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1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement

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Zum Zwecke der Selbstoptimierung werden immer stärker auch die ständig erweiterten und präziseren Verbesserungsmöglichkeiten der Medizin nachgefragt. Parallel zum Selbstoptimierungstrend wird infolgedessen auch ein Gestaltwandel im traditionellen Grundverständnis der Medizin hin zu einer wunscherfüllenden MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative diagnostiziert (vgl. KettnerKettner, Matthias, 81f./Junker u.a., 66f.): Während die traditionelle Medizin wesentlich kurativ war und der Heilung und Prävention von Krankheiten diente, werden medizinische Verfahren in der modernen Medizin zunehmend zur Erfüllung individueller Wünsche nach Vitalität, Lifestyle, Lebensplanung, Verschönerung des Körpers und Optimierung der normalen Funktionsfähigkeiten eingesetzt. Traditionell war die Medizin am Krankheitsbegriff orientiert und konzentrierte sich auf die Pathogenese als Entstehung von Krankheiten, wohingegen Gesundheit negativ als Abwesenheit von Krankheit definiert wurde. Im Gegensatz dazu wendet sich die wunscherfüllende MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative der Gesundheit als einer positiven und beliebig steigerbaren komplexen „soziobiologischen Qualität“ zu und kümmert sich um die Salutogenese, d.h. die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (vgl. KettnerKettner, Matthias, 86). Zu diesen tiefgreifenden Strukturveränderungen gehört auch ein grundlegender Wandel im Rollenverständnis und in der wechselseitigen Beziehung von Arzt und Patient: An die Stelle des zu behandelnden Patienten als einem bedürftigen, kranken oder krankheitsgefährdeten Menschen in der kurativen Medizin tritt im Rahmen der wunscherfüllenden Medizin ein gesunder und autonomer Klient oder Kunde, der eine von ihm gewünschte individualisierte Dienstleistung nachfragt. In seiner traditionellen Rolle beurteilt der Arzt mit objektivem Blick und nach etablierten Kriterien die Indikation, d.h. die Behandlungsbedürftigkeit des Patienten und übernimmt die Verantwortung für die allenfalls einzuleitende angemessene Therapie. Im neuen wunschorientierten Modell wird das Angebot hingegen nicht durch den Arzt mit seinem medizinischen Wissen und Können gesteuert, sondern letztlich durch die Nachfrage der Klienten (vgl. ebd., 87). Im Verlauf des Paradigmenwechsels in der Medizin gewinnt somit die Patientenautonomie gegenüber dem ärztlichen Paternalismus an Bedeutung, und es kommt zu einer Deregulierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems. Aufgrund der dabei vorwiegend zum Einsatz kommenden biomedizinischen Methoden ist die wunscherfüllende Medizin zu einem großen Teil Enhancement-MedizinMedizinEnhancement-. Zur wunscherfüllenden Medizin zählen außerdem noch die gegen die „Schulmedizin“ gerichtete „Komplementär“- oder „Alternativmedizin“ mit einem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff und die von den Kunden selbst zu zahlenden, medizinisch sinnvollen, aber nicht notwendigen „individualvertraglichen Gesundheitsleistungen (IGeL)“ (vgl. KettnerKettner, Matthias, 84ff./Junker u.a., 64f.).

Da die geschilderten medizinischen Strukturveränderungen in komplexe kulturelle Prozesse wie politische Programme zur Förderung medizinischer Forschung und Entwicklung, soziale Gesundheitssysteme und gesellschaftliche Hintergrundannahmen von Gesundheit und Krankheit eingebettet sind, bedarf es öffentlicher ethischer Diskurse über den Wandel im Grundverständnis der Medizin. Denn im Wettbewerb um Mitglieder geraten beispielsweise die Krankenkassen zunehmend unter Druck, über die kurativen Maßnahmen hinaus entsprechend der Wünsche der Kunden auch alternative und medizinisch nicht indizierte Leistungen anzubieten. Indem Ärzte von heilenden Versorgern zu medizinischen Dienstleistern und Helfern individueller Wunscherfüllung mit ganz neuen Einkommensmöglichkeiten werden und die Kunden die gewünschten Gesundheitsleistungen selbst zahlen, droht Gesundheit zu einem Konsumgut im freien Wettbewerb der kapitalistischen MarktwirtschaftGesundheitssystem, marktliberales (Präferenz-Effizienz-Modell) zu werden. Entgegen weit verbreiteter impliziter Unterstellungen ist der neue medizinische Leitbegriff einer präferenzorientierten Dienstleistung keineswegs „wertneutral“, sondern muss kritisch reflektiert werden (vgl. MaioMaio, Giovanni 2006, 340). Befürchtet wird von Skeptikern eine problematische Verschiebung im ärztlichen Ethos von der traditionellen altruistischen „Humanität des Arztes“ zur „Egozentrik des ‚Patienten‘“ (Eberbach, 13). Ärzte und Kliniken könnten sich statt an Werten wie Gemeinwohl und Volksgesundheit bzw. an einem allgemeinmenschlichen Recht auf Gesundheit immer mehr an ökonomischen Eigeninteressen orientieren. Abzulehnen ist klarerweise ein radikalliberales Modell mit einer totalen Kommerzialisierung medizinischer Leistungen und der Einebnung des Unterschieds zwischen medizinisch indizierten und wunschmedizinischen Behandlungen, weil eine marktförmige Verteilung leicht zu einer „Fehlallokation“ der Gesundheitsleistungen führt (vgl. KettnerKettner, Matthias, 88/Kap. 3.1, Argument 2): Während zahlungskräftige Kunden ihre Luxusbedürfnisse befriedigen können, bleiben berechtigte Ansprüche auf eine medizinische Grundversorgung möglicherweise unerfüllt. Im vorliegenden Kapitel soll es aber erst einmal nur um eine deskriptive Unterscheidung von „Enhancement“ und „Therapie“ gehen, die für eine definitorische Bestimmung des „Enhancements“ unverzichtbar ist (vgl. SynofzikSynofzik, Matthias 2006, 37/Kap. 1.1). Die Möglichkeit einer solchen trennscharfen Unterscheidung wird vielfach bestritten, weil schon die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ höchst unterschiedlich gebraucht werden. Es ist also erst einmal mittels einer Analyse der wichtigsten Krankheits- und Gesundheitsmodelle zu klären, ob das Enhancement überhaupt eine eigene, klar abgrenzbare Klasse von Handlungen bezeichnet, die im Kontrast zur ethisch unkontroversen Krankheitsbehandlung einen abgesonderten ethischen Problembereich darstellt.

Selbstoptimierung und Enhancement

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