Читать книгу Selbstoptimierung und Enhancement - Dagmar Fenner - Страница 11

1.3.1 Deskriptive Analyse verschiedener Krankheits- und Gesundheitsmodelle

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1) Objektives biostatisches Krankheitsmodell

In der medizinischen Praxis äußerst beliebt ist das auf Christopher BoorseBoorse, Christopher zurückgehende objektive biostatische KrankheitsmodellGesundheits-/Krankheits-Modellebiostatisches, bei dem „Gesundheit“ negativ als Abwesenheit von Krankheit und „Krankheit“ als Abweichung von einem speziestypischen „normalen Funktionieren“ definiert wird (vgl. BoorseBoorse, Christopher, 567/DanielsDaniels, Norman, 28). NaturalistischGesundheitnaturalistisches Konzept ist dieses in der Tradition der physiologischen Medizin entworfene Modell, insofern es die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit „wertfrei“ in Bezug auf objektive, naturwissenschaftlich überprüfbare Fakten zu treffen beansprucht. Unter „normaler Funktionsfähigkeit“ wird dabei eine statistische Norm einer typischen, alters- und geschlechtsspezifischen Referenzklasse des jeweiligen Organismus verstanden. Anders als bei einem rein statistischen Normalitätsbegriff werden beim biologischen Funktionsbegriff nur diejenigen Abweichungen von einem statistischen Mittelwert als krankhaft interpretiert, die speziestypische Funktionen verhindern. Damit sind aber nicht alle Probleme einer statistischen Krankheitsdefinition überwunden, weil bezogen auf die altersspezifische Referenzklasse statistisch häufige Erscheinungen wie z.B. Karies, Osteoporose oder Prostatakrebs trotz einschränkender biologischer Funktionen „normalNormalitätbiostatische“ und damit eigentlich keine „Krankheiten“ wären (vgl. WernerWerner, Micha, 146). Zudem lassen sich bei vielen organischen Funktionen durch statistische Erhebungen nur gewisse Normbereiche festlegen, wobei die Grenze zwischen „normal“ und „krankhaft“ von kulturellen Deutungen abhängt und somit nicht völlig wertfrei ist. Ein typisches Beispiel wäre ein niedriger Blutdruck jenseits eines bestimmten Normbereichs, der nur in Deutschland als Indiz für eine Krankheit aufgefasst und in Großbritannien spöttisch „German disease“ genannt wird. An seine Grenzen stößt das biostatische Modell v.a. auch im psychosozialen Bereich, da psychische Krankheiten bzw. Störungen noch viel stärker von kulturellen Vorstellungen von „normalem“ und „nichtnormalem“ Verhalten und von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen abhängen. BoorsesBoorse, Christopher Definition von psychischen Krankheiten als Störungen der Wahrnehmung und der kognitiven Funktionen analog zu physischen Funktionsstörungen erscheint als reduktionistisch und inadäquat (vgl. LenkLenk, Christian 117f.; 120f.). Die Kritik am biostatischen Krankheitsmodell richtet sich entsprechend gegen den Anspruch auf naturwissenschaftliche Exaktheit und Wertfreiheit, obschon durchaus nicht alle Anhänger einen Naturalismus im strengen Sinn vertreten (vgl. etwa DanielsDaniels, Norman, 30/BuchananBuchanan, Alan u.a., 151). Auf der physiologischen Ebene von Zellen und Organen lassen sich jedoch unwillkürliche Funktionsstörungen wie beispielsweise entartete und unkontrolliert wuchernde Tumorzellen, eine Lungenventilationsstörung oder eine Störung des Bewegungsapparates relativ wertfrei und deskriptiv als „Krankheiten“ ausweisen, sodass auch die Grenze zwischen Therapie und Enhancement klar gezogen werden könnte.

2) Subjektivistischer lebensweltlicher Wohlbefindens-Ansatz

Im Kontrast zum objektiven Krankheitsmodell geht der Gesundheits-/Krankheits-Modellesubjektivistisches, lebensweltlichessubjektive lebensweltliche Wohlbefindens-Ansatz von einem positiven, maximalistischen BegriffGesundheitMinimal-/Maximalbegriff von „Gesundheit“ als einem Idealzustand subjektiven Wohlbefindens aus. „Krankheit“ hingegen stellt eine Beeinträchtigung des subjektiven Wohlbefindens dar. Exemplarisch dafür ist die bekannte Definition der WHO von „Gesundheit“ als „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und Behinderung“ (WHO 1946). Im Zuge des Selbstoptimierungstrends kam es zu einer Individualisierung des Gesundheitsverständnisses und einem Erstarken des sogenannten zweiten Gesundheitsmarktes (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2013, 5f.; 17): Gesundheit wird nicht mehr allein über die Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern von rund 80 % der Befragten mit persönlichem Wohlbefinden assoziiert. Statt mit „Wohlbefinden“ wird „Gesundheit“ auch mit „Glück“ oder „Lebensqualität“ gleichgesetzt, so etwa von Horst BaierBaier, Horst oder Lennart Nordenfelt (vgl. Baier, 100/Nordenfelt, 7). Für das medizinische Gesundheitssystem und eine klare Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit eignen sich solche subjektive lebensweltliche Modelle von Gesundheit allerdings nicht, weil positive Gesundheitsvorstellungen von Wohlbefinden oder Glück nach oben hin keine Grenze kennen. Da sich die meisten Menschen weit weg vom Zustand vollkommenen Glücks oder maximaler Lebensqualität entfernt wähnen und sich eine Steigerung ihres aktuellen Wohlbefindens wünschen, wären dann strenggenommen alle Menschen krank. Auch die Trennung von Therapie und Enhancement wäre obsolet, weil jede das subjektive Wohlbefinden und damit die Gesundheit befördernde Maßnahme als Therapie zu bezeichnen wäre. Aus einer wissenschaftlichenGesundheitwissenschaftlicher/lebensweltlicher Begriff philosophischen und medizinischen Perspektive können das subjektive Erleben einer Störung des Wohlbefindens und ein subjektives Leid lediglich dafür bedeutsam sein, ob sich der Einzelne als krank ansieht oder nicht. Sie können aber nicht die Kernbedeutung des Krankheitsbegriffs ausmachen und bestimmen, was Krankheit ist, sondern stellen nur Zusatzkriterien dar (vgl. SchrammeSchramme, Thomas 2013, 10). Da die Quellen von vermindertem Wohlbefinden oder subjektivem Leid neben organischen Ursachen ganz unterschiedliche sein können, drohte bei einer lebensweltlichen Interpretation von Krankheit und Gesundheit die Gefahr einer MedikalisierungMedikalisierung von Umwelt- und Lebensproblemen: Würden beispielsweise auch Beeinträchtigungen aufgrund ungünstiger gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen als individuelle Krankheiten interpretiert, fielen auch sie irrtümlicherweise in den Zuständigkeitsbereich der Ärzte und mutierten zum Gegenstand individueller Therapie (vgl. LenkLenk, Christian, 145; 177).

3) Relationale Ansätze von Gesundheit und Krankheit

Zur Überwindung der Einseitigkeit in der Betonung der subjektiven und objektiven Komponenten der anderen Modelle beziehen relationale KrankheitsmodelleGesundheits-/Krankheits-Modellerelationales die äußere Umwelt mit ein und definieren Krankheit als Unfähigkeit zur Erreichung selbstgesetzter Ziele oder zur Bewältigung von äußeren gesellschaftlichen Anforderungen (vgl. Heiliger, 66f./Walcher, 52f.). „Krankheit“ bedeutet in diesem Verständnis also ein gestörtes Verhältnis oder ein Ungleichgewicht zwischen internen Ressourcen oder Fähigkeiten des Individuums und externen Umweltfaktoren. Es lassen sich dabei Adaptionstheorien mit ähnlichem empirischem Selbstverständnis und dem Anspruch auf universelle Geltung wie biostatische Modelle sowie normativistischeGesundheitnormativistisches Konzept und stärker lebensweltlich geprägte handlungstheoretische Ansätze unterscheiden (vgl. LenkLenk, Christian, 40f.). Während in naturalistischen Krankheitsmodellen „Krankheit“ und „Gesundheit“ wie gesehen objektive, wertfrei beschreibbare Zustände darstellen, sind sie in handlungstheoretischen normativistischen Theorien Zuschreibungen vor dem Hintergrund individueller Handlungsziele oder gesellschaftlich anerkannter Wertvorstellungen und Normen. Gemäß dem Vertreter der individualistischen Spielart handlungstheoretischer Ansätze und schärfsten Kritiker des biostatischen Krankheitsmodells Lennart Nordenfelt ist eine Person „vollkommen gesund“, wenn sie „fähig ist, unter gegebenen normalen Umweltbedingungen alle ihre maßgeblichen Ziele zu realisieren.“ (Nordenfelt, 96) Bei kulturalistischen Varianten treten an die Stelle individueller Ziele gesellschaftliche Vorgaben, sodass je nach den spezifischen Anforderungen einer Gesellschaft etwa an Körperkraft oder kognitiven Fähigkeiten ein Unvermögen wie Legasthenie entweder gänzlich unbedeutend oder eine psychische Störung sein kann (vgl. LenkLenk, Christian, 194f.). Für den psychosozialen Bereich bieten normativistische Modelle gegenüber naturalistischen ein angemesseneres Krankheits- und Gesundheitsverständnis an, weil psychische Gesundheit als Fähigkeit zur Bewältigung von internen oder externen Anforderungen dank persönlicher Strategien besser charakterisiert ist (vgl. Bobbert, 414). Allerdings ist ein relationales Krankheitsverständnis sehr vage und enthält relativistische und dezisionistische Momente. Denn ob jemand gesund oder krank ist, hinge dann von beliebigen subjektiven Wünschen oder gesellschaftlichen Erwartungshaltungen ab. Außerdem suggeriert die Etikettierung als „krank“ das Vorliegen einer internen Abnormität, obwohl ein Ungleichgewicht von Individuum und Umwelt nicht zwangsläufig auf einen pathologischen Lebensprozess hindeutet (vgl. LenkLenk, Christian, 216f.). Vielmehr können entweder die gewählten subjektiven Ziele mit Blick auf gegebene persönliche Fähigkeiten oder Umweltbedingungen völlig unangemessen oder aber die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse repressiv und ungerecht sein.

4) Integratives Krankheitsmodell für die Therapie-Enhancement- Unterscheidung

Insbesondere in dem für die Enhancement-Debatte relevanten medizinischen Kontext vermag das objektive biostatische Krankheitsmodell am meisten zu überzeugen: Krankheit als wissenschaftlicher BegriffGesundheitwissenschaftlicher/lebensweltlicher Begriff ist im Wesentlichen eine Störung („disorder“) speziestypischer normaler physischer oder psychischer Funktionen, die zumindest im physisch-organischen Bereich relativ wertfrei auf der Grundlage statistischer und biomedizinischer Erkenntnisse beschreibbar sind (vgl. SchrammeSchramme, Thomas 2013, 10). Es lassen sich aber NaturalismusGesundheitnaturalistisches Konzept und NormativismusGesundheitnormativistisches Konzept prinzipiell vereinbaren und die von den drei Krankheitsmodellen hervorgehobenen Aspekte sinnvoll in einem integrativen KrankheitsmodellGesundheits-/Krankheits-Modelleintegratives kombinieren, das Offenheit und Spielräume eingesteht (vgl. LenkLenk, Christian, 226f.; 230f.): Der objektive Aspekt einer empirisch feststellbaren funktionalen Störung oder Abnormität als eindeutiger Hinweis auf eine Krankheit muss zwar unbedingt vorhanden sein und spielt somit eine zentrale Rolle, reicht aber allein nicht aus. Vielmehr muss diese pathologische Abweichung zusätzlich das subjektive Wohlbefinden vermindern oder die Verwirklichung subjektiver wichtiger Lebensziele oder Einhaltung gesellschaftlicher Normen behindern. Kritiker der Gesundheits-Krankheits-Unterscheidung wenden allerdings ein, insbesondere im psychischen Bereich gebe es keine klare Grenze zwischen voller und eingeschränkter Funktionsfähigkeit der psychischen Funktionen bzw. zwischen optimalem Wohlergehen und schwerer Beeinträchtigung, konkret etwa zwischen Vergesslichkeit und schwerer Demenz oder zwischen Niedergeschlagenheit und krankheitswertiger Depression (vgl. SynofzikSynofzik, Matthias 2006, 38/Walcher, 57ff.). Tatsächlich sind Krankheit und Gesundheit insofern graduierbare Phänomene, als es ein Kontinuum zwischen leichten bis schweren Krankheiten oder Störungen gibt und Gesundheit jenseits medizinischer Indikation auf einer nach oben hin offenen Skala steigerbar ist. Das Fehlen einer absoluten und trennscharfen Grenze beweist jedoch keineswegs die Unhaltbarkeit des Krankheitsbegriffs, da auch viele andere Begriffe wie „Kunst“ oder „Religion“ im Bereich sozialer bzw. institutioneller Tatsachen weder aufgrund von Grauzonen noch ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Werten verabschiedet werden müssen. Würde man aber wie im subjektivistischen Wohlbefindens-Modell nur einen MaximalbegriffGesundheitMinimal-/Maximalbegriff einer Gesundheit als vollkommenen Idealzustand gelten lassen und einen medizinischen Minimalbegriff bzw. negativen Begriff von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit ablehnen, wären alle Menschen krank und die in der Medizin erforderliche Krankheits-Gesundheits-Unterscheidungen unhaltbar. Auch könnte es wie gesehen einer Medikalisierung Vorschub leisten, wenn Krankheit ausschließlich über ein subjektives Leid oder das Nichtbewältigen interner oder externer Anforderungen definiert würde.

Unabhängig von der Enhancement-Debatte ist also eine Grenzziehung von Krankheit und Gesundheit in einem deskriptiven Sinn sehr wohl möglich und hat sich in der Praxis bewährt: Nicht nur im solidarisch finanzierten medizinischen Gesundheitssystem, sondern in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie der Rechtsprechung oder dem Absenzensystem der Arbeitswelt ist eine einigermaßen klare Bestimmung pathologischer Zustände unverzichtbar. Diese deskriptive Krankheits-Gesundheits-Unterscheidung bildet eine hinlänglich solide Basis, um Therapie und EnhancementTherapie-Enhancement-Unterscheidung voneinander abzugrenzen und einen Strukturwandel im Medizinsystem von einer kurativen hin zu einer wunscherfüllenden oder Enhancement-Medizin mit unterschiedlichen Zielsetzungen festzustellen: Medizinwunscherfüllende/kurativeWährend es in der traditionellen Medizin um Therapie mit den Zielen der Heilung oder Prävention von Krankheiten gemäß einer objektiven medizinischen Indikation geht, zielt die Enhancement-Medizin auf eine medizinisch nicht indizierte Steigerung der Gesundheit auf den subjektiven Wunsch der Kunden hin. Obwohl sich mit dieser deskriptiven Analyse „Enhancement“ als Diskussionsgegenstand besser eingrenzen und als eigenständige Klasse von Handlungen ausweisen ließ, ist damit noch nichts gesagt über die normative Bewertung der jeweiligen Handlungstypen. Zu vermeiden sind voreilige Schlüsse von der deskriptiven Treatment-Enhancement-Unterscheidung auf die normative Differenz von ethisch gebotener Therapie und ethisch illegitimem Enhancement (vgl. dazu SynofzikSynofzik, Matthias 2009, 50ff.). Im Einzelfall kann eine unterschiedliche Beurteilung nämlich ethisch fragwürdige Konsequenzen haben, wie das in der Enhancement-Debatte vieldiskutierte Beispiel von Dan BrockBrock, Dan zeigt (vgl. BuchananBuchanan, Alan u.a., 115): Der 11jährige Jonny hat ein Wachstumshormondefizit und ist aufgrund dieser Funktionsstörung im Sinne eines naturwissenschaftlichen biostatischen Krankheitsbegriffs „krank“ und damit behandlungsbedürftig. Dem gleichaltrigen Billy hingegen fehlen zwar keine Hormone, aber er wird als Kind extrem kleiner Eltern auch höchsten 1.60 m groß und genauso wie Jonny gehänselt werden und unter dem abnormen Kleinwuchs leiden. Wäre eine normative Verwendung eines objektiven naturalistischen Krankheitsbegriffs bei diesem gleichen empirischen Phänomen und gleichem subjektivem Leidensdruck nicht ungerecht? Wieso ist eine „Therapie“ überhaupt moralisch geboten und wieso sollen normale speziestypische Funktionen oder wertneutrale statistische Referenzwerte eine Obergrenze legitimer medizinischer Eingriffe bilden? Wäre nicht vielmehr die Erweiterung des gegebenen biologischen Spektrums der Gattung geboten, weil eine Verbesserung beispielsweise des Immunabwehrsystems oder intellektueller Fähigkeiten über die Spezies-Grenze hinaus grundsätzlich wünschenswert sind (vgl. BuchananBuchanan, Alan u.a., 127/JuengstJuengst, Eric, 33f.)?

Selbstoptimierung und Enhancement

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