Читать книгу Und dann kam das Wasser - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 9

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Nur zwanzig Minuten später stieg Oberkommissarin Franziska Steinbacher an der Bräugasse auf den provisorischen Holzsteg, um zunächst vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis sie sich an den ungewohnten Unterbau gewöhnt hatte. Denn da, wo das Kopfsteinpflaster auf dem Platzl den Füßen sonst Halt gab, hatte sich das Wasser von Donau und Inn zu einem einzigen braunen See vereint. Einen Meter hoch stand es zwischen dem Waisenhaus und der Nepomukstatue und ließ das Stadtbild mehr denn je an das im Wasser versinkende Venedig erinnern. Nur diese Stege und der unermüdliche Einsatz der Feuerwehr ermöglichten es den Bewohnern der Ortsspitze, auch in diesem Ausnahmezustand in ihre Häuser zu gelangen und ein halbwegs normales Leben zu führen.

Franziska blickte sich nach ihrem Kollegen Hannes Hollermann um, der direkt hinter ihr lief. „Ich glaube, da vorne ist es“, rief sie und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ein Haus, das direkt am Donaukai lag.

Der Steg, auf dem sie balancierten, führte bis zu einem höher gelegenen seitlichen Fenster, lag an dieser Stelle aber schon einige Zentimeter unter Wasser, und als sie näher kamen, gaben ihnen die wartenden Feuerwehrmänner ein Zeichen vorsichtig zu sein. Doch das Team der Passauer Mordkommission hatte sich inzwischen an den feuchten Untergrund gewöhnt und schritt zügig voran.

„Franziska Steinbacher“, stellte sich die Kommissarin kurz vor und reichte den beiden Männern nacheinander die Hand. „Wo müssen wir hin?“

Die Feuerwehrmänner waren gut ausgerüstet, trugen wasserfeste Jacken und Hosen, die in schwere Stiefel mündeten, und waren so zumindest teilweise vor der durchdringenden Nässe geschützt. Auf dem Kopf trugen sie Helme mit Stirnlampen, deren Schein Franziska blendete.

„Er liegt im Laden hinter dem Tresen“, erklärte der größere der Wehrmänner, der sich als Thomas Frömml vorgestellt hatte, und sah erst das schmale Fenster und dann die Kommissarin abschätzend an.

„Da drin?“, mischte sich Hannes ein, und als die beiden nickten, warf er seiner Kollegin einen skeptischen Blick zu.

„Gibt es keinen anderen Zugang?“, wollte die wissen, doch die beiden Feuerwehrmänner verneinten mit einem kurzen Kopfschütteln.

„Der eigentliche Eingang liegt vorn zur Donau hin, steht aber völlig unter Wasser“, erklärte der Kleinere, Michael Wieser, geduldig. „Aber wenn Sie lieber nicht … ich meine, das Fenster ist ja wirklich nicht sehr groß.“

„Ach was“, wischte Frömml die Bedenken der Umstehenden beiseite. „Wir haben von innen schon eine Leiter hingestellt, das ist gar kein Problem.“

Die Kommissarin nickte, klaubte ein paar Habseligkeiten aus ihrer Tasche und hängte sie dann an den außen angebrachten Fensterladen. Auf keinen Fall wollte sie hier vor der versammelten Männlichkeit als Angsthase gelten.

„Halt!“ Frömml hielt sie am Ärmel fest. „Ich mach den Anfang, dann können Sie mit Ihrem Kollegen folgen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, schob er Franziska zur Seite und kletterte auf das Fensterbrett. Nachdem er kurz im Inneren des Hauses verschwunden war, erschien er wieder im Fenster und reichte der Kommissarin die Hand. Unwillig griff Franziska zu. Sie war sich sicher, es auch ohne ihn zu schaffen. Genau wie Hannes, der ihr gleichmütig folgte – und ohne, dass ihm jemand eine helfende Hand anbot.

Drinnen herrschte eine diffuse Dunkelheit, und nur die Stirnlampe am Helm des Feuerwehrmannes spendete ein wenig Licht. Als auch sein Kollege durch das Fenster in den Raum gestiegen war, schalteten sie die mitgeführten Strahler an, und Frömml wies die beiden Kommissare darauf hin, auf das eindringende Wasser zu achten.

Franziska blieb stehen, zog eine kleine Taschenlampe aus der Hosentasche und begann, sich in deren Lichtstrahl zu orientieren. Sie waren in einen höher gelegenen Nebenraum eingestiegen, der in früheren Zeiten als Lager gedient haben musste, was sie daraus schloss, dass überall geräumige, teilweise rostige Metallregale herumstanden. Um in den eigentlichen Laden mit dem großen Verkaufstresen und dem breiten Schaufenster zu gelangen, mussten sie ein paar wenige Stufen in den Hauptraum hinuntergehen.

Am Ende der Treppe stand bereits das Wasser. Sie würden sich also beeilen müssen, dachte Franziska und registrierte im Vorbeigehen etliche Reihen mit Sandsäcken, die von außen Schaufenster und Ladentür sicherten. Dann fielen ihr zwei Metallpfeiler auf, die mit einer dicken quer geschobenen Bohle die Decke abstützten.

Kaum war die Kommissarin jedoch bei den Männern hinter dem großen Verkaufstresen angekommen, vergaß sie alles, was sie gerade gesehen hatte. Vor ihr auf dem gefliesten Boden lag ein Mann. Zumindest war aufgrund dessen, was man überhaupt erkennen konnte, davon auszugehen, dass der Tote männlich war. Kopf und Oberkörper steckten in einem blauen Müllsack, der in Hüfthöhe mit Paketklebeband umwickelt war. Beide Hände lagen eng an den Hosenbeinen an. Der leblose Körper war mit Jeans und schwarzen Männerhalbschuhen bekleidet, die Beine an mehreren Stellen mit Paketklebeband umwickelt.

Franziska leuchtete die Gestalt mit ihrer Lampe ab, bis ihr die linke Hand der Leiche ins Auge stach. Daumen und Zeigefinger der kräftigen und mit dunklen Haaren bewachsenen Männerhand wiesen an mehreren Stellen zackige, teils bogenförmige Wunden auf. Interessiert bückte sich die Kommissarin hinunter, musste sich aber bald schon eingestehen, dass sie eine solche Verletzung noch nie gesehen hatte.

„Sieht aus, als ob er gefoltert wurde“, überlegte sie laut und sah Hannes an.

Doch der zuckte nur mit den Schultern, bevor er vorschlug: „Wir sollten die Kriminaltechnik verständigen.“

„Ja“, willigte Franziska ein, doch schon im nächsten Moment drang ein Geräusch an ihr Ohr, dass ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Die Glasscheiben von Schaufenster und Ladentür begannen laut zu knirschen, was sich wie ein schauriges Singen anhörte. So als würde jemand mit einem Diamantring wild über eine Glasscheibe ritzen. Nervös wanderte der Blick der Kommissarin von den beiden Feuerwehrmännern zur maroden Ladentür und zum Schaufenster und streifte dabei auch die provisorische Abstützung der Decke, bei deren Anblick ihr noch mulmiger wurde.

„Wie sollten schauen, dass wir schleunigst hier rauskommen“, meinte Frömml nach einem Blick zur Fensterfront, und so, wie er es sagte, klang es kein bisschen wie ein freundlicher Ratschlag. „Das Wasser steigt in einem gewaltigen Tempo.“

Wir zur Bestätigung seiner Aussage knirschten erneut die Scheiben.

„Gut, dann lass uns loslegen“, beschloss Franziska mit fester Stimme, zog die Kamera aus der Jackentasche und fotografierte die verpackte Gestalt und einzelne Ausschnitte in der Detailansicht, vor allem die Spuren an der Hand. Anschließend wandte sie sich an Hannes, der bisher untätig herumgestanden und seiner Kollegin bei der Arbeit zugesehen hatte. „Hast du ein Taschenmesser dabei?“

Hannes zuckte mit den Schultern, kramte aber in seiner Hosentasche und zog schon bald darauf einen länglichen Gegenstand hervor, den er Franziska entgegenhielt.

„Halt mal.“ Sie gab ihm die Taschenlampe, nahm das Messer und wies ihn an: „Leuchte mal hier auf den Kopf!“

Hannes tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf hatte Franziska den Müllsack an der Seite aufgeschnitten und das Gesicht des Toten freigelegt. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, Mitte vierzig, gut genährt, ohne sichtbare Gesichtsverletzungen. Seine trüben Augen blickten ins Leere. Wie bei den meisten toten Menschen sagte sein Gesichtsausdruck nichts darüber aus, was er hatte erleiden müssen, bevor ihm ein tiefer Schnitt auf der linken Halsseite zugefügt worden war.

Franziska hob die Kamera, um die Position des Kopfes und des Schnittes festzuhalten, doch noch bevor sie den Auslöser betätigen konnte, vernahm sie erneut das laute Knirschen des Glases. Sorgenvoll blickte die Kommissarin dorthin, wo die Donau vor dem Haus bereits weit oberhalb der Sandsäcke zu sehen war und auf einmal hatte sie das beunruhigende Gefühl, als stünde sie in einem übergroßen leeren Aquarium, dessen Scheiben jederzeit einbrechen konnten, um das Wasser der Donau und alles, was darin schwamm, zu ihr hereinzulassen.

„Wir müssen jetzt wirklich raus“, mahnte der größere Feuerwehrmann und durchbrach die ehrfurchtsvolle Stille im Raum. „Das hier ist alles schon ein bisschen älter, und keiner weiß, wie lange das Glas dem immensen Druck standhalten kann.“

„Gut, dann nehmen wir ihn mit“, entschied Franziska, aber das Glas der Ladentür sang inzwischen so laut, dass es ihre Stimme beinahe übertönte.

„Sie haben Ihre Anweisungen, und ich meine. Bei uns geht der Eigenschutz vor, und weil wir für ihn ohnehin nichts mehr tun können“, er zeigte zu dem Mann, dessen Körper halb im Müllsack steckte, „sage ich: Wir gehen. Jetzt!“

Frömml nickte seinem Kollegen zu, woraufhin beide um den Tresen herum in Richtung Lagerraum und Fensterausstieg stapften. Hannes wandte sich ebenfalls um, nur Franziska blieb zurück und fotografierte fluchend alles, was ihr wichtig schien.

„Wo bleiben Sie denn?“, rief Frömml vom höher gelegenen Nebenraum.

Hannes drehte sich wieder zur Kollegin um. „Komm jetzt!“, rief er und versuchte energisch, nach Franziskas Arm zu greifen. Doch so schnell wollte die nicht aufgeben.

„Lass mich wenigstens noch ein paar Fotos machen.“ Sie entzog sich seiner Hand und knipste, sobald der Blitz wieder bereit war, in den Raum hinein. Immer wieder erhellte das grelle Licht der kleinen Kamera für einen Moment den schaurigen Tatort, bevor er erneut in einer diffusen Dämmerung verschwamm. Akustisch wurde die Szene von dem technischen Sirren der Kamera, wenn sich der Blitz wieder auflud, und dem unheimlichen Knirschen des Glases beherrscht. Unermüdlich wechselte die Kommissarin die Perspektive, um auch alle anderen Teile des Raumes festzuhalten.

Während sie sich Schritt für Schritt voran arbeitete, orientierte sie sich an dem massiven Tresen, als könnte er ihr, wie ein Fels in der Brandung, Halt geben. Ohne auf die warnenden Stimmen der Feuerwehrmänner und die aufgeregten und besorgten Rufe von Hannes zu hören, machte sie weiter, bis es in einem ohrenbetäubenden Knall die Schaufensterscheiben und die Glaseinsätze der Ladentür zerriss.

Braune Wassermassen schossen herein und füllten den Raum in Sekunden aus. Alles, was sich ihnen entgegenstellte, wurde einfach umgeschmissen und dann mitgerissen, bis sich die nächste stabile Wand den Wassermassen entgegenstellte. So erging es auch Franziska. Unfähig, sich nach dem lauten Knall noch in Sicherheit zu bringen, wurde sie vom eiskalten Wasser erfasst, herumgewirbelt und schließlich gegen den Tresen geschleudert, der ihr jedoch keinen Halt bot. Ohne wirkliche Orientierung versuchte sie die Wasseroberfläche zu erreichen, und als es ihr tatsächlich gelang, wurde ihr klar, dass sie sich knapp unterhalb der Decke befand.

Ist das Wasser schon so hoch gestiegen?, dachte sie, und dann schnappte sie hastig nach Luft, denn schon wurde sie erneut hinunter in die kalte braune Donau gezogen. Ihre Kleidung hinderte sie an sinnvollen Schwimmbewegungen, und die Muskeln waren von der Kälte des Wassers innerhalb von Sekunden träge und beinahe nutzlos geworden.

Nachdem die Donau den Raum erst einmal eingenommen hatte, stieg das Wasser zunächst höher und höher, bis es sich dem Niveau draußen vor der Tür angepasst hatte und schließlich zur Ruhe kam. Für Franziska dauerte dieser Vorgang eine Ewigkeit. Bei ihrem zweiten Versuch, Luft zu schnappen, hatte sie einige Schluck Donauwasser erwischt und trieb jetzt würgend und hustend und erneut Wasser schluckend in der Brühe, die sie gefangen hielt, ohne sie wirklich festzuhalten. Immer wieder wurde sie von herumschwimmenden Gegenständen gestreift, und bei ihrem Versuch, sich an irgendetwas zu klammern, daran erinnert, wie glitschig Wasser war.

Längst hatte sie die Orientierung verloren und begann gerade, mit ihrem Leben abzuschließen, als sie in der Ferne ein ganz schwaches Licht ausmachte. Kurz dachte sie an Walter und Hannes und sogar an Obermüller und daran, ob sie sie vermissen würden. Seltsame Bilder kamen in ihr hoch. Sie glaubte sich in einem Tunnel, der sie immer tiefer in sich hinein sog, bis am Ende … War das das Ende? Sah sie gleich ihren Lebensfilm rückwärts ablaufen, und wenn sie wieder Kind war, dann war alles vorbei?

Mit letzter Kraft begann Franziska mit den Armen zu rudern und mit den Beinen wild ins Wasser zu treten, bis sie tatsächlich etwas berührte, von dem sie sich abstoßen konnte. Und dann wurde das Licht heller, und sie hörte eine Stimme, Hannes‘ Stimme, die nach ihr rief: „Franziska!“

Sie spürte eine Hand, die nach ihr griff, sie aber nicht fassen konnte. Mein Gott, Hannes war da, Hannes wollte sie retten. Mit aufgerissenen Augen versuchte sie die Stelle zu erreichen, von der das Licht und weitere Stimmen kamen, und als sie es endlich schaffte, erneut eine Hand spürte, die nach ihr griff und an ihr zog, als sie sich schon gerettet wähnte, bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf und versank erneut in gnädiger Dunkelheit.


Und dann kam das Wasser

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