Читать книгу Selbstoptimierung und Enhancement - Dagmar Fenner - Страница 8
1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends 1.2.1 Kulturelle Voraussetzungen
ОглавлениеIndividualisierung
Ideengeschichtlich betrachtet lässt sich der Trend zur Selbstoptimierung als konsequente und logische Fortsetzung verschiedener neuzeitlicher IndividualisierungsschübeIndividualisierungsprozesse verstehen: Auf gesellschaftlicher Ebene verloren traditionelle Sozialzusammenhänge wie Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Religionsgemeinschaft immer mehr an Bindungskraft. Zu den großen sozialen und geistesgeschichtlichen Umbrüchen auf diesem Weg zählen die Reformation und die Glaubenskriege mit dem Zerbröckeln eines einheitlichen, stabilen Orientierungssystems, der besonders im Calvinismus geförderte, mit erhöhter Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung verbundene religiöse Individualismus, die Idealisierung der Innerlichkeit in der Romantik und der drastische Rückgang der religiösen Sozialisierung seit den 1960er Jahren in Europa (vgl. LeefmannLeefmann, Jon, 102). Auf individueller Ebene hat sich in der Aufklärung das in der Renaissance aufkommende Selbstverständnis eines einzigartigen und autonomenAutonomie, s. Freiheit, Willens- Subjekts durchgesetzt, das sich mittels seiner subjektiven Rationalität sein eigenes Gesetz gibt. Dank des Siegeszugs der sich aus ihrem metaphysischen und religiösen Korsett befreienden Naturwissenschaften und der Technik macht sich der neuzeitliche Mensch die äußere Wirklichkeit verfügbar, um seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Unter Zurückweisung vorgegebener traditioneller Rollenbilder und Lebensmuster orientieren sich die Menschen zunehmend an selbst gesetzten Zielen, sodass in den 1960er Jahren ein Wertewandel weg von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu ästhetischen und Selbstentfaltungswerten diagnostiziert wurde (vgl. Fenner 2003, 467). Auf wirtschaftlicher Ebene wurde die Individualisierung durch eine liberalistische Ökonomie und eine kapitalistische Kultur mit dem Prinzip des freien Marktes begünstigt, in der das individuelle Streben nach Gewinn und dem maximalen Erfüllen der subjektiven Wünsche den zentralen Motor darstellt. Neben seinen zahlreichen negativen Seiten hat der Kapitalismus den meisten Menschen in den westlichen Wohlfahrtsstaaten infolge des Wirtschaftswachstums einen hohen Lebensstandard, eine enormen Erweiterung der Lebensmöglichkeiten, mehr Freiheit, Flexibilität und Mobilität gebracht. Nicht zuletzt auch dank mehr freier Zeit wurden damit die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Menschen sich vermehrt mit sich selbst und ihrem Leben beschäftigen konnten. Der aus der Soziologie stammende Begriff der IndividualisierungIndividualisierungsprozesse bezeichnet also den historischen Prozess eines Zugewinns an Autonomie und Wahlmöglichkeiten der Individuen, die sich aus fragwürdig gewordenen metaphysischen, religiösen und sozialen Ordnungssystemen und Strukturen herauslösen.
Je weniger der Einzelne von Gott, dem Schicksal oder der Tradition vorgegebene Aufgaben und Rollenmuster zu übernehmen gewillt ist, desto mehr rückt nun das eigene Selbst als einziger Orientierungspunkt in den Vordergrund und wird zur neuen Quelle von Normativität. Individuelle Selbstgestaltung und Lebensplanung gelten als die großen existentiellen Herausforderung des modernen Menschen, der alle Entscheidungen über Ausbildung, Beruf, Familie und Wohnort selbstreflexiv und selbstverantwortlich treffen und seinen individuellen Lebenslauf selbst entwerfen muss (vgl. Beck 2003, 216ff./SelkeSelke, Stefan 2014a, 188). Noch vor der Konjunktur des Schlagworts „Selbstoptimierung“ war in den 1970er und 80er Jahren der Begriff „SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung“ für diese neue Innenorientierung in Mode gekommen, der gleichfalls eine Schlüsselkategorie des modernen Selbstverständnisses darstellt. Obgleich das Konzept der „Selbstverwirklichung“ von den deutschen Idealisten in die Philosophie eingeführt wurde, verhalf ihm erst die humanistische PsychologiePsychologiehumanistische in den 1970er Jahren zum Durchbruch. Selbstverwirklichung meint allgemein die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, indem man seine eigenen Möglichkeiten und Talente ungeachtet gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausschöpft. Dabei hat auch die Vorstellung von „Selbstverwirklichung“ eine Individualisierung erfahren, da grundsätzlich zwei Deutungsmöglichkeiten offen stehen (vgl. Fenner 2007, 92): Im essentialistischen capacity-fulfillment-ModellSelbstverwirklichungcapacity-fulfillment-Modell wird von einem bereits vorgegebenen metaphysischen oder biologisch angeborenen „Selbst“ ausgegangen, das lediglich in der Welt realisiert werden muss. Dieses von vielen humanistischen Psychologen von Goldstein über Fromm bis Maslow vertretene Entfaltungsmodell der Selbstverwirklichung wird gern mit der Analogie zum Wachstum eines Samenkorns illustriert, bei der allerdings die zentrale Rolle von Vernunft, Erziehung und Bildung in der menschlichen Entwicklung unterschätzt wird. Denn die genetischen Anlagen und Fähigkeiten sind beim Menschen so unbestimmt, dass sie zu höchst unterschiedlichen positiven oder negativen Zwecken einsetzbar sind (vgl. dazu Fenner 2003, 372; 472f.). Aufgrund dieser zweifelhaften Prämissen dominiert heute das individualistische aspiration-fulfillment-ModellSelbstverwirklichungaspiration-fulfillment-Modell, bei dem die Freiheit der Individuen viel stärker betont wird. Es gilt dann nicht ein vorgegebenes „Selbst“ zu realisieren, sondern die wichtigsten Wünsche oder Ziele eines Individuums (vgl. KipkeKipke, Roland 2011, 82f.; 209).
Subjektivierung und Psychologisierung des Glücks
Dieser vielschichtige Prozess der Individualisierung und die Suche nach neuen innerlichen Quellen normativer Handlungsorientierung haben zu einer Renaissance der antiken IndividualethikEthikIndividual-, Strebens- geführt: Nachdem Themen der individuellen Lebensführung wie die Frage nach dem Glück und guten Leben sowohl in der Philosophie als auch in der Öffentlichkeit jahrhundertelang zugunsten moralischer Belange vernachlässigt wurden, genießen sie seit den 1970er Jahren erneut hohe Aufmerksamkeit (vgl. Fenner 2007, 7). Die Dominanz der Fremdorientierung und des Ideals der Selbstlosigkeit war gebrochen, sodass Selbstorientierung und Selbstsorge nicht länger als egoistisch verpönt waren. Während allerdings in Antike und Mittelalter von objektiven Kriterien für menschliches Glück ausgegangen wurde, hat im Laufe der neuzeitlichen IndividualisierungsprozesseIndividualisierungsprozesse eine GlückSubjektivierung/Psychologisierung desSubjektivierung und Individualisierung des Glücks stattgefunden: Das Individuum soll keine vorgegebenen Aufgaben mehr im Kosmos oder einem göttlichen Schöpfungsplan erfüllen, sondern seine ganz persönlichen Wünsche und Ziele realisieren und sein Glück in der Selbstverwirklichung finden (vgl. Höffe, 19/KipkeKipke, Roland 2011, 209f.). Im Zeichen eines anhaltenden „Glücksbooms“ wird der Büchermarkt überschwemmt von einer Fülle populärwissenschaftlicher, spiritueller bis hin zu kabarettistischer Ratgeberliteratur, die zusammen mit Feuilletonbeiträgen und Blogs den Weg zum GlückGlück weisen. Es wird im Sinne des typisch neuzeitlichen Macht- und Machbarkeitsdenkens suggeriert, das Glück sei planbar und herstellbar und jeder könne sein eigenes Glück „schaffen oder aufbauen“ (Lyubomirksy, 24). In ihrer schlichtesten Form bietet die Lebenshilfeliteratur Anleitungen zum Selbermachen und gibt einfache Rezepte, wie man sein Leben zu einem glücklichen machen kann. So soll man etwa „Krisen als Chancen“ betrachten und widrige Umstände positiv deuten, „achtsam“ oder „authentisch“ leben, sich selbstgewählte Ziele setzen und sich selbst optimieren. Je aufdringlicher die Werbeindustrie den Menschen Glück durch den Erwerb bestimmter Güter oder die Nutzung spezifischer Dienstleistungsangebote verspricht, scheint das Glück selbst zur Pflicht erhoben zu werden. Kritische Zeitgenossen sprechen angesichts der omnipräsenten Glücksverheißungen von einer „Diktatur des Glücks“ und einer „Glückshysterie“, weil jedem eingeimpft wird: „Du musst glücklich sein, sonst lohnt sich dein Leben gar nicht“ (SchmidSchmid, Wilhelm 2012, 8). Das intensivierte Glücksstreben und die Betrachtung des individuellen Glücks als Indiz für eine gelingende Selbstverwirklichung und Lebensführung haben dem Selbstoptimierungstrend den Weg bereitet und ihn angekurbelt.
Nachdem in der Antike vornehmlich die Philosophie für Fragen der Lebenskunst und des Glücks der Einzelnen zuständig war, scheinen sie aber seit ihrer Renaissance in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie gerückt zu sein: Von einer Therapeutisierung oder Psychologisierung des GlücksGlückSubjektivierung/Psychologisierung des lässt sich insofern sprechen, als sich immer häufiger Psychologen und Psychotherapeuten für Experten menschlichen Glücks erklären und Unterstützung bei einer gelingenden Selbstverwirklichung bieten. In den 1970er Jahren kam es zu einem allgemeinen „Psycho-Boom“, weil das Interesse der Bevölkerung an einer im weitesten Sinn verstandenen Therapie als sozialer Praxis wuchs und sich immer mehr Zeitungen, Zeitschriften und Ratgeber therapeutischer Konzepte bedienten (vgl. Elberfeld, 176). Einen Beitrag zur Popularisierung der Psychologie leistete auch die 1990 gegründete Positive PsychologiePsychologiepositive, die nach der ausschließlichen Beschäftigung der Psychologie mit psychischen Krankheiten bzw. Störungen die Steigerung der psychischen Gesundheit und positiver Gefühle wie Glück zum Programm erhob (vgl. Seligman, 11). Neben die psychologischen Therapie- und Beratungsangebote trat seit den 1980er Jahren das Coaching, das verschiedene Trainings- und Beratungsmethoden umfasst. Ursprünglich aus dem Sport stammend wurde das Coaching zunächst auf das Training von Führungskräften übertragen und später auf individuelle Beratung aller Menschen ausgedehnt, sodass aus dem Management-Coaching Anleitungen zum Selbstmanagement wurden (vgl. Eberfeld, 189ff.): Coaches helfen den Kunden, ihre persönlichen Potentiale, Stärken und Perspektiven besser einzuschätzen und zu entwickeln, neue Kompetenzen und Strategien zur besseren Bewältigung von Krisen zu erwerben und sich adäquater und erfolgreicher an ihren persönlichen Zielen zu orientieren. Während es beim SelbstmanagementSelbstmanagement in den frühen Phasen vorwiegend um die Steigerung der Arbeitsproduktivität mittels Zeitplanung und To-do-Listen ging, rückte mit jeder Generation mehr die Verbesserung der Lebensqualität mit Zielen wie etwa persönliches Wachstum, Erarbeiten inspirierender Zukunftsperspektiven und befriedigender Beziehungen zu anderen ins Zentrum. Ähnlich wird im Glücks-Coaching typischerweise die Stärkung des Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens, mehr Freude in Beruf und Partnerschaft, Gelassenheit und Kreativität im Umgang mit Um- und Mitwelt versprochen. Je populärer die sich auf psychologisches Wissen beziehenden Programme zum Überschreiten des Gesunden und Normalen auf Selbstoptimierung hin werden, desto mehr avancieren therapeutische Praktiken zu „universell einsetzbaren Technologien des Selbst“ (Elberfeld, 194).