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Cord 9.

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War sie irre? Sie war Künstlerin, vermutlich bildhübsch und talentiert. Irre zu sein gesellte sich da beinahe nahtlos in die Reihe der Attribute, die man üblicherweise für Leute wie sie heranzog. Wenn es da nicht diese unumstößlichen Tatsachen gäbe, diese winzigen Übereinstimmungen, klein, aber groß genug, um sie nicht zu übersehen. Nein, man durfte sie nicht übersehen.

Dennoch beschloss Cord die Sache vorerst ruhen zu lassen und sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Er brauchte Klamotten, Kleidung, in der er sich im Büro würde blicken lassen konnte. Und er brauchte Nikotinpflaster, am besten im Halbjahresvorrat. Cord strich die ungeordnete Mähne aus dem Gesicht und stierte die Person im Spiegel ungeniert an.

Auch gestern war es wieder spät geworden. Sehr spät. Er war mit Leila und Georg nach dem Training noch in den Bars der Innenstadt versumpert, bis auch die letzte in dieser einsamen Mittwochnacht ihre Pforten geschlossen hatte. Leila hatte sie beide angetrieben und, angespornt von der Aussicht auf einen freien Donnerstag, schamlos dazu benutzt, einen Drink nach dem anderen zu bestellen. Bis Georg irgendwann w.o. gegeben hatte und Cord ihr von einem Augenblick auf den nächsten allein gegenübergesessen war.

Um vier Uhr morgens waren die Straßen eiskalt gewesen und hatten diese anrüchige Aura einer Hure gehabt. Cord war nicht darauf eingestiegen. Den Kopf plötzlich kristallklar wie die Nachtluft um sie herum, hatte er sich von ihr verabschiedet und war die wenigen Straßen bis zu seiner Wohnung zurückgeschlendert. Er war keine Hure. Auch wenn er nicht wusste, was er war.

Die Sonne blinzelte zaghaft durch eine dünne Schicht aus Wolken. Cord hatte das Rollo in der Küche hochgezogen und betrachtete das Treiben im Innenhof. Die alte Buckelige vom Erdgeschoß schleppte ihren zitronengelben Müllsack zu der aus allen Nieten platzenden Tonne und stellte ihn daneben ab. Eine schwarze Katze huschte eilig an ihr vorbei und verschwand in einem Spalt durch die restlos von Efeu bedeckte Mauer.

Cord öffnete das Fenster und von irgendwoher wehte der Geruch frisch angebratener Zwiebel zu ihm herüber. Er mochte das Aroma und es gab seinem Inneren den notwendigen Ansporn, sich endlich gegen diese elendige Leere zur Wehr zu setzen. Der Restalkohol zusammen mit der schwachsinnigen Idee, gleich nach dem Aufstehen eine Runde zu joggen, hatten seinem Magen vorerst übel aufgeschlagen. Doch langsam kehrte Leben in alle Regionen seinen Körpers zurück und er sog das deftige Aroma gierig durch die Nase ein.

Cord biss in den börsenschonenden Halbbruder eines Knabbernossis und schnappte sich eine Semmel aus der endlich wieder gut gefüllten Brotbox. Er hatte denkbar wenig Lust sich in die gewinngeilen Straßen dieser Stadt zu stürzen, um nach adäquater Bürokleidung zu fischen. Als Draufgabe hatte sich für den späten Nachmittag seine Ex angekündigt, um ihre restlichen Sachen abzuholen. Die wesentlichen Dinge fingen an, ihm maßlos auf die Nerven zu gehen. Fast automatisch schaltete Cord seine Playstation an, um diesen unaufschiebbaren Notwendigkeiten ein wenig gefasster entgegenzutreten.

Das Rollenspiel ging nur schleppend dahin. Ständig hatte er sich mit einer anderen, kaum bewältigbaren Aufgaben herumzuschlagen und nach einer langen, wenig zufriedenstellenden Stunde warf er schließlich entnervt den Controller und verließ seine Wohnung.

In seinem Kopf flimmerte es ein wenig. Die endlose Kette an Zigaretten half wenig und Cord ertappte sich dabei, wie seine lauwarmen Hände in den Jackentaschen zu zittern anfingen. So viel hatte er gestern nun auch wieder nicht getrunken. Der Inhalt seiner Geldbörse hätte ihm schon Einhalt geboten, wäre er tatsächlich an seine magische Grenze gelangt.

Unmotiviert probierte er einige Stücke an und ließ sich eine dunkelgraue Hose von einer aufdringlich zuvorkommenden Verkäuferin zurücklegen. Die Hose passte wie angegossen, aber sie war außerdem schweineteuer und Cord hatte nicht vorgehabt, sich gleich in der ersten Woche einen Ruf als Dressman zuzuziehen.

In einer allseits beliebten Fastfoodkette bestellte er sich einen Burger und einen Becher in Übergröße. Eingeschlossen vom wahnwitzigen Geplärr in der Warteschlange sah er an sich herunter. Die Haut an seinen Händen war leichenblass und seine Finger fühlten sich auf einmal seltsam schwer an. Fast als hätten sie etwas dagegen, dass er sie für etwas Minderwertiges, wie das Verspeisen von Junkfood, heranzog. Cord stopfte den Burger in sich hinein und spülte mit dem süßlichen Getränk nach.

Als er fertig war, entschloss er sich kurzerhand dazu, die Hose in dem Shop gegenüber, gegen jegliche Vernunft, doch zu erstehen. Gemütlich schlenderte auf die riesige Schwingtür am Ausgang zu. Links von ihm ertönte leidenschaftliches Gelächter und Cord drehte den Kopf in die Richtung, aus der es gekommen war. Ein minderjähriges Trio hatte sich um einen Berg von Verpackungsmaterial versammelt und verfolgte schnellwechselnde Szenen auf einem Smartphone. Cord zwängte sich in die sonnige, jedoch frostige Februarluft und überquerte die Straße.

Vor dem Eingang des Shops passierte es ein weiteres Mal. Ein unbedeutender Augenblick des Schwindels, gefolgt von einem umso beängstigenderen Gefühl der Ohnmacht. Cord blieb an die Stange eines Verkehrsschilds gelehnt stehen und starrte auf den Boden zu seinen Füßen. Kaugummis, Tschickstummel, eine einsame Dose eines Energydrinks.

Nach einer Minute hatte er sich wieder gefangen und stakste auf den Eingang des Geschäfts zu. Dort bezahlte er für die überteuerte Hose und beobachtete die Verkäuferin dabei, wie sie einen Gutschein für einen nächsten Einkauf in dem dezenten Plastiksack verschwinden ließ.

Es ratterte und Cord schreckte hoch. Die grelle Beleuchtung des Verkaufsraums und der auf- und abschwellende Geräuschpegel, der sie alle umhüllte, hatten von einem Moment auf den nächsten so etwas wie Panik in ihm ausgelöst. Cord begann unter seiner dicken Winterjacke zu schwitzen und befürchtete, dass das unerklärliche Gefühl der Ohnmacht jede Sekunde zurückkehren würde. Ungewöhnlich wortkarg verabschiedete er sich von der Verkäuferin und betrat den Gehsteig.

Die U-Bahn mit ihrer unvermeidlichen Enge und dem stetigen Geratter stellte im Moment keine Alternative für ihn dar. Stattdessen hatte Cord es vorgezogen, den Heimweg auf einer der Parallelstraßen zu dem wilden Getümmel der Einkaufsstraße anzutreten. Mit pochendem Herzen marschierte er so rasch es ihm möglich war durch die schmalen Gassen der Innenstadt. Immer wieder war es ihm, als würde sein Herz zu einem Sprung ansetzen und gleich darauf mit leicht erhöhter Geschwindigkeit weitergaloppieren. Irgendwann wurde es ihm zu bunt und Cord begann auf den letzten Metern zu seiner Wohnung zu laufen. Ohne Unterbrechung joggte er die Treppen in den dritten Stock hinauf und schloss erleichtert die Augen, als er endlich die Wohnungstür in seinem Rücken spürte. Mit dem Rücken an die metallisch kühlen Fläche gelehnt, glitt er daran hinab und landete wenig sanft auf dem harten Fliesenboden darunter.

Immer wieder sauste ein hohles Pfeifen durch seinen Kopf und löste das dumpfe Dröhnen im Hintergrund für den Bruchteil einer Sekunde ab. Kurz überlegte Cord die Rettung zu alarmieren und verwarf den Gedanken, als er darüber zu spekulieren begann, wie das Telefongespräch wohl ablaufen würde. Nein. Mit einem mickrigen Kreislaufkollaps würde er schon selbst fertig werden müssen.

Cord legte sich auf die Couch und streckte die Beine leicht erhöht auf der Seitenlehne aus. So hatte man es ihm doch in der Schule beigebracht. Als er mit einem mulmigen Gefühl auf der Garderobenbank darauf gewartet hatte, dass sich die Schulärztin seiner Schnittwunde annehmen würde. Cord befühlte seinen Kopf. Normal. Weder heiß, noch kalt. Vermutlich war die eilige Rückkehr einfach keine allzu geniale Idee gewesen. Langsam spürte er, wie die Lebensgeister gemächlich zu ihm zurückkehrten und er setzte sich, beinahe ein wenig zu euphorisch, in der weichen Bank auf.

Die schrille Glocke an der Eingangstür erklang und ließ die heimgekehrten Geister erneut die Flucht ergreifen. Cord rappelte sich hoch und schleppte sich übertrieben vorsichtig zum Türspion.

„Hallo Diana.“

„Hi. Bin gleich wieder weg.“

„Nimm dir Zeit.“

Diana marschierte schnurstracks in sein Schlafzimmer und öffnete seine Schranktüren, als wären es die ihren, die nur durch einen dummen Zufall an einen anderen Ort verbannt worden waren.

„Sorry, dass es so kommen musste. Aber, mal ehrlich, das alles hätte doch zu nichts mehr geführt.“

Sie sprach mit dem Schrank und Cord fühlte sich nicht dazu bemüßigt, darüber nachzudenken, wohin die Dinge führen konnten. Mehr zu sich selbst nickte er und ließ sich auf das Bett daneben sinken. Sein Mund war staubtrocken.

„Möchtest du etwas trinken? Ich hol mir nur schnell...“

„Nein, danke.“ „Klar, mach nur.“

Cord war erleichtert, ihr den Rücken zuzukehren und konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einen derartigen Heißhunger auf ein simples Glas Wasser verspürt hatte. Über die Abwasch gebeugt füllte er das Glas erneut und starrte in den Mund des aufgemalten Breitmaulfrosches darauf. Als er das Glas wieder absetzte, konnte er Diana im Rücken spüren. Sie war beinahe lautlos in den Türrahmen getreten und blickte zu ihm hinüber. Cord drehte sich zu ihr um.

„Schon das von New York gehört?“

„Nein.“

„Ein Haufen Terroristen hat vor ´ner knappen Stunde eine U-Bahn in die Luft gesprengt. Über hundert Tote. Schon krank, wie es momentan so zugeht, nicht?!“

Cord schluckte.

„..rank.“

Das K war irgendwo zwischen seinem Kehlkopf und dem Gaumen falsch abgebogen. Er bemühte sich nicht, das Gesagte zu wiederholen. Es wäre zwecklos gewesen. Diana hatte ihm bereits den Rücken gekehrt und bückte sich, um in ihre Stiefel zu steigen.

„Na gut, dann werd´ ich mal wieder... Ciao Cord!“

Cord riss sich aus seiner Starre und begleitete sie zur Tür.

U-Bahn. New York. Tote. Wann war das genau gewesen?

Er lächelte ihr zu, als der Türspalt zwischen ihnen immer kleiner wurde.

Internet.

Cord machte auf dem Absatz kehrt und hing sich vor seinen Computer.

New York.

Die Bilder waren schneller auf dem Bildschirm erschienen, als seine Gedanken es hatten zulassen wollen. Rauch. Einsatzkräfte. Neongelbe Jacken und verzweifelte Gesichter. New York war einmal mehr das Opfer und die Medien zeichneten der Stadt bereits ihr Gedenkportrait.

Cord blickte in die Gesichter. Pietätlos glotzte er sie an, als hätte er jedes Recht dazu, ihren Schmerz zu begaffen. Staubige Gesichter. Blutige Gesichter. Blonde Haare. Schwarze...

Cord rannte ins Badezimmer und fand sich gerade noch rechtzeitig über der Kloschüssel ein, als ein Schwall klaren Wassers den entgegengesetzten Weg ins Freie suchte. Heute war eindeutig nicht sein Tag. Der Gedanke von Selbstmitleid verwandelte sich blitzschnell in peinigend schlechtes Gewissen. Was sollten sie Angehörigen von über hundert Toten über den heutigen Tag sagen. Cord war ein elendiges Weichei und die Erkenntnis darüber fühlte sich um nichts besser an.

Natürlich würde er nicht umhinkommen, ihr zu schreiben. Sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Allein der Gedanke, sie könne in genau dieser Bahn gesessen haben, war absurd. Grenzenlos absurd.

Dennoch. New York war ein winziger Punkt in dem Atlas, der seit Menschengedenken auf dem untersten Fach seines Bücherregals verweilte.

„Hi Milk! Schlimme Sache. Wann wird es endlich ein Ende dieses Wahnsinns geben? Mein Beileid an deine Stadtkollegen. Ich hoffe, dir geht es gut. Cord“

Er hatte es beiläufig klingen lassen wollen und hatte sich ein wenig über die theatralische Formulierung gewundert, die er gewählt hatte. Dennoch war er der Meinung, dass er es ganz gut hingebogen hatte. Cord ließ das Handy auf den Wohnzimmertisch gleiten und drehte den Fernseher auf. Wie zu erwarten, hatten die meisten Sender nur ein Thema zu bieten und Cord drückte sie weg. Die banale TV-Serie eines amerikanischen Vorortamerika brachte genau jene Ablenkung, die er brauchte. Nach zwanzig Minuten döste er erschöpft ein.

Sin.n.e

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