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10.

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Entspannt saß der Comisario in einem alten Sessel, der zum Inventar des nicht sehr geräumigen, dafür aber umso gemütlicheren Gasthofzimmers gehörte. Im Dorf schlug die Turmuhr zur letzten Nachmittagsstunde und der Comisario genoss wieder seinen Urlaub. Privat, fernab von allen Ermittlungen, weit weg vom alltäglichen Chaos mit übervorsichtigen Staatsanwälten und höchst sensiblen Richtern. Und auch weit weg von jenen Rechtsverdrehern, die es immer wieder schafften, selbst tonnenschwer erdrückende Beweislasten so leicht von ihren Mandanten zu nehmen, als seien es schneeweiße Federkleider. Morgen würde das Brautpaar in der Dorfkirche einen neuen Versuch starten. Diesmal hoffentlich mit einem lebendigen Priester. Ein nachsichtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Comisarios. Gottes Wege waren eben unerklärlich.

Zugegeben, die am Mittag durchlebten Geschehnisse rund um das alte Pfarrhaus reizten ihn: der unkeusche Priester, die mannstolle Teufelin und deren ruchloses Liebesspiel. Aber andererseits: Was ging ihn ein toter Priester in der Provinz an? Es war Mord, das stand fest, aber darum würden sich die Kollegen kümmern. Gründlich, so unterstellte er wohlwollend. Kein Schlendrian, kein Vertuschen, kein Leugnen, einfach skandalfrei.Wenn sich das bloß bei uns so einfach abspielen würde, sinnierte er seufzend. Aber immer wieder diese geheimen Seilschaften und Schlupflöcher. Man müsste nur … Doch weiter kam er nicht, denn sein Schlafbedürfnis unterbrach rigoros den Versuch, die frei umherschwirrenden Gedanken fortzuspinnen. Die sanften Töne klassischer Musik aus dem antiquierten Radio narkotisierten den müden Körper, lähmten alle Gedanken und öffneten den Raum für angenehme Träume. Das laute Schnarchen des Comisarios konnte man durch die alte Eichenholztür bis in die hintersten Flure des Gasthauses hören. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinem Gesicht: Er war gerne Comisario.

Das Unterbewusstsein nahm die kurze Meldung des Radiosprechers in den Sechsuhrnachrichten nur bruchstückhaft wahr, doch die Wortfetzen reichten vollkommen aus, um das Gehirn des Comisarios instinktiv in Alarmbereitschaft zu versetzten: Sofort kam der für solche Situationen genetisch angelegte und bereits vielfach erprobte biochemische Notfallplan zum Einsatz: In Nanobruchteilen nahmen Neuronen Zugriff auf alle, in unterschiedlichen Zellschubladen gespeicherten Daten über Erinnerungen und Eindrücke, Gefühle und Vorstellungen, suchten nach beruflichen Erfahrungswerten und Begrifflichkeiten. Gesiebt durch den logischen Filter der vorhandenen Worthülsen leiteten sie alle wichtigen Aussagen an ein Heer von Operatoren. Die Gehirnzellen, oft weit verstreut und dennoch intensiv verbunden, arbeiteten unermüdlich und mit Hochdruck, pausenlos. Sie analysierten, beseitigten Barrieren, verschickten mittels Botenstoffen Signale und koordinierten komplexe Abläufe. Mit Unterstützung ausgeklügelter Muster und abstrakter Regeln versuchten sie, die unverständlichen Bruchstücke der Radiomeldung mit dem herausgefilterten Erfahrungsschatz sinnstiftend zu verbinden. Schnell entstand Neues in einem wie automatisch ablaufenden Prozess des inneren Denkens, wurde verworfen, anders kombiniert und neu eingestellt. Rückschlüsse veränderten sich und bestehende Verbindungen gewannen urplötzlich an Bedeutung, bis sich auf einmal alles von Zauberhand zusammenfügte. Die Glocken der Erkenntnis läuteten hell und klar, als der geistige Chefredakteur die Synthese in verständlich kurzen Sätzen veröffentlichte. Ganz vorne, Titelseite der Wahrnehmung, als wäre es eine sensationslüsterne Schlagzeile der Boulevardpresse: Grausame Kreuzigung am Herrgottswinkel. Anschlag durch Terroristen? Opfer noch unbekannt. Der Comisario spürte die mächtigen Klangwellen des Glockenchors. Er war sofort hellwach. Seine Reaktion ließ keine zwei Sekunden auf sich warten. Er griff zum Mobiltelefon in der Jackentasche und wählte die geheime Nummer. Sie ist nur für besondere Fälle gedacht, hatte ihn sein Freund damals instruiert. Und der Freund vertraute ihm. Aber die jetzige Situation stellte einen solchen Anlass dar, ohne jeden Zweifel. Der Comisario musste den Staatsschutz benachrichtigen.

Der Gesprächspartner hörte dem Comisario aufmerksam zu. Seine ganze Konzentration galt den Worten des langjährigen Freundes. Straftaten gegen den Staat empfand er nicht wie manch Politikverdrossener als Kavaliersdelikt und Terrorismusbekämpfung schon gar nicht als spannende Verbrecherjagd – konnte man dies auch jeden Tag im Fernsehen konsumieren. Nein, es ging um die Existenz, die Sicherheit des Staates und die seiner Bürger. Was das anging, kannte er keinen Spaß. Er war ein treuer Diener des Staates. Und er konnte sich darauf verlassen, dass der Comisario nur anrief, wenn es brannte. Wie vor zehn Jahren, als der Comisario im Urlaub einen der meist gesuchten internationalen Terroristen erkannte. In einem kleinen verträumten Dorf. Weit entfernt von der großen Bühne der Weltpolitik.

»Ich habe von der Kreuzigung im Radio gehört.« Der Comisario begann das Gespräch ganz unverbindlich. »Unappetitliche Sache.«

»Wir haben strikte Nachrichtensperre.« Die Antwort des Verfassungsschützers erfolgte knapp und eindeutig. Bei aller Vertrautheit, er wusste Freundschaft und Beruf zu trennen – so gut es eben ging.

»Aber die Presse berichtet von einem Terrorismusverdacht, das haben die doch nicht von ungefähr, oder?« Der Comisario tastete sich weiter an das Thema heran.

»Alles nur Vermutungen. Der Fall ist äußerst kompliziert und mysteriös.« Der Mann am anderen Ende flüsterte in das Mobiltelefon, so als fürchte er, gehört zu werden. »Ich darf dir nichts sagen, mein Freund. Abgesehen davon, dass ich wirklich nicht mehr weiß als das, was du überall hören kannst. Irgendjemand hat einen alten Mann übel zugerichtet und ihn dann ans Kreuz genagelt. Vielleicht eine Racheaktion auf dem Land. Wir warten noch auf die weiteren Laboruntersuchungen.«

»Ich habe etwas für dich«, der Comisario kannte die Spielregeln, »wir sollten uns treffen, möglichst schnell.«

»Wo?«

»Dort, wo viele Leute sind und wir unerkannt bleiben. Es kann ruhig sehr laut sein, dann können wir offen reden. Bloß nicht in der Provinz, da passiert im Moment zu viel.« Der Comisario schmunzelte verkniffen.

»Okay, im Brauhaus zum Fürsten, um neun Uhr.« Der Mann wusste, dass sein Freund ihm nicht die Zeit stehlen würde.

Sie hatten sich eine Weile nicht gesehen, waren beide älter geworden seit jener schon lange zurückliegenden, gemeinsamen Studienzeit: Philosophie und Recht, eine spannende Kombination. Sie verstanden sich noch immer, auch ohne viele Worte. So gegensätzlich ihre Vorgehensweisen auch sein mochten, in der Sache fanden sie immer schnell zur Einigkeit: der Comisario, mehr intuitiv philosophisch handelnd, und sein Freund, der stets sachlich korrekte Jurist, nur das glaubend, was er sah und beweisen konnte – und damit genau das Klischee eines ungläubigen Thomas bedienend. Aber den Comisario störte das nicht. Im Gegenteil, manchmal beneidete er seinen Freund sogar um dessen Gradlinigkeit und Klarheit. Die eigenen Bauchgefühle verursachten leider immer wieder bohrende Qualen, aber er konnte sich auch kein Leben ohne die Gefühle in der Magengegend vorstellen.

»Nun pack mal aus«, fing der Comisario das Gespräch ohne Vorrede an. Er kannte seinen Freund und dessen Abneigung gegen ausartende Geschwätzigkeit. In Fachkreisen wurde er nur Lauscher genannt, nachdem er vor vielen Jahren als hoher Beamter an einer Gesetzesvorlage zur akustischen Wohnraumüberwachung mitwirkte.

»Ohne, dass ich die Ware kenne?« Jetzt sprach der in vielen unangenehmen und kniffligen Verhandlungen gestählte Geheimdienstler.

»Naja, also vielleicht gibt es da einen Zusammenhang.« Der Comisario hasste es, sofort auf den Punkt zu kommen. Ein wenig Vorspiel durfte nicht fehlen, dafür sorgte schon sein Credo als Südländer – Staatsschutz hin oder her.

»Was für ein Zusammenhang? Mach es nicht so spannend.«

»Warum kreuzigt man jemanden?«, setzte der Comisario das Vorspiel unbeirrt fort.

Notgedrungen ließ sich sein Gegenüber auf das Spiel ein: »Vielleicht ein Psychopath?«

»Möglich. Aber es könnte auch etwas Symbolisches bedeuten, oder?« Der Comisario schaute dem Freund mit geheimnisvollem Blick in die Augen und nahm einen kräftigen Schluck Weißbier. Lieber hätte er einen im Eichenfass gereiften Rotwein getrunken. Der Lauscher kannte die Vorlieben des Freundes. Am Ende krachte der Höhepunkt immer mit donnernden Informationen wie ein explodierendes Pulverfass auf den Tisch. Aber dafür musste er ihm ein bisschen Zeit geben, auch wenn Geduld nicht zu seinen Stärken gehörte. »Du meinst mit religiösem Hintergrund?«

»Ja, könnte doch gut sein, aber wer ist der Mann dann?«

»Die Ermittlungen laufen. Wir wollten noch kein Bild des unbekannten Opfers veröffentlichen, bevor uns nicht die Ergebnisse der Obduktion mit den Angaben zur genauen Todesursache und zum Todeszeitpunkt vorliegen. Wenn wir Glück haben, können wir den Ermordeten mittels DNA-Analyse und Biometrie identifizieren. Außerdem sind noch nicht alle Mikrospuren ausgewertet. Erfahrungsgemäß lassen sich immer irgendwelche Textilfasern oder biologische Überreste finden.« Der Lauscher begann, sich in der Ermittlungsakte zu verfangen, konnte aber noch rechtzeitig zurückrudern: »Wir schweifen ab, was wolltest du mir mitteilen?« Die Ungeduld in seiner Stimme bekam leicht bedrohliche Züge. Er wollte das Vorspiel beenden, definitiv.

»Was denkst du, wenn ich sage, dass nicht einmal eine Autostunde von eurem Tatort entfernt ein Priester ermordet wurde?«

Der Beamte pfiff durch die Zähne. »Woher weißt du davon?«, er konnte sein Erstaunen kaum verbergen, während er in großen Schlucken sein Bier trank.

»Ich war da.«

Der Comisario hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ihm eine Fontäne feinster Biergischt direkt ins Gesicht brauste. Der Freund hustete, als würde er den Erstickungstod sterben. Seine Gesichtsfarbe, die kurzzeitig ins Bläuliche wechselte, kehrte erst nach einigen hilfreichen Schlägen des Comisarios auf die Schulterblätter zu einem einigermaßen gesund aussehenden, blassen Rosa zurück.

»Du warst dabei? Bei dem Mord?« Der eben noch ein wenig indisponierte Lauscher fand seine Contenance einigermaßen wieder.

»Nein, ich habe ihn aber gesehen, den Toten«, klärte der Comisario das Missverständnis auf.

»Geht es vielleicht ein wenig klarer, ohne dir jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen?«

Der Comisario wusste, dass jetzt der Punkt gekommen war, die ganze Geschichte zu erzählen: »Ich bin auf der Hochzeit gewesen …« Er berichtete kurz und knapp von den Ereignissen am Mittag. Der Lauscher hörte gespannt zu, dabei jedes Detail in sich aufsaugend, so als sei es der Schlüssel zur Lösung der ihm immer noch unbegreiflichen Kreuzigung.

»Warum hast du nicht auf die Polizei gewartet?«

»Nun, ich …«

»Ich rufe bei der übergeordneten Polizeibehörde an.«

Kein Geplänkel mehr. Die Angelegenheit nahm Fahrt auf, es wurde ernst. Der Beamte tippte auf den Touchscreen seines Smartphones, das eine Nummer wählte. Er tat jetzt das, wofür er ausgebildet war. Klar und strukturiert. Mit der linken Handfläche schirmte er die Sprechmuschel des Mobiltelefons gegen das laute Stimmengewirr in der Gaststätte ab.

Es dauerte eine Weile, bis er das Telefon vom Ohr nahm. Der Comisario schaute ihn erwartungsvoll an. »Die kennen den Fall nicht.« Die ruhige Stimme des Lauschers klang enttäuscht.

Der Comisario spürte die Zweifel des Freundes. Er kannte ihn nur zu gut. »Wird wohl noch nicht bis oben durchgedrungen sein«, versuchte er zu beschwichtigen. »Vermutlich ist die örtliche Kriminalpolizei eingeschaltet.«

»Dann telefoniere ich eben mit der zuständigen Polizeiinspektion.« Der Lauscher zückte erneut das Smartphone, bearbeitete ungeduldig den Touchscreen, mal forsch klickend, mal eher sanft streichelnd, bis er fand, wonach er suchte: »PI 28 ist zuständig«, stellte er fest. »Dort kenne ich sogar jemanden. Ich versuche es.«

Wieder verging einige Zeit, bis der Lauscher das Telefonat beendete. Der Comisario sah an den deutlich genervt zuckenden Augenlidern des Freundes, dass auch dieses Gespräch offensichtlich ohne Erfolg geblieben war.

»Kein Mord, die Kollegen von der örtlichen Polizei und die Kripo haben den Tatort untersucht. Die Ermittler konnten aber nichts Verdächtiges feststellen. Keine Fingerabdrücke, außer denen des Toten, keine sonstigen Spuren. Nichts, was auf eine Fremdeinwirkung oder Gift hinweist. Dein Priester erlag einem ganz normalen Herzinfarkt. Er ist friedlich in seinem Bett gestorben. Der Arzt hat den Totenschein schon ausgestellt und die Leiche zur Beisetzung freigegeben. Das war's dann wohl«, sagte der Lauscher enttäuscht. »Sorry, aber ich muss jetzt gehen.«

»Glaubst du an Zufall?« Der Comisario wurde energisch. »Glaubst du, ich habe meinen Beruf verfehlt? Warum wurde denn für das Blut und die Haare des Priesters keine toxikologische Untersuchung angeordnet?« Die laute Stimme des Comisarios überschlug sich fast vor Erregung. Einige umherstehende Gäste drehten sich bereits neugierig zu den beiden Männern um. Leise, aber nicht minder bestimmt, und den Kopf leicht nach vorne gebeugt, fuhr der Comisario fort: »Ein Priester wird vorsätzlich vergiftet und der Gekreuzigte hängt nicht weit davon?« Er spürte, dass er jetzt in die Offensive gehen musste. »Weißt du, ob die da draußen in der Pfarrei nicht etwas zu verheimlichen haben? Vielleicht kann man sich einen Skandal im katholischen Stammland nicht leisten?« Der Comisario verzog das Gesicht zu einem süffisanten Lächeln. »So schnell, wie die den Fall zu den Akten gelegt haben, in nur wenigen Stunden, das riecht doch schwer nach südländischen Verhältnissen. Oder sind bei euch demnächst vielleicht Wahlen?«

Schweigen. Der Comisario las die Gedanken von der Stirn des Freundes wie von einem ablaufenden Nachrichtenband. Er fühlte, dass die Zweifel nagten, der Lauscher hin und hergerissen war zwischen Intuition und Verstand. Der Comisario sah ihm an, wie er kämpfte. Um ihr gewachsenes Vertrauen, um ihre Freundschaft – und um die Wahrheit.

»Du hast recht, entschuldige meine Zweifel«, unvermittelt sah sich der Comisario einer ungelenken Umarmung ausgesetzt. »Wir sollten der Sache nachgehen. Du weißt aber noch nicht alles … «, der Lauscher machte eine kleine Kunstpause, so als wolle er die Dramaturgie des Falls weiter steigern.

»Wieso?«, fragte der Comisario verdutzt.

»Die Rechtsmedizin hat bei der Leichenschau festgestellt, dass der Gekreuzigte zwei in die Haut eingelassene Monogramme aufwies«, flüsterte der Beamte, während er sich nach allen Seiten umschaute, so als wolle er sich vergewissern, nicht beobachtet zu werden. Er hatte das Gefühl, dass ihn Hunderte grinsende Augenpaare feindselig anstarrten, aber nur das vertraute Gesicht des Freundes lächelte ihm aufmunternd zu, sodass er fortfuhr: »Ein Monogramm tätowiert auf dem rechten Unterarm und das andere mit einem scharfkantigen Gegenstand frisch eingeritzt, direkt über dem Herzen.«

»Abartig. Was bezweckt der Täter damit?« Jetzt blickte der Comisario erstaunt zu seinem Freund, während dieser, ohne weitere Fragen abzuwarten, von den Details berichtete: »Der Tote hat ein blutiges P, gekreuzt mit einem X auf der Brust. Wir können noch nicht sagen, ob es ihm vor oder nach dem Todeszeitpunkt zugefügt wurde. Wir müssen erst noch das Gutachten der forensischen Medizin abwarten.«

»Du meinst das Konstantinkreuz?«, fragte der Comisario mit staunenden Augen. Sein offener Mund schnappte nach frischer, aber in dem stickigen Bräukeller kaum noch vorhandener Luft.

»Wenn das Ding so heißt, auch gut«, antwortete der Lauscher. »Was weißt du denn darüber?« Er hoffte auf einen brauchbaren Hinweis, denn noch immer stand der terroristische Verdacht im Raum.

»Die ersten Christen bezeugten mit dem XP-Monogramm ihren Glauben an den gesalbten Jesus Christus. Es sind die griechischen Anfangsbuchstaben seines Namens«, hastig kritzelte der Comisario das Wort auf einen vor ihm liegenden Bierdeckel: Christos. »Dabei schreibt sich das Chi ausgesprochene griechische Ch wie ein lateinisches X. Und das Rho für R wie das lateinische P. Während der Zeit der Christenverfolgung galt das Chi-Rho als geheimes Erkennungszeichen. Erst viel später hat der zum Christentum übergetretene römische Kaiser Konstantin das Monogramm auf seiner Standarte und den Schilden seiner Soldaten anbringen lassen. Der Legende nach heißt es, der Kaiser habe vor der Entscheidungsschlacht im Kampf um den wahren Glauben einen Traum gehabt, in dem er das Chi-Rho sah und die Worte: In hoc signo vincesin diesem Zeichen siege.« Erneut schrieb der Comisario die lateinischen Worte auf einen Bierdeckel und schaute den Freund mit stolzgeschwellter Brust an. Ein wenig genoss er sein Wissen, ohne überheblich zu werden. Dann sagte er: »Und Konstantin schlug die Feinde des Glaubens mit dem neuen Feldzeichen tatsächlich in die Flucht.«

Der Lauscher trommelte mit den Fingern auf den Stehtisch, an dem er mit dem Comisario nun schon seit geraumer Zeit verweilte. »Alles ziemlich symbolträchtig«, dachte er laut. »Also entweder hasst der Täter Christen, das würde zu der Christenverfolgung passen …«

»… oder er will uns zeigen, wie man einen Feind in die Flucht schlägt«, ergänzte der Comisario. »Vielleicht will er uns aber auch sagen, dass Opfer und Täter zu ein und derselben Glaubensgemeinschaft gehören.« Sein Freund nickte zustimmend mit dem Kopf. »Wenn wir wissen, wer das Opfer ist, erschließt sich uns möglicherweise auch der Täterkreis.«

»Und aus welchen Buchstaben bestand das andere Monogramm, das Tattoo auf dem Unterarm?«, fragte der Comisario unvermittelt.

»Oh, fast hätte ich es vergessen: ein Alpha und ein Omega.«

»Ah …«, entfuhr es dem Comisario, »ein weiteres typisches Christussymbol. Das Zeichen ist tatsächlich häufig in Verbindung mit dem Konstantinkreuz zu sehen.« Er nahm wieder Witterung auf, wie ein erfahrener Jagdhund bei der Fuchshatz. Sein Magen rumorte. »In der Offenbarung des Apostels Johannes sagt Jesus: Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.« Der Comisario machte eine kurze Pause, atmete einmal kurz durch, um dann weiter zu erklären: »Es könnte der Hinweis auf eine religiöse Sekte oder einen Priester sein.« Dann schüttelte er mit dem Kopf, so als wolle dies verneinen: »Warum nur werden zwei Priester unweit voneinander entfernt fast gleichzeitig ermordet?«

»Aufgefallen ist der Wagen«, entfuhr es dem Lauscher.

»Wie bitte?« Der Comisario konnte den abrupten Gedankensprung des Freundes nicht nachvollziehen. »Was für ein Wagen?«

»So ein verchromter Spider, den man nicht alle Tage sieht.« Die Augen des Lauschers leuchteten für einen kurzen Augenblick hell auf. »Der Wagen lag im Straßengraben. Totalschaden, vielleicht ein Unfall. Aber eher wohl brutal vom Weg gedrängt. Und die Nummernschilder fehlten beide. Es sieht aus, als habe sich einer etwas dabei gedacht.« Der Lauscher führte die bekannten Details sachlich weiter auf und schilderte das Vorgehen der Kollegen: »Eine Hundertschaft der Landespolizei kämmt sich durch das abgesperrte Tatortgebiet. Bestimmt finden die noch brauchbare Hinweise oder Materialien für die Forensik.«

Just in diesem Moment klingelte das Handy des Lauschers. »Es ist ein Kollege vom Staatsschutz«, raunte er dem Comisario zu, während er die Sprechmuschel fest mit der Hand abdeckte, sodass der Gesprächspartner seine Worte zunächst nicht hören konnte. »Gleich wissen wir mehr.« Dann nahm er das Gespräch auf.

Trotz des schummrigen Lichts in dem fensterlosen Gewölbekeller bemerkte der Comisario sofort die Veränderung des Freundes. Dessen Wangentönung wechselte im steten Rhythmus wie bei einem eingeschlagenen Alarmmelder, der unaufhörlich blinkt. Der Lauscher wirkte unruhig, tippelte mit den Füßen, wie ein nervöses Rennpferd in der Startbox. Er atmete tief ein, ohne dass die Lungen jedoch besonderen Gefallen an der verbrauchten Luft fanden. Schließlich stammelte er fassungslos: »Sie haben ihn identifiziert. Er war ein hoher Beamter des Heiligen Stuhls.«

Danach herrschte Stille. Obwohl die beiden Männer mitten in dem mit schwätzenden und feiernden Menschen überfüllten Gastraum standen, erfüllte sie ein Gefühl der ohnmächtigen Leere, der aufrichtigen Betroffenheit. Und doch arbeiteten ihre Gehirne hinter den Kulissen des Wahrnehmbaren intensiv, hoch konzentriert und sich der Gefährlichkeit der Situation voll bewusst.

Der Comisario überwand als Erster die Schockstarre. »Woher wisst ihr das?«

Der Lauscher brauchte noch ein paar Pendelschläge Zeit, um die Fassung wiederzugewinnen. Sein Gesicht schimmerte fahl, kaum mehr wahrnehmbar im Nebel der stickigen, aus Hunderten von Hälsen herausgepusteten Luft. »Das spielt keine Rolle.« Langsam kehrte Leben in den Staatsschützer zurück. »Du kannst dir nicht vorstellen, was auf diplomatischer Ebene los ist.« Er schnappte nach Luft. Jetzt gäbe er ein Vermögen dafür, irgendwo in den Bergen auf einer einsamen Almhütte zu sein, die beeindruckende Weite des Landes zu genießen, die überwältigende Würze der Luft zu schmecken, den einzigartigen Zauber des Lebens zu spüren. Aber die Realität ließ ihn nicht los, weshalb er schnaubend fortfuhr: »Ein hoher kirchlicher Würdenträger, bei uns im Land ans Kreuz genagelt. Hast du eine Ahnung, was das heißt?«

Der Comisario schüttelte nur kurz den Kopf und zuckte mit den Achseln.

»Es ist wie im Hühnerhaufen, überall Hektik, die Telefone glühen, an jedem Ende hochrote Köpfe«, die Stimme des Lauschers überschlug sich, nur mit Mühe behielt er die Beherrschung. »Das Feuer lodert. Manchem kommt es zur rechten Zeit und mancher facht es gar weiter an, bis alles in Flammen steht.«

Wieder versuchte der Comisario, die aufgeladene Situation, den Sturm der Emotionen, durch eine sachliche Frage zu besänftigen: »Weiß man schon etwas über den Todeszeitpunkt?«

»Vermutlich nach Mitternacht, mehr ist noch nicht bekannt.«

»Aber was hat er in der Gegend gemacht, vor allem um die Uhrzeit?«

»Soweit wir feststellen konnten, ist er dort geboren.« Der Lauscher nahm die Nachfrage dankbar auf, musste er sich dadurch doch zwingen, wieder zu den kritischen Punkten des Falles zurückzukehren. »Vielleicht hat er jemanden besucht. Wir prüfen gerade, ob er Verwandte hat.«

»Aber wer bringt ihn dann um?«, fragte der Comisario mit lauter Stimme, dabei vergessend, dass er sich in einem prall gefüllten Brauhauskeller und nicht in seinen Diensträumen befand. »Raubmord scheidet wohl aus, die Arbeit, den Ausgeraubten danach ans Kreuz zu nageln, macht sich doch keiner«, fügte er mit leiser Ironie hinzu.

»Sag ich doch. Es ist politisch motiviert.« Der Lauscher war etwas zu laut geworden und für einen kurzen Augenblick zog er die mitleidigen Blicke einiger Umstehender auf sich. Politische Spinner gab es immer wieder im Gasthof. Was die sagten, interessierte keinen. Nur wie die Leute aussahen, das wollte man wissen. Immer glaubend, man könne Luzifer anmerken, dass er der Satan ist – wenn man ihm denn begegnet.

»Weiß man schon, welche Funktion er innehatte?«, hakte der Comisario nach.

»Er soll einer der engsten Vertrauten des Chefs gewesen sein.« Jetzt flüsterte der Lauscher wieder.

»Des Pontifex?« Hundert Fragezeichen standen auf der Stirn des Comisarios.

»Ja.«

»Angeblich soll es doch vor drei, vier Wochen in der Josefstadt auf höchster Ebene ein geheimes Treffen zwischen der Kurie und den Ungläubigen gegeben haben«, fuhr der Comisario mehr feststellend als fragend fort. »Und die Josefstadt Ist ja gar nicht so weit weg von hier.«

»Woher weißt du das mit der Josefstadt?« Jetzt war der Nachrichtendienstler hellwach, wobei er den abschätzigen Tonfall des Freundes hinsichtlich der Ungläubigen geflissentlich überhörte – schließlich war er selbst bekennender Atheist. Unbeeindruckt fuhr er deshalb fort, nachzuforschen: »Von diesem Termin ist niemals in der Öffentlichkeit berichtet worden. Er wurde streng geheim gehalten.«

»Ich habe Kontakte.« Der Comisario schmunzelte, ohne weiter darauf einzugehen.

Sein Freund wusste, dass es sinnlos war, nachzufragen. Deshalb sagte er: »Wir ermitteln in alle Richtungen, schon möglich, dass es einen Zusammenhang gibt.«

»Das würde aber bedeuten, dass der Mörder aus den eigenen Reihen kommt.« Der Comisario hörte seinen Magen immer lauter toben. Ihm war zumute, als habe er die Büchse der Pandora geöffnet – jenen irdenen Krug, aus dem die von Göttervater Zeus aus Lehm geformte Frau dereinst das Unheil, mit allen Lastern und allem Elend, über die Welt ergoss.

»Pah, das ist reine Spekulation. Derzeit schwer zu greifen«, antwortete der Lauscher ein wenig ungehalten. »Aber es wäre wie Landesverrat.«

»Ist Europol eingeschaltet?«, wollte der Comisario wissen, obwohl er die Antwort des Freundes schon ahnte.

»Nein, noch nicht. Das Opfer ist nicht Staatsbürger unseres Landes, das macht die Sache nicht einfacher. Jetzt ist Diplomatie gefragt.« Der Lauscher rollte mit den Augen. »Was glaubst du, was hier los ist, wenn die Presse davon Wind bekommt. Wir werden es totschweigen müssen. Heute, morgen, für alle Zeit.«

»Von mir erfährt niemand etwas, ich weiß von nichts.« Der Comisario lächelte, wieder spürte er den mahnenden Bauch. Aber er unterließ es, dem Freund von der Pfarrhelferin und den seltsamen Hinweis auf die vermeintliche Teufelin zu erzählen. Der Lauscher handelte zu sehr als Beamter. Er würde es nicht verstehen und die Frau für verrückt erklären. So, wie es die Kriminalbeamten vor Ort vermutlich auch getan hatten. Kurz schweiften die Gedanken des Comisarios ab. Er dachte an die düsteren Kapitel der Hexenverfolgung. Damals hätte man die Frau mit Sicherheit grausam gequält und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Rosenwolke und die Formel der Welt

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