Читать книгу Sin.n.e - Danie Novak - Страница 9

Оглавление

Milk

7.

Sie genoss das kribbelnde Gefühl, das der Gedanke an ihn ausgelöst hatte. Heute Morgen war sie viel zu früh aufgewacht und hatte sich sofort mit ihrer Fototasche über der Schulter auf den Weg gemacht. Seine letzten Worte hatten sie neugierig gemacht, hatten sie genau dorthin gebracht, wo er sie hatte haben wollen. Das wusste sie. Und noch etwas wusste sie. Es waren nur noch zwei Tage, bis sie ihm endlich persönlich gegenüberstehen würde. Dann würde das ewige Schreiben und Skypen endlich ein Ende haben und sie könnte endlich sein wahrhaftiges Gesicht sehen, nicht nur jenen digitalen Schein davon.

Vielleicht in einem Café, mit schottischen Memoiren an den Wänden und dem Lärm der gepflasterten Straße im Hintergrund. Milk hätte Luftsprünge machen können, so sehr sehnte sie sich danach, die gemeinsamen Vorbereitungen endlich in die Tat umzusetzen. Das benutzte Ticket in einem Mülleimer im Hotel zu entsorgen und nach Europa zurückzukehren. Zwei Tage noch.

Ihr Mobiltelefon jodelte einmal und sie begann wild in ihrer Tasche danach zu kramen, bis ihre Finger es endlich zu fassen bekamen. Sie hatten sich noch für keinen Treffpunkt entschieden, vielleicht...?

Aber es war nur ihre Schwester Alice. Milk hatte schon wieder vergessen, dass sie geplant gehabt hatte in der letzten Woche nach New York zu reisen und es aus den ewig gleichen Gründen hatte absagen müssen. Die Enttäuschung hatte nur kurz gewährt. Miriam kannte ihre Schwester. Sie würde nicht locker lassen, bis sie das bekam, was sie sich vorstellte. Alice und ihr Wunderland. Milk überflog die Nachricht und drückte sie weg. Dabei stieß sie auf das Bild des Wieners. Sie musste lächeln. Er war süß, so ungewollt präsent und ungekünstelt. Kurz fragte sie sich, ob er wohl für eine Fotomontage zur Verfügung stehen würde, dann sausten ihre Gedanken zurück nach Schottland. Glasgow. Zu Ihm.

Scott Cochrane besaß Ateliers in Glasgow und Edinburgh und gondelte zwischen den beiden Städten umher. Sie hatten sich letztes Jahr auf einer Kunstmesse in London kennengelernt und den Kontakt gehalten. Beide waren sie in eine hoffnungslose Beziehung verstrickt gewesen, beide hatten sie gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde. Dennoch hatte es gedauert. Vielleicht lag es an der Distanz, vielleicht an Milks exzentrischer Natur, die ihr Umfeld auf Abstand hielt. Mit beidem hätte sie leben können. Nicht aber mit der Tatsache, dass er sie nicht wollte.

Milk sortierte die Unterlagen auf ihrem gigantischen Arbeitstisch und blätterte gerade durch die Nahaufnahmen einer rostigen Ankerkette, als seine SMS kam.

„Hey sweetheart! Schon aufgeregt? Ich schlage vor, wir treffen uns direkt in Edinburgh. Wenn du deine Ankunftszeit hast, gib mir Bescheid und ich hol dich vom Busbahnhof ab. Ich kann’s kaum erwarten!! xxx“

Es war kindisch, doch sie las seine Nachrichten immer mindestens dreimal, bis sie endlich genug davon hatte. Diesmal reichten zweieinhalbmal. Edinburgh? Milk hatte gehofft, er würde sie direkt am Flughafen von Glasgow in die Arme schließen. Diese unerwartete Verlängerung der Anreise stimmte sie missmutig und sie ließ die Bilder ruhen, um sich eine heiße Tasse Tee zu kochen. Matcha. Der neueste Trend aus Japan war in ihren Vorratsschrank eingefahren wie ein grüner Blitz und hatte den zuvor so hoch gelobten Matetee aus dem Regal verbannt. Sie goss das grüne Pulver mit heißem Wasser auf und verrührte es kräftig mit dem Chasen. Der kleine Bambusbesen arbeitete beflissen an dem festen Schaum und kam dennoch nicht an das Idealbild auf der Verpackung heran.

Milk marschierte zurück in ihr Arbeitszimmer und nippte kurz an der viel zu heißen Schale. Mochte er Tee? Sie hatte keine Ahnung.

8.

5 Uhr 32. Das konnte nicht wahr sein! Fünf plus drei macht acht, plus zwei macht zehn. Eins plus null... Was war bloß mit ihr los?

Milk rollte sich in ihrem ‚queen sized bed‘ auf die andere Seite und zog die dicke Daunendecke über ihren Kopf. Durch die Ritzen fiel das Licht vom Badezimmer. Sie musste es in der Nacht angelassen haben. Mit ihrer flachen Hand stopfte sie die Löcher und schloss die Augen. Dunkelheit. Feste stickige Dunkelheit.

Milk kämpfte sich aus ihrer weichen Hülle und stierte auf die halbschattige Wand ihres Schlafzimmers. Afrikanische Masken, eine Porzellanpuppe ihrer Großtante und die üblichen Nahaufnahmen in Schwarz und Weiß.

Ferngesteuert folgte ihr erster Handgriff Richtung Telefon und sie scrollte die letzten Nachrichten durch. Nichts von ihm. Nada. Nothing. Nur das Bild des umnachteten Wieners. Wieder musste sie schmunzeln. Wie war er nur an ihre Telefonnummer gelangt. Auf ihrer Homepage hatte sie nur die Nummer ihres amerikanischen Firmenhandys angegeben.

„Schon wach? Wollte dich gestern nicht in Verlegenheit bringen! ;-)“

Leichtfertig ließ sie das Smartphone aufs Bett zurückgleiten und verschwand ins Badezimmer.

„Schon verziehen ;-) und wo denkst du hin? Donnerstag um halb zwölf? Tagdienst seit über 50 Minuten!“

Milk knetete ihre schwarzgefärbten, langen Haare in einem türkisen Handtuch trocken und las die Nachricht ein weiteres Mal. Und noch einmal. Irgendetwas an der Wahl seiner Worte hatte sie stutzig gemacht. Doch so sehr sie auch nach einer Begründung dafür suchte, sie kam nicht dahinter. Seine Nachricht war so alltäglich, so... Was eigentlich? War es womöglich die Art von Antwort, die sie selbst geschickt hätte? Nein, irgendetwas daran stimmte einfach nicht.

„Und du? Schlafstörungen?“

Ja, das waren eindeutig nicht die Worte des netten Jungen von gestern. Es waren die Worte der Nachrichten davor. Seiner ersten drei Nachrichten, die er sich geweigert hatte geschickt zu haben. Hatte sich jemand in ihr Smartphone gehackt und spielte nun mit ihr? Der beängstigende Gedanke verweilte wie eine eisige Hand auf ihren Rücken.

Miriam gab seine Nummer in ihr amerikanisches Telefon ein und antwortete auf seine SMS.

„Wieso? Der frühe Vogel usw... scheiße ja, das oder Wachstörungen. Was machst du gerade?“

Milk starrte auf das Display und am liebsten hätte sie ihm ein ungeduldiges ‚Na mach schon‘ zugeflüstert. Nach fünf Minuten bangen Wartens stand sie auf und wanderte in ihr Atelier. Für Frühstück hatte sie wenig übrig. Ab und zu ein Croissant im Café gegenüber. Kaffee in Maßen, lieber Tee.

Der chaotische Raum blickte ihr nichtssagend ins Gesicht. Keine Inspiration, kein Garnichts. Ein kaltes ‚Was willst du?‘ in Anbetracht der frühen Morgenstunde. Miriam machte kehrt und kochte sich eine Kanne Tee. Dann tappte sie noch immer bloßfüßig zurück in ihr Schlafzimmer und warf einen Blick auf das erleuchtete Display. Ein kleines Briefsymbol. Etwas in ihr schlug von unten an das Innere ihrer Schädeldecke und als sie sich setzte, spürte sie, wie sich ihr Puls beschleunigt hatte.

„Komme gerade vom Joggen. Wachstörungen? Würde ein gutes Virenprogramm samt blickdichter Firewall empfehlen. C.“

Die kalte Hand von vorhin hatte an Größe zugelegt. Verflucht! Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Es hatte sich also tatsächlich jemand in ihr Handy gehackt! Etwas Blöderes hätte ihr im Moment nicht passieren können. Sie brauchte das stumpfsinnige Ding in Europa. Und was noch viel wichtiger war. Welche Informationen hatte ihr verräterisches, elektronisches Ich bereits über sie preisgegeben?

Miriam schaltete das Telefon ihres Heimatlandes aus und nahm Akku und SIM-Card heraus.

„Sorry, werde mich drum kümmern.“

Einem plötzlichen Einfall folgend, hing sie eine weitere Nachricht daran und sendete sie von ihrem amerikanischen Smartphone.

„Wann bist du heute aufgewacht?“

Das Wasser kochte und sie lief in die Küche, um den Kessel vom Herd zu nehmen. Sie stand einfach auf diese nostalgischen Details. Milk ließ einen Löffel mit Gunpowder Blättern hineinrieseln und sah zu, wie sie sich im Wasser entfalteten. Das Telefon vibrierte in ihrer Hand.

„ca. halb elf, wieso?“

„Nur so.“

Sie löschte die Nachricht. Dann hielt sie inne. Nur so? Nichts passierte nur so. Oder tat es das?

„Wieso hast du nicht auf mein wow geantwortet?“

Milk war bewusst, dass die Frage mehr als bescheuert war. Dass sie sich damit die Blöße gab, für einen neurotischen Stalker gehalten zu werden. Aber ihr fiel keine andere Möglichkeit ein, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen.

wow?… (was) hättest du geantwortet?“

Irgendwie war seine Antwort komplexer ausgefallen, als sie erwartet hatte. Milk nahm einen großen Schluck Tee und spielte mit der Kette an ihrem Smartphone. Eine asiatische Kundin hatte ihr den hippen Anhänger aus Taipeh mitgebracht. Eine schwarzweiße Figur in Form eines Drachen mit viel zu großem Kopf und rot lackierten Krallen. Sie konnte sich nicht an die Arbeit erinnern, die sie für sie erledigt hatte, aber an ihre rosaroten Strähnchen und die spitzen Eckzähne, die ihrem niedlichen Puppengesicht etwas durchaus Irritierendes verliehen hatten. Nein, fotografiert hatte sie die Asiatin mit Sicherheit nicht.

Cord. Milk wetzte auf ihrem Stuhl hin und her. Jetzt hatte sie ihre Antwort. Und sie würde genauso ausfallen wie seine eigene, wenn sie nicht plötzlich ein Geistesblitz ereilte.

„Cord? Es war doch Cord?...“ wie konnte sie das nur schreiben? Milk verdrängte den Gedanken und fuhr fort. „…Hattest du einen Border Collie, als du klein warst?“

„Ja, Cord ist immer noch richtig. Nicht klein, aber jung.“

Spielte er mit ihr? Sie strich über die grüne Taste auf ihrem Telefon. Call? Sie schob ihn beiseite. Doch es half nichts, irgendwann würde sie ihn zur Rechenschaft ziehen müssen. Aber nicht jetzt.

Das Handy landete auf dem Küchentisch und ihr Blick wanderte Richtung Fenster. Regenwolken. Dick, bleischwer und unendlich. Es war kein Tag für eine Tour durch die Stadt. Schon gar nicht durch New Jersey, wo sie das letzte Mal diese verlassene Halle entdeckt hatte.

Die ersten Tropfen trommelten immer schneller werdend an ihr Dachfenster. Eine nasse Kakophonie, die sie nicht bestellt hatte. Milk drückte auf Call.

„Hallo?“

Seine Stimme war tiefer, als sie erwartet hatte und Milk musste kräftig schlucken, um nicht gleich wieder die Flucht zu ergreifen. Dann stand sie auf, streckte sich und fuhr sich mit der Hand durch die immer noch feuchten Haare.

„Hey! Ich bin‘s Milk.“

„Hab’s mir fast gedacht.“

„Ich wollte dich nur persönlich wissen lassen, dass du den Schwachsinn lassen sollst! Wenn man es durchgeht, gibt es nur eine Möglichkeit und für einen geheimnisvollen Stalker aus Übersee hab ich zurzeit absolut keinen Kopf, ok?“

„Ok?“

Okay? Verarschte er sie? Milk atmete laut aus.

„Lass den Scheiß! Erzähl mir lieber, wie du an die Nummer gekommen bist? Bist du ein Freund meiner Schwester?“

„Ich kenn deine Schwester nicht.“

Wieder diese heitere Note, die sie bald auf die Palme zu bringen drohte.

„Egal, lass es einfach und wag es ja nicht, mir nochmal eine Nachricht zu schicken, haben wir uns?!“

Es folgte eine kurze Pause und sie fürchtete, dass er einfach aufgelegt hatte.

„Milk... Ich war das nicht.“

Sin.n.e

Подняться наверх