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2 Normative Bezugsgrößen

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Um sich ein umfassendes Bild über den aktuellen Selbstoptimierungstrend zu machen, sind Kenntnisse und Forschungsmethoden aus verschiedensten Disziplinen und letztlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar. Bei einem empirisch-deskriptiven Zugang etwa im Rahmen medizinischer, naturwissenschaftlich-technischer, soziologischer und psychologischer Studien über Selbstoptimierung wird Wissen aus der Erfahrung gewonnen mit dem Ziel einer möglichst exakten und intersubjektiv überprüfbaren Beschreibung und Erklärung dessen, was der Fall ist. Im Gegensatz dazu geht es bei dem hier gewählten normativ-wertenden Zugang nicht um eine wertneutrale Beschreibung des Ist-Zustandes oder eine Prognose wahrscheinlicher zukünftiger Veränderungen von Technologien, gesellschaftlichen Verhältnissen oder psychischen Zuständen, sondern um normative, d.h. wertende Aussagen über bestimmte Selbstoptimierungspraktiken. Im Zentrum philosophisch-ethischer Reflexionen steht anstelle des „Seins“ das „Sollen“. Die EthikAllgemeineAllgemeine EthikEthik ist eine Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln zu begründen versucht (vgl. Fenner 2007, 16). Anders als eine theologische Ethik setzt eine säkulare philosophische Ethik keine bestimmte Religion oder Weltanschauung voraus, sondern ihre Reflexionen und Begründungen sollen dem Anspruch nach für alle vernunftfähigen Lebewesen einsichtig sein. Während sich empirische Vorgehensweisen auf Beobachtungen, Umfragen oder Experimente stützen, bedienen sich normativ-wertende Betrachtungen philosophischer Methoden der kritischen Hermeneutik und des rationalen Argumentierens und Begründens. Wichtig ist daher eine Argumentationslehre, die den richtigen Umgang mit sich teilweise widerstreitenden Gründen und Argumenten klärt und das Auge für starke und schwache oder logisch gültige und ungültige Argumente schult. Neben der Ethik ist es zusätzlich noch das Recht, das klar wertend und noch stärker vorschreibend und verordnend zu menschlichen Handlungen Stellung bezieht: Die in Gesetzestexten schriftlich fixierten rechtlichen Regelungen neuer Biotechnologien sind zwar nur dann legitim, wenn sie sich mit ethischen Argumenten rechtfertigen lassen. Sie können aber die allein an die innere Selbstverpflichtung appellierenden Normen besser durchsetzen, indem sie die schwachen moralischen Sanktionen wie gesellschaftlicher Tadel oder Ausgrenzung zusätzlich durch staatliche Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen unterstützen.

Um menschliche Handlungen bewerten, kritisieren oder rechtfertigen zu können, beziehen wir uns in aller Regel auf gesellschaftlich anerkannte Werte, Normen, Prinzipien oder Rechte. Während in alltäglichen Diskussionen die Richtigkeit solcher normativer Maßstäbe meist stillschweigend vorausgesetzt wird, prüft die wissenschaftliche Disziplin der philosophischen Ethik die Legitimität der dabei erhobenen Geltungsansprüche. In diesem Kapitel sollen vier normative Bezugsgrößen, Konzepte oder Prinzipien genauer untersucht werden, die bei der ethischen Positionierung für oder gegen Selbstoptimierung eine große Rolle spielen: „Glück“ und „gutes Leben“ als individualethischer Maßstab (Kap. 2.1), „Gerechtigkeit“ als sozialethischer Maßstab (Kap. 2.2), „Freiheit“ und „Würde“ (Kap. 2.3) sowie „Normalität“ und „Natürlichkeit“ (Kap. 2.4). Auf sie wird zwar in der Enhancement-Debatte häufig ohne weitere Erläuterungen Bezug genommen, aber bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als äußerst mehrdeutig und vielschichtig. Die seit den Anfängen der philosophischen Ethik in der griechischen Antike präsenten Begrifflichkeiten sind bis heute Gegenstand philosophischer Kontroversen, ohne dass sich einheitliche und allgemein anerkannte Definitionen durchgesetzt hätten. Um eine differenzierte und gut begründete Positionierung für oder gegen Selbstoptimierungs- oder Enhancement-Praktiken entwickeln zu können, empfiehlt sich daher eine Klärung der Konzepte „Glück“, „Gerechtigkeit“, „Natürlichkeit“, „Freiheit“ und „Würde“. Diese Liste menschlicher Grundwerte oder Prinzipien beansprucht keine Vollständigkeit, sondern ist auf die Selbstoptimierungs-Debatte zugeschnitten. Ganz allgemeine Grundwerte wie „Leben“ oder „Verantwortung“ bilden gleichsam die Grundlage der Diskussion über Selbstoptimierung, weil eine Optimierung natürlich das Leben der Betroffenen voraussetzt und ethische Reflexionen nur sinnvoll sind unter der grundsätzlichen Möglichkeit und Bereitschaft der Menschen zur Übernahme von Verantwortung. Viele weitere Werte oder Prinzipien werden in anderen Kapiteln ausführlich erörtert, z.B. „Gesundheit“ (Kap. 1.3), „Schönheit“ (Kap. 3.1), „Authentizität“ (Kap. 4.1) oder „Bildung“ (Kap. 4.2).

In den darauffolgenden Kapiteln 3–5 stehen dann nicht mehr ethische Begründungsfragen und begrifflich-konzeptuelle Schwierigkeiten im Zentrum, sondern einzelne Verbesserungspraktiken. Diese Reflexionen sind daher nicht mehr der begründungsorientierten, theorielastigen „allgemeinen Ethik“ zuzurechnen, sondern einer problembezogenen, praxisorientierten „angewandten Ethik“: Angewandte EthikEthikAngewandte ist eine noch junge Teildisziplin der Ethik, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche und konkrete gesellschaftliche Probleme anwendet (vgl. Fenner 2010, 10ff.). Entsprechend der verschiedenen menschlichen Handlungsfelder mit unterschiedlichen moralischen Konflikten haben sich mittlerweile klassische Bereichsethiken wie Bio-, Wirtschafts- und Medienethik etabliert. Aufgrund des deutlichen Schwerpunkts auf dem biomedizinischen Enhancement in diesem Buch wären Fragen der Selbstoptimierung zunächst der weiteren Bereichsethik der BioethikEthikBio- zuzuordnen, die sich mit den ethischen Problemen im Umgang mit allem Lebendigen widmet. Angesichts der Dreiteilung des Lebendigen in menschliches, tierliches und pflanzliches Leben gehören sie im engeren Sinn zur MedizinethikEthikMedizin-, die sich mit den ethischen Problemen beim Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen befasst (vgl. ebd., 53). Angewandte Ethik versteht sich generell nicht mehr als rein wissenschaftliche Disziplin, sondern weitet sich aus zu einer Tätigkeit des gemeinsamen demokratischen Sich-Beratens in der Öffentlichkeit. Aufgabe der EthikEthiker in solchen Meinungsbildungsprozessen besteht wesentlich darin, Diskurse zu strukturieren und zu ihrer Versachlichung beizutragen. Statt einfache und klare Antworten zu geben und damit den Beteiligten die Urteils- und Entscheidungsfindung abzunehmen, sollen vielmehr deren Reflexions- und Argumentationskompetenzen durch begriffliche Differenzierungen und das Aufdecken unhinterfragter Wertvorstellungen gefördert werden.

Als eine Art Rahmentheorie kann dabei die von Karl-Otto Apel und Jürgen HabermasHabermas, Jürgen begründete DiskursethikEthikDiskurs- dienen, die beim ethischen Begründen des Moralprinzips von den Voraussetzungen moralischen Urteilens ausgeht (vgl. Fenner 2008, 110ff.). Denn wenn wir über ethisch strittige Praktiken wie z.B. biotechnologisches Enhancement diskutieren, orientieren wir uns den Diskursethikern zufolge immer schon an allgemeinen Diskursregeln: etwa die Regeln, dass alle sprach- und handlungsfähigen Wesen als vernünftige und gleichberechtigte Gesprächsteilnehmer respektiert werden und ihre Standpunkte einbringen können, alle ihre Positionen statt mit emotionalen Appellen oder Gewalt mit Argumenten und Gründen rechtfertigen und am Ende das beste Argument gelten lassen. Wer diese Regeln akzeptiert, erkennt aber implizit zugleich das diskursethische Moralprinzip an: Ethisch legitim kann diesem zufolge nur diejenige Norm sein, die bei allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung finden könnte. Nicht jeder faktische Konsens, sondern nur ein begründeter rationaler Konsens verbürgt wohlgemerkt nach diesem Prinzip die Legitimität von Normen.

Selbstoptimierung und Enhancement

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