderseite, fand sie lose hineingelegt eine geheimnisvolle Zeichnung.