Читать книгу Und dann kam das Wasser - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 6

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Die Passauer Altstadt liegt auf einer Landzunge, die nach Osten ragend in die sogenannte Ortsspitze mündet. Dort treffen Donau, Inn und Ilz zusammen. Normalerweise führt ein Weg direkt um diese Ortsspitze herum und lädt Besucher und Bewohner der Stadt zu einem interessanten Spaziergang ein. Für Kinder und Junggebliebene gibt es auf dem dortigen Spielplatz reichlich Gelegenheit zum Toben. Ein herrlicher Ort also, mit einer ganz besonderen Aussicht auf das Flusstal der Donau, die Wallfahrtskirche Maria Hilf und die Veste Oberhaus. Dass noch niemand auf die Idee gekommen war, dort ein Haus hinzubauen, lag wohl unter anderem daran, dass die Ortsspitze auch immer der erste Punkt war, der bei Hochwasser in den Fluten versank. Zumindest sah das in diesem Moment so aus. In Wirklichkeit stieg das Wasser über die gesamte Breite von Inn und Donau an, genauso, wie es in der Legende der biblischen Sintflut geschehen war.

Der Mann, der am Ende der Bräugasse stand und mit aufkeimender Verzweiflung versuchte, seine Zigarette zum Glühen zu bringen, dachte oft an diese und ähnliche Geschichten aus der Heiligen Schrift. Er liebte sie alle, weil sie schon seine Kindheit bevölkert hatten. Nach dem frühen Tod der Mutter konnte er sich mithilfe der christlichen Verse an ihre Stimme erinnern. Seine Mutter vermisste er sehr, auch wenn er wusste, dass sie inzwischen an einem besseren Ort war.

„Aber es gibt doch keinen besseren Ort als diesen“, flüsterte er dem Regen zu und sah sich vorsichtig um. Man durfte ihn weder hören noch sehen, sonst …

Er wusste nicht, was sonst geschehen würde, nur, dass ihn niemand sehen durfte. Seine Mutter hatte das immer gesagt. Und seine Mutter hatte nie gelogen. Basta. Das hatte zumindest immer seine Mutter gesagt, wenn sie keinen Widerspruch duldete.

Als er die Zigarette endlich angezündet hatte, beschattete er die Glut mit seiner freien Hand. Niemand durfte wissen, dass er hier war. Keiner ahnte, was er alles wusste, auch wenn es ihm manchmal herausrutschte. Seine Mutter hatte dann immer gesagt: Sei nicht so vorlaut! Nie hatte sie seinen Geschichten geglaubt. Hör auf mit den Lügen! Basta! Dabei musste man sich die verrücktesten Geschichten doch gar nicht ausdenken, das tat das Leben schon von ganz allein.

Als er sich sicher war, dass niemand ihn beobachtete, schlich er sich über die provisorischen Hochwasserstege, an der Nepomuk-Statue vorbei bis auf die Terrasse des griechischen Lokals und verbarg sich anschließend in dem kleinen höher gelegenen Gang, der hinter der ersten Häuserzeile verborgen lag. Er musste vorsichtig sein, denn seit das Wasser da war, nahmen die Bewohner diesen Weg, wenn sie die Häuser verlassen wollten.

Die Donau stand hier schon mehr als einen Meter hoch zwischen den Häusern und machte das Passieren unmöglich. Keiner wusste, wie lange es dauern würde, bis die Pegel wieder sanken, und jeder hoffte, dass es nicht höher stieg, als die Decken der Keller reichten.

Seit über vierzig Jahren lebte er im „Örtl“, wie die Menschen, die schon immer hier gewohnt hatten, ihre Gemeinde gern nannten. Er war auch einer von den Örtlern und wusste immer, wann das Wasser kam. Er hatte es im Gefühl. Er behielt die Flüsse, wie alles andere auch, im Auge. Angst aber hatte er nicht vor dem Wasser.

Er nahm einen letzten Zug, und weil er schon fast am Filter war, schnippte er die Kippe gleich darauf in den dunklen Gang hinein, wo sie augenblicklich in einer Pfütze verglühte. Dann wandte er die Aufmerksamkeit den beiden Männern zu, die, in wuchtige Stiefeln und dicke Jacken gekleidet, die Fenster und davor angebrachten Abdeckungen kontrollierten. Sie kamen vom Schloss Ort und mussten auf den Stegen direkt an ihm vorbei, sahen ihn aber nicht. Er war wie immer ein unsichtbarer Schatten. Wie das Gewissen vom Örtl.

Schließlich entdeckte einer der beiden Männer das offene Fenster, das zum alten Laden führte. Erst zögerte er noch, doch dann stieg er über den Steg hinein, schaltete seinen Strahler an und wartete, bis sein Kollege ihm gefolgt war.

Endlich, dachte er und lauschte auf ihre Unterhaltung. Er hatte seinen Platz verlassen und kauerte jetzt vor dem Fenster.

Der Laden stand seit einiger Zeit leer. Ein Grund dafür, warum er ihm immer wieder einen Besuch abstattete. Heute jedoch würde er nicht hineingehen, denn er hatte gehört, wie das Glas zu singen begann. Er wusste, was das hieß. Die Leute glaubten, er wäre dumm, aber da täuschten sie sich gewaltig.

Gerade spekulierten die Männer darüber, ob es in diesem Verschlag überhaupt etwas gab, was man retten sollte, und ob nicht einfach jemand vergessen hatte, das Fenster zu schließen. Das Patschen ihrer Schuhe zeigte, dass bereits Grundwasser eingedrungen war. Noch hielt der Sandsackverbau vor der Tür den steigenden Fluten stand, aber wenn der Druck auf die alten Fensterscheiben zu groß wurde, dann konnten sie leicht brechen, und dann …

Die Stimmen entfernten sich, drangen tiefer in das verlassene Haus ein, und er musste sich schon ein bisschen nach vorn beugen, um noch zuhören zu können. Doch auf einmal wusste er, dass sie am Ziel waren. Seine Finger kribbelten. Es war schön, wenn die Leute taten, wofür er sie vorgesehen hatte. Ohne das offene Fenster hätten sie nie nachgesehen, wären sie nie hineingegangen. Und hätten nie …

„O mein Gott!“, drang es urplötzlich aus den Tiefen des Hauses, und dieser Schrei kam dann doch so überraschend, dass er fast vom Steg gefallen wäre.


Und dann kam das Wasser

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