Читать книгу Rosenwolke und die Formel der Welt - Cort Eckwind - Страница 21
14.
Оглавление»Mit einem Experiment? Wie meint Ihr das?« Der Medicus schaute den Alten stirnrunzelnd an.
»Wir erkunden Gottes Willen und die göttliche Ordnung«, antwortete der Greis mit ermattender Stimme.
»Gottes Willen erkunden?« Der Medicus klang besorgt, fragte aber neugierig nach: »Wie wollt Ihr das anstellen?«
»Wir stoßen die Dinge an, lassen sie frei schwingen in der Welt und schauen, ob sie wieder zu ihrem anfänglichen Zustand zurückkehren. Damit wäre die göttliche Ordnung bewiesen.«
Obschon die leise gesprochenen Worte des Alten ganz einfach klangen, waren sie dem Medicus völlig unverständlich. Er zweifelte am wachen Verstand des alten Mannes. Die Vernunft als Mediziner riet ihm, den todgeweihten Greis nicht mit weiterer Fragelust der letzten Kräfte zu berauben. Aber der eigene Wissensdurst hinderte ihn daran, von den Lippen des Alten abzulassen. Deshalb nahm er den Disput erneut auf: »Verzeiht, aber Ihr sprecht in Rätseln.«
»Das tue ich gelegentlich gerne«, antwortete der Alte amüsiert. Er schien neue Kräfte zu schöpfen und war weit davon entfernt, dem Fährmann zwischen den Welten in dessen Boot zu folgen. Stattdessen sagte er: »Drei Sachen aus diesem Raum, verwoben miteinander, vergeben an drei verschiedene Personen – keiner weiß von dem anderen, jeder und jedes geht in seine Richtung, alles weist auf das Geheimnis der ewigen Schönheit hin und alles wird zurückkehren an diesen Ort, zurück in die göttliche Ordnung. Denn kein Ding, kein Wesen geht ins Nichts. Alles führt zu Gott, dem ewigen Herrscher.«
Ein kalter Schauer überfuhr den Medicus, als er die Worte vernahm, mit denen der Greis an den Grundfesten aller herrschenden philosophischen und theologischen Erkenntnisse rüttelte. Er ahnte nur zu gut, worauf der alte Mann hinauswollte, wagte dies aber zunächst nicht auszusprechen. Doch nach einem tiefen Atemzug fasste er sich ein Herz, denn auch sein Geist trachtete nach der letzten, urgewaltigen Erleuchtung des Menschen: »Ihr meint einen Gottesbeweis?« Die Stimme des Medicus überschlug sich vor Aufregung, atemlos fragte er nach: »Ihr wollt tatsächlich die Existenz Gottes beweisen?«
»Ja.« Klar und ohne zu zögern erfolgte die Antwort des Greises. »Jedes der drei Dinge wird von hier aus getrennte Wege gehen, von Hand zu Hand, von Ort zu Ort, ohne voneinander zu wissen und doch mit dem unendlichen Drang, sich wieder zu vereinen. Alle Bewegungen, frei und unabhängig voneinander, bei günstigen und ungünstigen Verhältnissen, haben am Ende nur ein Ziel, nämlich der göttlichen Ordnung zu folgen, die direkt zu Gott und seinem Willen führt.«
»Aber verzeiht …«, entgegnete der Medicus, der die philosophische Ebene der Erkenntnis verlassen wollte, um sich in die praktische Verwirklichung des Gesagten hineinzuversetzen. »Wie wollt Ihr das Experiment durchführen? Und wann wird es bei wem von uns beiden enden?« Die Realität des Machbaren hatte den Medicus eingefangen. Und die Vertrautheit mit den Gebrechen des Alters ließ ihn wissen, dass der alte Mann die nächsten vier Wochen nicht überleben würde. Ein Experiment von dieser zeitlichen Dimension machte daher überhaupt keinen Sinn.
Doch als könne er die Gedanken des Medicus lesen, antwortete der Greis: »Es wird Jahre, Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte dauern, bis alle Gegenstände wieder vereint sind. Ich befürchte, wir beide werden das Ende nicht mehr erleben.« Sein Gesichtsausdruck drückte ein leichtes Bedauern aus. »Jedoch andere, lange nach uns, werden unser Experiment beenden.«
Die Antwort verblüffte den Medicus vollends. Erneut schwankte er zwischen wissenschaftlicher Neugierde und den Verpflichtungen als Arzt gegenüber einem dem Lebensende nahen Menschen. Augen und Mund des alten Mannes waren weit aufgerissen. Der Greis rang nach Luft, keuchte schwer, das Gesicht war blutrot vor Aufregung; alles in ihm drohte zusammenzubrechen.
Die Anstrengungen sind viel zu groß, der Körper zu schwach; er braucht dringend Ruhe , rief erneut mahnend das ärztliche Gewissen des Medicus.
Aber Gewissen und Verstand unterschätzten den unbändigen Willen und die Schlauheit des Alten, der heiser krächzte: »Ihr seid besorgt um mich, nicht wahr? Ihr glaubt, es sind alles nur die wirren Hirngespinste eines alten, kranken Mannes, angestachelt von der eigenen Eitelkeit. Ich sehe Euch Eure Zweifel ins Gesicht geschrieben, guter Freund. Ich bin Euch überaus dankbar für Eure Fürsorge. Aber ich bin bei klarem Verstand und habe alles genau geplant. Lasst uns deshalb keine Zeit verlieren und mit dem Experiment beginnen. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass der Sensenmann nicht ewig wartet.«
»Ihr habt es geplant?« Der Medicus konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
»Ja, ich habe Gott vertraut, dass Ihr kommt und meine Gedanken Euch fesseln werden.« Die Worte des Alten zauberten ein Lächeln in sein müdes Gesicht, als ob sich eine allerletzte Tür öffne.
Der Medicus starrte den Alten mit offenem Mund an. Er bewunderte ihn für seinen Mut, seine Weisheit und seinen urgewaltigen Willen. Ein wenig verschämt dachte er an die eigenen Überlegungen zu den Gestirnen am Firmament und deren Himmelsbahnen. Vielleicht klangen diese nicht so bahnbrechend, wie die Gedanken des alten Mannes – aber wenn die rechte Zeit käme, würde er aller Welt kundtun, was er über die Ordnung der Planeten dachte. War diese Ordnung nicht auch göttlich? Hatte nicht auch er somit das Göttliche, das Ewige gefunden? Voller Hochachtung für das Genie, aber doch kritisch genug, um den Greis zu hinterfragen, holte der Medicus seine Gedanken zurück: »Wie können andere Kenntnis von Eurem Experiment erlangen? Und wie wollt Ihr verhindern, dass eines der Dinge nicht verloren geht oder durch Kriegswirren zerstört wird?«
Die Antwort des Alten erfolgte ebenso praktisch wie schlau: »Ich habe verschlüsselte Hinweise aufgeschrieben. Seht Ihr die Schatulle dort?« Er zeigte auf eine größere Nische in der Wand. »Das Kästchen ist eines der drei besagten Gegenstände. Gott wird es beschützen.«
Der Medicus ahnte, dass der alte Mann keinen Widerspruch duldete. Erwartungsvoll näherte er sich der im Schatten des Lichts liegenden Wandnische, die ein rechteckiges Kästchen aus Nussholz beheimatete. Er nahm die Schatulle vorsichtig in die Hände: Ein meisterliches Kunstwerk, belegt mit Intarsien aus feinstem Ebenholz und reich dekoriert mit umlaufenden, säulenartigen Elfenbeinschnitzereien. Der vierstufige Aufbau des Kästchens glich einem herrschaftlichen Haus. Auf dem vortretenden Sockel erblickte der Medicus einen prachtvollen Unterbau, darüber das pyramidenförmig abgeschrägte Dach. Es stand leicht über und gestaltete sich in Form einer Treppe. Obenauf ruhte ein flacher Deckelaufsatz als krönender Abschluss. »Trägt die Schatulle auch eine Botschaft in sich?«, fragte er gespannt.
»Ja«, antwortete der Alte geheimnisvoll. »Findet Ihr die versteckten Hohlräume?«
Der Medicus drehte das Kästchen in den Händen, betrachtete es von allen Seiten, konnte aber kein Schloss ausmachen. »Es lässt sich nicht öffnen«, erwiderte er enttäuscht.
»Ihr müsst die beiden verborgenen Druckknöpfe zwischen den Figurensäulen finden, dann könnt Ihr mit dem Deckel das Dach und alsdann den Unterbau öffnen, sodass die verborgenen Hohlräume einsehbar werden.«
Erwartungsvoll hantierte der Medicus mit dem Zeigefinger an den Elfenbeinschnitzereien, aber nichts bewegte sich. Vielleicht bin ich zu ungeschickt, dachte er, aber womöglich ist auch mein Finger zu dick. Er sah sich nach einem spitzen Gegenstand um und entdeckte auf dem großen Eichentisch ein metallenes Miniaturschwert, das der Alte wohl hin und wieder zum Öffnen von Briefen benutzte. »Dann sollte es sich auch zum Öffnen der Schatulle eignen«, murmelte der Medicus und stocherte mit der Spitze der Klinge zwischen den Schnitzereien, bis mit einem klackenden Geräusch das Schloss des Daches Einlass gewährte. Nach ein paar weiteren Versuchen sprang auch der zweite Verschluss widerstandslos auf. »Wohl habe ich die Hohlräume freigelegt, aber ich sehe keine Hinweise«, die Stimme des Medicus drückte Ernüchterung aus. »Nur zwei dünne Kupferplatten, jede für sich mit Schafswolle umwickelt.«
»Schaut genau hin«, der Greis blickte den Medicus listig an. »Ich habe zwei geschliffene und glatt polierte Kupferplatten herstellen und die Buchstaben mittels einer auf dem Metall aufgetragenen Wachsschicht seitenverkehrt übertragen lassen. Ein Kupferstecher hat die Schriftzeichen dann mit einem Grabstichel eingeritzt.« Der alte Mann machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Erwärmt man die Platten und bestreicht sie mit schwärzester Farbe, so verteilt sich das feinflüssige Schwarz in die kleinsten Ritzen und Vertiefungen der Gravur. Ist alles verfüllt, wird der ebene Teil der Platte wieder spiegelblank geputzt. Für einen Kupferstich bedarf es dann nur noch einer starken Presse und etwas angefeuchteten Papiers, welches die Farbe wieder aus den Vertiefungen aufsaugt und als schwarze Striche, Linien oder auch ganze Strukturen auf dem blütenweißen Bogen abbildet.« Der alte Mann keuchte schwer ob der Last der vielen Worte. Sein Atem rasselte, wie die Ketten Hunderter Gefangener.
»Da ich kein Kupferstecher bin, nicht spiegelverkehrt lesen kann und weder eine Presse noch Papier zur Hand habe, müsst Ihr mir helfen. Was habt Ihr denn eingravieren lassen und in welcher Sprache?«, fragte der Medicus ungeduldig.
»Es ist meine Muttersprache«, antwortete der Greis und gab mit aufblitzenden Augen und geheimnisvollem Lächeln preis, was auf der einen der beiden Kupferplatten geschrieben stand: »Gottes Ordnung ist festgehalten im Buch der unendlichen Ornamente.«
»Und auf der anderen?«, fragte der Medicus, ohne dass er den Sinn der niedergeschriebenen Worte begriff.
Stolzerfüllt und ohne zu zögern, gab der Alte Antwort: »Trinitas geht ihren eigenen Weg.« Der Greis machte eine kurze Atempause und röchelte, weil die Worte ihm kaum Luft zum Atmen ließen. Dann bat er seinen Besucher: »Nehmt dieses Kästchen in Euren Besitz und verschenkt es an den ersten Besten, ohne jedoch das Geheimnis preiszugeben. Damit wäre ein Schritt des Experiments getan.«
Obwohl dem Medicus die Gedankengänge des alten Mannes und die geheimnisvoll klingenden Hinweise immer mysteriöser vorkamen, forschte er dennoch nach den anderen Gegenständen: »Und welches Ding soll sich als Nächstes mit Eurem Experiment vereinen?«
»Nehmt das Beutelbuch«, sagte der Alte mit inzwischen matter Stimme. »Knüpft es an den Gürtel und gebt es auf Eurer Rückreise sogleich in fremde Hände. Aber schreibt zuvor mit dem Silberstift noch einen Hinweis auf das letzte Blatt.«
»Welchen Hinweis?«, erkundigte sich der Medicus begriffsstutzig.
Der Greis wirkte unendlich müde, die Augen schauten glasig, die Kräfte schienen ihn nun endgültig zu verlassen. Leise und nur noch mit größter Mühe kamen die Worte über die blassen Lippen: »Nun ja, vielleicht einen Gedanken zum Mittelpunkt des Universums, über Eure Sonne.«
Der Medicus verstand. Erwartungsvoll griff er noch einmal nach dem Buch mit den wunderschönen, kreisförmigen Ornamenten und schlug die letzte Seite auf. Dort stand mit zittriger, fast eiliger Schrift, aber dennoch gut lesbar, weil diesmal nicht in Spiegelschrift: In der göttlichen Ordnung ist alles miteinander verwoben und Trinitas wird dereinst zurückkehren an ihren Ort. Der Medicus stutzte. Er wunderte sich, dass der alte Mann auch in dieser geheimnisvollen Botschaft das gleiche lateinische Wort wie zuvor bei den Gravuren benutzte: Trinitas – diesmal im Text sogar noch hervorgehoben durch deutlich größere Buchstaben. Auch wenn ihm die Bedeutung des Wortes geläufig war, so passte dieses augenscheinlich so gar nicht zu dem muttersprachlichen Text. Er nahm sich vor, diesem Rätsel später nachzugehen und tat zunächst so, wie ihn der Alte geheißen hatte. Sich eines der auf dem Holztisch liegenden Silberstifte bedienend, schrieb er mit den Worten der ihm vertrauten, lateinischen Sprache in das Buch: In medio vero omnium residet Sol. Ita profecto tamquam in solio regali Sol residens circumagentem gubernat astrorum familiam.
Es war gesagt. Was den Medicus schon seit Längerem bewegte, hier fasste er sein Denkgebäude in Worte – bekundet mit dem Jahr des Herrn. Doch nicht er und das neue Weltbild standen an diesem Tag im Vordergrund, sondern der alte Mann und dessen genialer Gottesbeweis, nach dem bereits Generationen vergeblich suchten. Deshalb fragte er den schon Dahindämmernden sogleich voller Neugier: »Und wo ist nun der letzte, dritte Gegenstand?« Er musste den alten Mann nochmals quälen, es gab kein Zurück mehr.
»Bei mir« Ganz schwach, mit kaum noch hörbarer Stimme, ermattet von den Anstrengungen des Geistes, antwortete der dem Tod Geweihte: »Aber ich werde ihn nicht verraten.« Mit letzter Kraft quollen die Worte aus seinem wie versteinert wirkenden Mund. »Alles geht seinen eigenen, göttlichen Weg, verzeiht mir.«
Noch bevor der Medicus etwas erwidern konnte, schlief der Greis ein, übermannt von den Strapazen der Unterhaltung. Im Nu war ein leises Schnarchen zu vernehmen und dem Medicus sagte die Erfahrung, es würde Stunden dauern, bis der Alte wieder aufwachte. Er konnte nichts mehr für ihn tun. Und so blieb ihm nur, dessen Wünsche über die Weitergabe der Schatulle und des Beutelbuches möglichst bald zu erfüllen. Er schnallte das Beutelbuch an seinen ledernen Gürtel, nahm das Kästchen wie befohlen, zog sich den Mantel über und rief den treuen Diener. Dieser würde schon dafür sorgen, dass es dem Greis an nichts mangelte.
Eine seltsam düstere Stimmung des Aufbruchs lag in der Luft – eines Aufbruchs in neue Welten, in neue Zeiten. Der Medicus wusste, dass dem greisen Genius nur noch wenige irdische Tage blieben. Tiefe Traurigkeit umgab ihn, als er voller Ehrfurcht einen letzten Blick hinüber zur Schlafstätte des Alten warf. Nicht mehr lange, und sie wird zur Totenstätte, dachte er. Ein paar Tränen flossen über seine Wangen. Nie wieder würde die Welt einen so begnadeten Schöpfergeist gebären. Dann verließ er das Landhaus auf dem Weg, den er gekommen war. Nie wieder würde er hierhin zurückkehren.
Während der Heimreise entlang der Handelsstraßen machte der Medicus immer wieder Rast in größeren Ortschaften. Dort fand er Gasthäuser, die nicht nur die Beherbergung und einem Unterstand für die Pferde, sondern auch eine warme Mahlzeit boten. Man schlief in einfachen Kammern, in denen oftmals eine Reihe von Betten standen, die sich zwei, drei oder mehr Reisende teilten. Zum Bettzeug gehörte neben einem Strohsack zum Draufliegen noch ein einfaches Leinenlaken sowie eine vor größerer Kälte schützende Wolldecke. Man schlief nackt, schwitzte im Sommer gemeinsam und wärmte sich im Winter Seite an Seite. Denn nur die höheren, adligen Herrschaften konnten es sich leisten, ganze Herbergen zu mieten und nach eigenen Wünschen einzurichten.
Und so traf der Medicus auch allerlei Reisende: Gesellen auf Wanderschaft, Pilger, Gelehrte und Studenten, etliche Kaufleute, Hausierer und Handwerker. Auch fahrendes Volk, wie Spielleute mit Flöten und Dudelsäcken, Tänzer, Akrobaten, Bärenführer und Zauberer. Aber er begegnete ebenso Menschen aus der Umgebung: Schankknechten, ortskundigen Dolmetschern und Fremdenführern, Kutschern und Pferdeknechten. Und immer wieder Künstlern aus der Stadt, wie Lautenspielern, Wahrsagern, Possenreißern, Feuerschluckern und Geschichtenerzählern, die ein wenig für Kurzweil und Unterhaltung an den langen Abenden sorgten. Und natürlich fehlten bei so viel Trubel nicht die Würfelspieler, die das weltliche Glück bezwingen wollten, sowie die leicht bekleideten, vollbusigen Mädchen, die zu mancherlei fleischlichen Genüssen und anderen Glücksgefühlen verführten.
Das Beutelbuch verschenkte der Medicus an eine Dirne, die Schatulle an einen Pferdeknecht. Er war sicher, beide wussten den Wert der Gegenstände nicht zu schätzen. Die Dinge würden verloren gehen, für immer. Und die Prophezeiung des Alten würde sich nicht erfüllen, das Experiment scheitern. Und doch, es blieb ein letzter Zweifel. Sein Glaube wankte, argwöhnte, die Dinge könnten schon verloren gehen, bevor das Experiment des greisen Mannes erst recht begann. So entschied er sich, alles aufzuschreiben. Rasch tränkte seine Feder ein faseriges, aus Leinenlumpen handgeschöpftes Stück Papier. Solcherart Hilfsmittel zum Aufschreiben eigener Gedanken trug er immer bei sich, bewahrten diese doch so manche unverhoffte Eingebung vor dem unwiderruflichen Untergang. Er nannte die Notiz Argumentum pro Existentia Dei – Beweis Gottes. Ausführlich, aber sachlich schlicht, hielt er in lateinischer Sprache Namen und Gesundheit sowie die Worte und Gedanken des Greises fest. Abschließend datierte er das Schriftstück und versah es mit seinem Monogramm.
Sodann fertigte er fein säuberlich eine Abschrift an, auch wenn es ihn einige Zeit und Mühe kostete. Die beiden Dokumente, die im Innersten beiläufig voneinander sprachen, adressierte er mit: Ad Reverendum et Sanctum Dominum – an den ehrwürdigen und heiligen Herrn. Eines gab er dem örtlichen Pfarrer, das andere einem weit gereisten und wagemutigen Tuchhändler. Sodann bat er beide, die Niederschriften den mächtigsten Fürsten der Welt zu übergeben.
Schon wollte er wieder aufbrechen, als die Macht des Unsichtbaren ihn antrieb, ein weiteres Zeugnis der Geschehnisse und des Experiments zum Beweis Gottes zu fertigen. Auch dieses dritte, für den Diener des alten Mannes bestimmte Dokument trug Signatur und Datum. Dann fügte er noch einen kleinen, fast unbedeutend erscheinenden Hinweis auf die beiden anderen, getrennt voneinander versandten und doch so geschwisterlich klingenden Schreiben hinzu. Er vertraute das Zeugnis einem ehrlichen Kaufmann an, der sich für ein paar Silbermünzen bereit erklärte, die Botschaft auf seinem Weg von Marktplatz zu Marktplatz, von Burgfeste zu Burgfeste, am Wohnsitz des Greisen persönlich zu übergeben.
»Das treue Faktotum wird schon wissen, was damit zu tun ist«, murmelte der Medicus, als er die gastliche Ortschaft verließ. Erst sehr viel später erfuhr er von der wundersamen Fügung, dass die Datierung der Schriftstücke und die von Gott dem Herrn auserkorene, den Greis erlösende Todesstunde, auf ein und denselben Tag fielen.