Читать книгу Selbstoptimierung und Enhancement - Dagmar Fenner - Страница 24
2.3.1 Philosophische Konzepte von „Freiheit“
Оглавление1) Handlungsfreiheit
HandlungsfreiheitFreiheitHandlungs- (negative) meint ein Handeln-Können, ohne dabei von inneren oder äußeren Hindernissen oder Zwängen eingeschränkt zu werden (vgl. Fenner 2008, 183). Da diese Form von Freiheit wesentlich negativ als „Freiheit von“ Hindernissen bestimmt ist, wird sie auch als negative Freiheit bezeichnet. Unter raumzeitlichen Bedingungen des irdischen menschlichen Lebens ist eine absolute oder totale Hindernisfreiheit unmöglich. Denn die Handlungsfreiheit wird stets vielfältig durch äußere Fakten und Naturgesetze sowie innere physische oder psychische Schranken der handelnden Personen begrenzt, sodass sie immer nur graduell vorliegt. Dabei kann es geradezu als das Programm der Neuzeit angesehen werden, den jedem Einzelnen zur Verfügung stehenden Bereich ungestörten Handelnkönnens sukzessive auszuweiten (vgl. Wildfeuer, 363): So ist es ein zentrales Anliegen von Aufklärung und Humansimus, die Menschen aus überindividuellen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Auf diese Weise wird aber auch deutlich, dass eine rein negativ definierte „Freiheit von“ nicht das eigentliche Ziel solcher emanzipatorischer Bemühungen darstellt. Vielmehr ist die negative Freiheit von Handlungsschranken nur deswegen von großem Interesse für die Betroffenen, weil sie im positiven Sinn einen Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten bedeutet: Durch den erzielten Wegfall von gesellschaftspolitischen wie aber auch von natürlichen Hindernissen wächst der Spielraum des Handeln-Könnens. Der Einzelne hat dann die Wahl zwischen immer mehr verschiedenen Handlungsalternativen und hätte auf vielfältige Weise anders handeln können. Positiv gewendet steht „Handlungsfreiheit“ also für die Idee des Anders-Handeln-Könnens oder der Optionalität, wodurch sie einen Bestandteil der „Willlkür“- oder „Wahlfreiheit“ bildet: WillkürfreiheitFreiheitWillkür- enthält sowohl Aspekte der Handlungs- als auch der Willensfreiheit und meint die Fähigkeit, ohne Zwänge und Hindernisse zu tun, was man will. LiberaleLiberalismus erachten die Erweiterung des Handlungsspielraums der Menschen zumeist als höchstes ethisches Ziel und als Wert an sich, sodass sie für die Entwicklung, Förderung und Anwendung neuer Selbstoptimierungs-Technologien plädieren. Begründungsbedürftig sei nicht die Freiheit zum Einsatz neuer Enhancement-Methoden, sondern vielmehr die Einschränkung dieser Freiheit von außen (vgl. GalertGalert, Thorsten u.a., 42). Doch wie weit taugt Handlungsfreiheit als normative Bezugsgröße wirklich? Ist ein Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten in jedem Fall gut?FreiheitHandlungs- (negative)Freiheit
Hinsichtlich der Art der Handlungsschranken lassen sich nochmals folgende Aspekte unterscheiden (vgl. Koller 1998, 481f.): Zum einen können die Beschränkungen in den Umständen der Umwelt oder aber in den persönlichen Eigenschaften der Individuen liegen, weshalb externe von internen Beschränkungen abzugrenzen sind. Zum anderen können sie entweder von Natur aus bestehen oder gesellschaftlich bedingt sein, sodass zusätzlich natürliche und soziale Beschränkungen auseinandergehalten werden müssen. Durch die Kombination dieser vier Betrachtungshinsichten erhält man vier Varianten von Handlungsfreiheit:
Externe natürliche Beschränkungen
Damit sind die Grenzen gemeint, die dem menschlichen Handeln durch die Naturgesetze und faktischen Gegebenheiten der Umwelt auferlegt werden. Es ist das große Verdienst der Naturwissenschaften, durch das Ausräumen oder Beherrschbarmachen von Hindernissen und Handlungsschranken in der äußeren nichtmenschlichen Natur den menschlichen Handlungsrahmen ausgeweitet und viel Leid durch unberechenbare Naturgewalten von den Menschen abgewendet zu haben.
Interne natürliche Beschränkungen
FreiheitHandlungs- (negative)Beim Streben nach Selbstoptimierung soll aber nicht der Spielraum an äußeren Gelegenheiten zum Handeln vergrößert, sondern ausschließlich die innere menschliche Natur verbessert werden. Beseitigt werden sollen also interne natürliche Beschränkungen, d.h. Handlungsgrenzen aufgrund angeborener oder erworbener physischer, psychischer und geistiger Eigenschaften oder Dispositionen eines Menschen. Während die persönliche Handlungsfreiheit z.B. durch eine Gehbehinderung oder psychische Störungen wie z.B. einen Waschzwang vermindert wird, kann sie durch eine Steigerung natürlicher Fähigkeiten und Talente vergrößert werden. Vertreter bioliberalerBioliberalismus Positionen plädieren für eine Förderung der Enhancement-Medizin, um auch Eigenschaften im Normalbereich wie mangelnde Konzentrationsfähigkeit oder charakterbedingte Schüchternheit und die damit verbundenen Freiheitsbeschränkungen eliminieren zu können. Aus bioliberaler Sicht sollen Staat und Gesellschaft den Einzelnen ein möglichst breites Angebot an Möglichkeiten der Selbstoptimierung zur Verfügung stellen, ohne aber auf die Bewertung und Auswahl dieser Praktiken Einfluss zu nehmen. Aus ethischer Sicht wäre aber relevant, ob die neu hinzugewonnenen Handlungsoptionen wirklich gut für die handelnden Personen und ihr Umfeld sind und tatsächlich „Verbesserungen“ hin zu einem optimaleren Zustand darstellen. Positive Hilfspflichten gegenüber anderen Menschen werden zudem in der Sozialethik meist auf notwendige Güter oder die Beseitigung von Leid beschränkt, weil sie sich schwerlich auf beliebige von anderen gewünschte Luxusgüter oder Handlungsmöglichkeiten erstrecken können (vgl. Knell, 460ff.).Freiheit
Externe soziale Beschränkungen
Die meisten Kontroversen zum Thema Freiheit im Zusammenhang mit Selbstoptimierung entzünden sich jedoch an sozialen externen Restriktionen: Externe soziale Beschränkungen sind Handlungsbarrieren oder Zwänge, die entweder von herrschenden Gesetzen oder gesellschaftlichen Normen oder aber von anderen Personen oder Gruppen z.B. in Form direkter Schädigungen ausgehen. Anders als bei den nur eingeschränkt geltenden positiven ethischen Pflichten zur Hilfeleistung haben nach weitgehender Übereinstimmung in der Moralphilosophie alle Menschen die negative Pflicht zur Unterlassung von Handlungen, mit denen anderen Menschen Schaden zugefügt oder ihre HandlungsfreiheitFreiheitHandlungs- (negative) ohne triftigen Grund eingeschränkt würde (vgl. Knell, 454). Aufgrund des geltenden moralischen Rechts auf Selbstbestimmung und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit demokratischer Legitimierung von rechtlichen und moralischen Normen sind solche externe soziale Beschränkungen nur dann ethisch zulässig, wenn sich angesichts eines großen Nutzens für alle Beteiligten ein rationaler Konsens herstellen lässt. Dies wäre etwa der Fall bei der gesetzlichen Gurtpflicht für Autofahrer, die zwar die Handlungsfreiheit der Autofahrer minimal einengt, aber die Sicherheit sowohl der Fahrenden selbst als auch aller anderen Verkehrsteilnehmer beträchtlich erhöht. Genauso können die meisten restriktiven moralischen Basisnormen wie „Du sollst nicht lügen!“ oder „Du sollst nicht stehlen!“ damit rational begründet werden, dass ihre allgemeine Beachtung die Gemeinschaftsmitglieder von der ständigen Furcht vor gewaltsamen Übergriffen und Diebstahl befreit und dadurch die Lebensqualität aller steigert. Auch ein rechtliches oder moralisches Verbot bestimmter Selbstoptimierungs-Praktiken und damit individuell gewünschter Handlungsoptionen müsste sich durch gute, allgemein nachvollziehbare Gründe rechtfertigen lassen, z.B. durch ein zu hohes Gesundheitsrisiko für die Handlenden selbst oder aber eine damit verbundene Gefahr für ein solidarisches und friedliches Zusammenleben. Ebenso ist ein Druck, sozialerdirekter Zwang zu bestimmten Formen des Enhancements weniger wegen der Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten ethisch problematisch, sondern wegen des unten zu erläuterten Rechts auf Selbstbestimmung. Denn gute Gründe für die Aufforderung eines Arbeitgebers zur Einnahme bestimmter Psychopharmaka durch den Arbeitnehmer könnten gerade die Ausweitung des Handlungsspielraums im beruflichen Tätigkeitsfeld betreffen, wenn beispielsweise ein Chirurg dank risikofreiem Enhancement mehr und bessere Operationen durchführen kann. Offensichtlich ist die normative Bezugsgröße der Handlungsfreiheit allein kein hinlängliches Kriterium für die ethische Beurteilung von externen sozialen Beschränkungen.Freiheit
Noch schwieriger zu beurteilen sind die verschiedenen Formen von indirektem Zwang, die mit keinen oder subtilen sozialen Sanktionen verbunden sind und die Handlungsfreiheit der Einzelnen nur indirekt beeinträchtigen. Kritiker neuer Enhancement-Technologien sehen die Handlungsfreiheit nichtoptimierter Personen häufig dadurch eingeschränkt, dass sie im WettbewerbWettbewerb mit den optimierten Konkurrenten auf dem Ausbildungs-, Berufs- oder Heiratsmarkt unter massiven Druck geraten: Um am gesellschaftlichen Wettbewerb erfolgreich teilnehmen zu können, seien positionale, relative Selbstverbesserungen für den Einzelnen unumgänglich. Sie geraten in eine Situation „kollektiver Nötigung“, die eine Verringerung des Handlungsspielraums bedeute (vgl. AchAch, Johann 2016, 128). Allerdings führt das Prinzip des WettbewerbWettbewerbs fast unvermeidlich zur Verminderung der Handlungsfreiheit der Konkurrenten und vor allem der Verlierer des Wettbewerbs, ohne dass es in liberalen Gesellschaften deswegen als ethisch disqualifiziert gilt. Vielmehr wird es allgemein gutgeheißen, weil sich auf dem freien Markt die fähigsten Konkurrenten bzw. die mit den besten Angeboten durchsetzen sollen. Auch ein Wettbewerb zwischen Optimierten und Nichtoptimierten wäre nicht schon wegen der ungleichen Auswirkung auf die Handlungsfreiheit der Konkurrenten problematisch, sondern nur im Fall eines unfairen Wettbewerbs und illegitimer Wettbewerbsverzerrungen (Kap. 4.4). Natürlich lässt sich ganz unabhängig vom ethischen Prinzip der FreiheitFreiheit grundsätzlich über das gesellschaftliche und ökonomische Organisationsprinzip des Wettbewerbs diskutieren, indem noch andere ethische Prinzipien wie das Wohlergehen der Einzelnen, ein solidarisches Miteinander oder ökonomische Gerechtigkeit geltend gemacht werden (Kap. 2.2/4.4). Eine andere Form eines indirekten gesellschaftlichen Zwangs ist der soziale GruppendruckDruck, sozialer, der zur Anpassung an bestimmte gesellschaftliche Ideale drängt. Ethisch betrachtet ist ein solcher Gruppendruck aber wiederum nicht allein schon aufgrund der Einschränkung der HandlungsfreiheitFreiheitHandlungs- (negative) bedenklich, da sonst auch der Gruppendruck durch demokratisch legitimierte rechtliche oder moralische Normen verwerflich wäre. Inakzeptabel sind nur jene hinter dem Trend zur Selbstoptimierung stehenden gesellschaftlichen Ideale, die das gute Leben der Einzelnen oder das gerechte Zusammenleben gefährden. Dies dürfte zwar nicht auf gesellschaftliche Ideale wie Gesundheit oder Fitness, aber auf das verbreitete weibliche Schönheitsideal zutreffen, das einen hohen finanziellen Aufwand und das Risiko einer Minimierung von Gesundheit und Glück für die sich ihm „gezwungenermaßen“ unterwerfenden Frauen bedeuten kann (Kap. 3.1).
Interne soziale Beschränkungen
Interne soziale Beschränkungen schließlich sind Beschränkungen sozialer Handlungsressourcen, die zwar sozial bedingt sind, aber gleichwohl zur persönlichen Ausstattung der Individuen gehören. Dazu zählen etwa medizinische Grundversorgung, Bildung, berufliche Qualifikation und Arbeitsbedingungen. Infolge zunehmender gesellschaftlicher Enhancement-Praktiken könnten sich all diese Bedingungen so verändern, dass die individuelle Handlungsfreiheit zumindest bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie etwa den sozioökonomisch Schlechtergestellten verringert wird.
Kritik
FreiheitGrundsätzlich ist am liberalen Modell einer negativen Freiheit zu kritisieren, dass indirekte Formen eines externen gesellschaftlichen Zwangs sowie sozial interne Beschränkungen meist keine Beachtung finden. Von BioliberalenBioliberalismus werden die Selbstoptimierer häufig bereits dann als frei betrachtet, wenn sie nicht durch externe soziale Beschränkungen am Handeln nach ihren eigenen Wünschen gehindert werden. Auf diese Weise werden aber im Rahmen eines überzogenen Individualismus die sozialen, politischen und ökonomischen Hindernisgründe des Handeln-Könnens ausgeblendet. Denn damit gewisse Handlungsoptionen für die Einzelnen überhaupt Bedeutung erlangen können, müssen diese über bestimmte Mittel oder geeignete Fähigkeiten verfügen. Eine rein negative Freiheit als Hindernisfreiheit ist kein Wert an sich und für den Einzelnen solange praktisch nutzlos, als ihm die Voraussetzungen für die Realisierung der ihm offenstehenden Handlungsoptionen fehlen. So können jemandem die für die Aktualisierung der negativen Freiheit notwendigen natürlichen Dispositionen fehlen oder einfach die erforderlichen finanziellen Mittel, um von dem in einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Angebot an Selbstoptimierungstechnologien überhaupt Gebrauch machen zu können. Zynisch wäre es, einem sozioökonomisch Unterprivilegierten zuzurufen, er sei frei, sich nach Belieben selbst zu optimieren (vgl. Koller 1998, 485/Kap. 1.2). Die Rede von HandlungsfreiheitFreiheitHandlungs- (negative) scheint nicht sinnvoll zu sein, wo jemandem die notwendigen Mittel und auch eine Aussicht auf ihren zukünftigen Besitz vollständig fehlen. Trotz der gestiegenen technischen Möglichkeiten zur Selbstoptimierung erfährt er keinen Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten im positiven Sinn, sodass sich sein Handlungsspielraum faktisch nicht erweitert. Darüber hinaus ergab die knappe Analyse der vier Hinsichten möglicher Freiheitsschranken, dass weder der rein zahlenmäßige Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten ein hinlängliches ethisches Kriterium für die Zulassung oder Förderung sämtlicher Selbstoptimierungs-Praktiken darstellt noch die begründete Einschränkung bestimmter Optionen vermeintlicher „Selbstverbesserungen“ in jedem Fall ethisch unzulässig ist.